Lebensmuster – Wege zu Christa Wolf

Lebensmuster – Wege zu Christa Wolf

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2009

Lebensmuster – Wege zu Christa Wolf

Wo die Politik Machtworte spricht, sucht die Kunst nach dem authentischen Ausdruck, der sich hinter den Fassaden der Propaganda in den Schicksalen der Menschen verbirgt. Christa Wolf hat in ihrem Werk, das einen Zeitraum von nahezu einem halben Jahrhundert umfasst, diese existenzielle Erfahrung auf vielfältige Weise gestaltet. Sie hat die Konfrontationen und Widersprüche, die Krisen und Umbrüche, die das vergangene Jahrhundert geprägt haben, als Zeitzeugin erfahren und eindringlich zur Sprache gebracht. Sie hat sich im Erfahrungsraum der Geschichte, der ihr Leben bestimmt hat, selbst verändert und ist sich dabei in ihrem Werk auf der Suche nach „subjektiver Authentizität“[1] treu geblieben.

Als „öffentliche Person“ hat sie in der DDR eine Bedeutung erlangt wie unter den Schriftstellern in der Bundesrepublik nur Heinrich Böll und Günter Grass. Sie alle haben den Beifall der Mächtigen nur selten gefunden, waren sie doch auf der Seite der kleinen Leute, jener stillen Helden, die gegen den Verfügungsanspruch politischer Ordnungssysteme nach Auswegen eigensinniger Selbstbehauptung suchten und sich nicht damit abfinden mochten, historische Prozesse als bloße Objekte zu erfahren, sondern durch eingreifendes Denken sich selbst als Person zu entdecken.

Fluchtversuche

Als Christa Wolf mit ihrer Erzählung „Der geteilte Himmel“ im Herbst 1963 in ganz Deutschland Aufsehen erregte, trennte die Berliner Mauer nicht nur zwei Staaten, sondern blockierte auch die Begegnung zwischen den Menschen. Dieses Thema bestimmt Christa Wolfs Geschichte von Rita Seidel und Manfred Herrfurth, die sich zur Darstellung eines politischen Konflikts und einer schmerzlichen persönlichen Entscheidung ausweitet: Der begabte Chemiker Manfred kapituliert Monate vor dem Mauerbau vor den Hemmnissen und Widerständen bornierter Funktionäre und wählt während eines Kongressaufenthaltes die Flucht nach West-Berlin.

Das Gespräch mit Manfred, das Rita am Sonntag vor dem 13. August 1961 zu ihm nach West-Berlin reisen lässt, handelt von der Traurigkeit des Abschiednehmens, aber auch von der Zerrissenheit eines Landes, das diesen Zwiespalt der Gefühle bedingt. Als Manfred Ritas Heimatsehnsucht spürt, klingt das deutsche Dilemma an: „Hör bloß mal ein paar Namen: Schwarzwald, Rhein, Bodensee. Sagt dir das nichts? Ist das nicht auch Deutschland? (…) Ist es nicht unnatürlich, wenn du gar keine Sehnsucht danach hast?“ Von Rita heißt es, „die Sehnsucht nach allen Orten, an denen er von jetzt an sein würde, vernichtete sie fast. Wer auf der Welt hatte das Recht, einen Menschen – und sei es einen einzigen! – vor solche Wahl zu stellen, die, wie immer er sich entschied, ein Stück von ihm forderte?“[2]

Der Himmel, der dem Buch den Titel gibt – „Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer“ – wird zur Metapher für getrennte, unüberbrückbare Lebenswelten, und Rita erkennt: „Der Himmel teilt sich zuallererst.“[3] Die bittere Erzählung vom „Zueinanderfinden und Auseinandergehen“ (Dieter Schlenstedt) wirkt gerade deshalb so glaubwürdig, weil Christa Wolf Ritas Trennungsschmerz so eindringlich beschreibt. Wenn sie sich doch für das Bleiben in ihrer Heimat entscheidet, schließlich die Angst verliert, dass „sie leer ausgehen könnte beim Verteilen der Freundlichkeit“, kann das die Trauer nicht auflösen, die als Grundmelodie diese Geschichte begleitet.

Weil Christa Wolf im Waggonwerk Ammendorf (bei Halle) einige Monate mit einer Brigade zusammengearbeitet und dort auch gemeinsam mit ihrem Mann einen „Zirkel schreibender Arbeiter“ geleitet hatte, galt „Der geteilte Himmel“ für die Kulturfunktionäre der SED als Exempel für den von Walter Ulbricht 1959 propagierten Bitterfelder Weg, der Literatur und Arbeits-welt miteinander verbinden sollte. Dieses Engagement war auf dem VI. Parteitag der SED bereits im Januar 1963 mit der Aufnahme als Kandidat ins Zentralkomitee (ZK) der SED belohnt worden. Mit diesem Rückhalt wagt sie sich in den beiden folgenden Jahren auf vermintes politisches Terrain. Auf einem internationalen Schriftstellerkolloquium in Frankfurt/Main greift Christa Wolf das Thema der Teilung erneut auf. Sie erinnert sich, dass sie in der Goethestadt nach einer Lesung aus dem „Geteilten Himmel“ gefragt wurde, ob sie die Verhältnisse in der DDR nicht doch grundsätzlich kritisiere, sich aber nicht offen äußern könne: „In diesem Moment dachte ich an den Ärger, den ich zu Hause habe. Ich dachte daran, daß ich mich oft über Engstirnigkeit ärgere – ärgere ist ein sehr schwaches Wort -, über Gängelei, Banausentum, über falsche Anforderungen, die an Literatur gestellt werden, über falsches Lob, falschen Tadel, mangelnde Weltoffenheit, über mangelnde Veröffentlichung von Büchern, deren Veröffentlichung ich für unerlässlich halte (…), und ich verteidigte, dies alles nicht vergessend, mit meiner ganzen Überzeugungskraft und Bered-samkeit in diesem Frankfurter Forum die DDR.“[4] Ist ihre Schlussfolgerung logisch oder nicht vielmehr nur psychologisch zu erklären? Man sollte sich erinnern, dass zu jener Zeit in Frankfurt der Auschwitz-Prozess stattfand, den Christa Wolf während ihres Aufenthalts auch besucht hat. Es war vor allem die Gründungslegende der DDR vom antifaschistischen Neubeginn, die ihre Wahl für den Staat der Antifaschisten trotz irritierender Erfahrungen in der damit verbundenen Erziehungsdiktatur erklärbar macht.

Kahlschlag und Selbstbehauptung

Die Reglementierungen der Künstler in der DDR, von denen Christa Wolf in Frankfurt freimütig gesprochen hatte, sollten sich 1965 massiv verschärfen. Sie richteten sich in erster Linie gegen die Filmproduktion der DEFA, von der nicht weniger als zehn Titel verboten wurden, doch waren auch Schriftsteller und bildende Künstler von den hasserfüllten Polemiken betroffen, die auf dem „Kahlschlagplenum“ des ZK der SED im Dezember 1965 unter Ulbrichts Regie vor allem von Erich Honecker und Kurt Hager vorgetragen wurden. Honecker hielt verschiedenen Schriftstellern und Filmregisseuren eine „Ideologie des spießbürgerlichen Skeptizismus ohne Ufer“ vor.  Es muss wie eine Drohung gewirkt haben, als der für Kultur zuständige ZK-Sekretär Kurt Hager unmissverständlich erklärte: „Louis Fürnberg schrieb das schöne Lied ‚Die Partei hat immer recht‘. Das gilt für die Vergangenheit, und das gilt für die Gegenwart und die Zukunft.“[5]

Die Szene, die zum Tribunal gerät, wird für Christa Wolf zu einer eindrucksvollen Mutprobe, indem sie sich in diesem aufgeheizten Klima zu Wort meldet. Sie wendet sich gegen eine engstirnige Kulturpolitik, gegen Sichtweisen, die „jede kritische Äußerung an irgendeinem Staats- oder Parteifunktionär als parteischädigend ansehen. (…) Es ist nicht richtig (…), die Schriftsteller in eine Defensive zu drängen, so daß sie immer nur beteuern können: Genossen wir sind nicht parteifeindlich.“ Mehr noch als diese Kritik an der Kulturpolitik beeindruckt ihre entschiedene Verteidigung von Werner Bräunigs Wismut-Roman „Rummelplatz“, dessen auszugsweiser Vorabdruck in der „Neuen Deutschen Literatur“ die Empörung der Parteimandarine ausgelöst hatte: „Meiner Ansicht nach zeugen diese Auszüge in der NDL nicht von antisozialistischer Haltung, wie ihm vorgeworfen wird. In diesem Punkt kann ich mich nicht einverstanden erklären. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“[6] Es kann als sicher gelten, dass ein solcher Satz in diesem Gremium niemals zuvor gefallen ist. Hier meldet sich ein Gewissen zu Wort gegen die geforderte Disziplin und Unterwerfung gegenüber einer Parteiführung, die erneut und unmissverständlich für sich reklamiert hatte, immer Recht zu haben. Das Gewissen ist Kern der persönlichen Integrität, und wer die Fähigkeit und Leidenschaft Christa Wolfs kennt, die Psyche einer Person zu erfassen, wird nicht überrascht sein, wenn sie die Erfahrung des „Kahlschlagplenums“ als entscheidende Zäsur in ihrer Biografie benennt.[7] In einem Gespräch mit Günter Gaus blickt Christa Wolf auf dieses einschneidende Ereignis 1993 noch einmal zurück: „(…) nach diesem 11. Plenum 1965 war ich sehr lange in einer tiefen Depression, in einem klinischen Sinn. Das war eine solche Kraftanstrengung, sich dort hinzustellen, daß danach einfach eine Art Einbruch kam. (…) Danach habe ich Bücher geschrie-ben und Dinge gemacht, die ich sonst nicht hätte machen können.“[8]

Selbsterkundung

Einen wesentlichen Impuls für Christa Wolfs künstlerische Entwicklung vermittelt 1966  das Werk Ingeborg Bachmanns. Auf Bachmanns programmatisches Diktum: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ reagiert sie mit dem Essay „Die zumutbare Wahrheit“, dessen Schlüsselworte „Selbstbehauptung als Prozess“ heißen.[9] So bereichert die Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur im Westen, „neben der Bachmann vor allem Enzensberger, Grass, wichtig waren Böll, Paul Celan, Max Frisch“,[10]auch erkennbar das ästhetische Konzept von Christa Wolf, deren Werk sich kaum denken lässt ohne das permanente Gespräch mit ihrem Ehemann und geistigen Partner Gerhard Wolf, mit dem sie seit 1951 verheiratet ist.[11]

„Nachdenken über Christa T.“ kann als Kulminations- und Wendepunkt in der DDR-Literatur am Ausgang der 1960er Jahre bezeichnet werden,[12]der fortan bei vielen Autoren einen unaufhaltsamen Prozess der Desillusionierung gegenüber der Emphase einer sozialistischen Aufbauromantik verstärkt. Christa T. ist, wie Christa Wolf in einer Vorbemerkung schreibt, „eine literarische Figur“, in die authentische „Zitate aus Tage-büchern, Skizzen und Briefen“ verwoben sind.[13] Unverkennbar ist, dass zwischen Christa T. und Christa Wolf viele Parallelen bestehen.[14] Christa T., Mitte Dreißig, einst Neulehrerin, dann Germanistikstudentin, Ehefrau und Mutter von drei Kindern, ist an Leukämie gestorben. Die Erzählerin blickt über einen Zeitraum von 19 Jahren (von 1944 bis 1963) auf die Geschichte eines Menschen zurück, der sich vor „schrecklich strahlenden Helden“ ebenso gefürchtet hat wie vor den „Phantasielosen“ und den „Tatsachenmenschen“. Sie war skeptisch gegen „die heftigen, sich überschlagenden Worte, die geschwungenen Fahnen, die überlauten Lieder, die hoch über unseren Köpfen im Takt klatschenden Hände. Sie hat gefühlt, wie die Worte sich zu verwandeln beginnen, wenn nicht mehr guter Glaube und Ungeschick und Übereifer sie hervorschleudern, sondern Berechnung, Schläue, Anpassungstrieb.“[15]

So hat sich Christa T. den Anforderungen gesellschaftlicher Funktionalisierung kategorisch entzogen. Stattdessen hat sie versucht, ihre „Selbstbehauptung und Selbstentdeckung“[16] im Prozess des einsamen Schreibens zu verwirklichen. Ihre literarischen Texte bilden Bruchstücke einer Spurensuche, bei der die Annäherung an die verlorene Freundin Christa T. zur kritischen Selbstbefragung der Christa W. gerät.

Eher beiläufig erfährt der aufmerksame Leser, wann eine Episode der Erzählung spielt: „im Frühsommer dreiundfünfzig“, und an anderer Stelle wird auch apostrophiert, was seinerzeit das Land erschütterte: Auf der Treppe der Humboldt-Universität fällt in einer Nacht der lakonische Satz: „Die Ordnung ist endgültig durcheinandergekommen.“[17] So erscheint alles, was Christa T. als bedrängend empfindet, nicht erst als Alptraum der Gegenwart, es ist vielmehr bereits in einer Zeit verankert, die, als das Buch herauskommt, schon viele Jahre zurückliegt. Argwöhnische Parteifunktionäre hatten die Brisanz des Buches durchaus erkannt, und die Protokollanten des Überwachungsstaates haben bereits 1965 eine desillusionierte Bemerkung Christa Wolfs von einer Parteiversammlung des Schriftstellerverbandes in Potsdam überliefert, die eine Woche vor Beginn des „Kahlschlagplenums“ stattfand: „Wenn die Kulturpolitik so weitergeht, wie sie sich gegenwärtig abzeichnet, kann ich meine ganzen Manuskripte ebenfalls verbrennen.“[18]

So weit ging die Zensurpraxis im Jahr, als die Träume von einem Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“ durch die sowjetische Okkupation der ÄŒSSR brutal ausgelöscht wurden, dann doch nicht, obwohl sich der Mitteldeutsche Verlag nachträglich von dem Buch distanziert hat und damit Christa Wolfs Wechsel zum Aufbau-Verlag bewirkte. „Nachdenken über Christa T. erschien Ende 1968 schließlich in einer verschwindend kleinen Auflage im Volksbuchhandel als „Bück-ware“. Die Irritationen, die das Buch ausgelöst hatte, fasste Max Walter Schulz auf dem VI. Schriftstellerkongress Ende Mai 1969 mit den abwehrenden Worten zusammen: „Sozialistisch-realistische Literatur verfügt weder über den inneren noch über den äußeren Auftrag, dem Individualismus auf ihrem gesellschaftlichen Gelände sonstwie schöne Denkmäler zu setzen.“[19]

Nach dem erzwungenen Rücktritt Walter Ulbrichts schlug Erich Honecker zunächst eine neue, überraschende Tonlage an. Seine Formeln von „der Breite und Vielfalt“ und von der „Suche nach neuen Formen“ die er auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 verwendete, mehr noch seine im Dezember 1971 getroffene Feststellung, es solle „keine Tabus“ geben, wurden voreilig in einer Art illusionärem Optimismus von all jenen falsch verstanden, die übersehen hatten, dass der neue Parteichef seine Avancen an die Kunstschaffenden mit einer entschiedenen Einschränkung versehen hatte: Das sollte gelten, wenn man „von der festen Position des Sozialismus ausgeht“.[20]Immerhin waren für kurze Zeit Lockerungen des rigiden Kurses, den Honecker 1965 noch selbst in erster Frontlinie verfochten hatte, erkennbar. So konnten verschiedene Bücher erscheinen, deren Veröffentlichung zuvor blockiert worden war. Dazu zählen Stefan Heyms „König David Bericht“, Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ und Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“, und 1973 wurde endlich auch Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ mit einer zweiten Auflage einem großen Leserkreis zugänglich.

Die Gegenwart der Vergangenheit

Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ erscheint 1976 mit einer Startauflage von 60.000 Exemplaren. Die Frage, ob und wie sich die ideologische Indoktrination und die politischen Disziplinierungsakte in der Zeit des Nationalsozialismus als lebensgeschichtliche Prägungen auch auf die Menschen ausgewirkt haben, die in der DDR lebten, galt der SED als abwegig, seit sie die DDR auf die Seite der „Sieger der Geschichte“ geschlagen hatte und dem Westen auch die mentalen Hypotheken des Nationalsozialismus allein anlastete. Dieser Sicht mochte Christa Wolf nicht folgen, nachdem das Bedürfnis entstanden war, „sich noch einmal in einer tieferen und auch psychologisch fundierten Weise mit der eigenen Entwicklung auseinanderzusetzen“,[21] in ihre eigene Lebenswelt als junges BDM-Mädel zurückzublicken, das in dem über weite Strecken autobiographischen Text durch die Person der Nelly literarisch verfremdet wird. „Als das Manuskript im Druck war, kam der Tag, an dem wir bei Hermlin den Protest gegen die Zwangsausbürgerung Biermanns verfaßten. Abends dachte ich, nun wird wahrscheinlich >Kindheitsmuster< nicht erscheinen. Wir hatten ja sehr weitgehende Folgen erwartet. Es erschien dann doch, die ganze Diskussion darüber war natürlich vollkommen überschattet von meiner Teilnahme an dieser Protestresolution.“[22]

Das Buch wurde in der Literaturkritik der DDR zunächst fast vollständig verschwiegen,[23] fand aber in der Bundesrepublik und international ein großes positives Echo. Die eindrucksvolle Selbsterforschung der Autorin hat dazu ebenso beigetragen wie ihre Fähigkeit, die Mechanismen der Disziplinierung und Selbstverleugnung aufzudecken, die den Massenerfolg der NS-Diktatur ermöglicht haben. Dass das Buch zudem Fragen aufwerfen musste, ob die Erziehungspraktiken einer verord-neten Konformität und kollektiven Disziplinierung, die auch in der DDR vorherrschten, nicht falsche „Muster“ für die Ent-wicklung „allseitig gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten“ darstellten, machte die aktuelle Brisanz dieses Buches aus.

Christa Wolfs 1979 publizierte Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ lässt sich in verschiedene Deutungshorizonte einordnen. Es ist die Geschichte einer erfundenen Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Karoline Günderrode im rheinischen Ort Winkel. In einem fiktiven Gespräch treffen sich zwei Außenseiter, denen im Leben nicht zu helfen war, weil sie an den Konventionen der Zeit zerbrachen. Es ist ein Text, in dem sich ein pessimistisches Lebensgefühl deutlich akzentuiert, und ein Zusammenhang mit der Zeitstimmung der Autorin ist unverkennbar: „Das habe ich nach der Biermann-Affäre geschrieben. Und da war mein Lebensgefühl wirklich sehr deprimiert und pessimistisch. (…). >Kein Ort. Nirgends<, auch dieser Titel, ist ein Reflex auf eine Situation. Ohne Alternative zu leben. Das war eigentlich mein Grundgefühl nach 1976.“[24]

Dass Christa Wolf in ihrer fiktiven historischen Geschichte Kleist als Protagonisten gewählt hat, mag nicht nur mit der Missachtung zusammenhängen, den die SED-Literaturpolitik der Romantik als einer Form des schrankenlosen Subjektivismus entgegenbrachte, sondern auch mit einer Kontroverse, die im Jahr des 200. Geburtstages von Heinrich von Kleist (1975) Günter Kunert veranlasst hatte, sein „Pamphlet für K.“ in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ zu veröffentlichen. Kunert wendet sich darin gegen eine „dogmatische Literatur-verkennung“, in der die Leiden des Autors an der Gesellschaft als krankhaft abgetan werden und die Gesellschaft als gesund erscheine. Wer so denke, bewege sich in der „Welt des Faschismus“.[25]

Der Georg-Büchner-Preis, den Christa Wolf 1980 als erste in der DDR lebende Autorin erhält, [26]bestätigt Rang und Bedeutung, die sie sich in der deutschsprachigen Literatur erworben hat, ebenso wie die Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt im Jahr zuvor und die Mitgliedschaft in der West-Berliner Akademie der Künste 1981. Seit 1974 hat sie wiederholt die USA zu Studien- und Lehraufenthalten besucht. Dort, in Frankreich und in Italien findet ihr Werk außerhalb Deutschlands besonders intensive Beachtung.

Die Hinwendung zu vorantiken Mythen, die zu antiken Dichtungen geworden sind, ist charakteristisch für zwei herausragende Werke, die Christa Wolf vor und nach dem Epochenjahr 1989 vorgelegt hat. 1983 erscheint „Kassandra“, 1996 folgt „Medea“. Kassandra, die Seherin, die vor den schrecklichen Folgen des Trojanischen Krieges warnt und erleben muss, dass sie das Unheil nicht aufzuhalten vermag, entsteht in einer Zeit, in der die Supermächte in einer neuen Spirale der Hochrüstung verfangen sind, als dramatisches Menetekel, das sich gleichermaßen an die Protagonisten der konkurrierenden Weltsysteme richtet, dem Wahnsinn des Wettrüstens Einhalt zu gebieten. Indem Christa Wolf das propagandistische Klischee von Gut und Böse ausschließt und die Massenvernichtungswaffen beider Seiten als lebensbedrohlich benennt, weckt sie die Arglist der Zensoren. In der DDR-Ausgabe des Kommentarbandes zu „Kassandra“, der unter dem Titel „Voraussetzungen für eine Erzählung“ aus einer Frankfurter Vorlesungsreihe hervorgegangen ist, muss neben zwei anderen Textstellen eine kurze Passage entfallen, die beide Seiten explizit für die Bedrohungslage verantwortlich macht.[27] Christa Wolf setzt immerhin durch, dass die Auslassung gekennzeichnet wird.

Im Werk von Christa und Gerhard Wolf zeigt sich seit Ende der 1960er Jahre eine Faszination vom „Projektionsraum Romantik“, dem Profil von Dichtern und Dichterinnen, die „ihre Stirnen an der gesellschaftlichen Mauer wund rieben“[28], sich verordneten Ansprüchen entzogen, um im „Schatten eines Traums“ zu leben. Davon zeugt ebenso Gerhard Wolfs eindrucksvoller Collagetext „Der arme Hölderlin“ wie auch verschiedene Editionen, die beide Wolfs aus dem Werk romantischer Dichterpersönlichkeiten publiziert haben.29]

Sinnfällig wird diese Mentalitätsprägung aber vor allem in Christa Wolfs „Sommerstück“ (1989), das sie selbst als ihr „persönlichstes Buch“ empfindet. Das Mecklenburger Sommerhaus weckt die Erinnerung an 1945, als sie gemeinsam mit ihren Eltern aus Landsberg an der Warthe in das mecklenburgische Dorf Gammelin geflüchtet war. Der von heiterer Melancholie geprägte Text, der aber auch als „Idylle mit drohenden Untertönen“ (Aafke Steenhuis) erscheint, schildert in einer Sehnsuchtslandschaft, die zugleich Zufluchtsort ist, die glückliche Erfahrung des entspannten Zusammenseins mit Freunden. „In diesen Gruppen haben damals viele Menschen in der DDR ihre Integrität bewahrt und sich frei-gedacht. Das Buch ist für viele eine Beschreibung ihres eigenen Lebens, wie ich jetzt weiß. Ich glaube auch, daß es sogar eine Vorankündigung der späteren Ereignisse ist, denn es schildert, warum es so nicht weitergehen konnte.“[30]

Christoph Hein hat diese Vorahnung 1989 in seinem Stück „Die Ritter der Tafelrunde“ als beklemmendes Endspiel einer ideologisch bornierten Gerontokratie Monate vor der friedlichen Revolution in Szene gesetzt. An diesem Prozess, der mit dem Anspruch der Menschen auf Volkssouveränität ernst macht, nimmt Christa Wolf mit der Macht des Wortes entschieden Anteil. Auf der Kundgebung am Alexanderplatz erklärt sie am 4. November 1989: „Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht nun auf einmal frei über die Lippen. (…) Die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist >Traum<. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft.“[31]

Das Eigene und das Fremde

Im Frühjahr 1990 veröffentlicht Christa Wolf die Erzählung „Was bleibt“, ein Text, der persönliche Erfahrungen der prominenten Autorin mit den Praktiken des Überwachungsstaates thematisiert. Er handelt von Angst und Ohnmacht, der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Solidarität und von der Schwierigkeit, in den Bedrückungen und Alpträumen der eigenen Existenz eine authentische Sprache zu finden. Die Erzählung ist 1979 entstanden und offensichtlich ein Paralleltext zu „Kein Ort Nirgends“. Dass Christa Wolf diesen Text im Jahr seiner Entstehung in der DDR nicht publizieren konnte, ist nachvollziehbar. Irritation erregte daher vor allem ihr Vermerk, dass sie den Text 1990 überarbeitet habe (was stilistisch, nicht inhaltlich gemeint war). Die Frage nach der Klarheit und Wahrheit der Geschichte, die Christa Wolf erzählt, verwandelte sich rasch in eine Frage nach der Konsequenz und Wahrhaftigkeit ihrer politischen Haltung, die sie in 40 Jahren DDR eingenommen hatte. Über den „Literaturstreit“, der damit ausgelöst wurde und in dem Vorwurf der „Gesinnungsästhetik“ sein denkwürdiges Stichwort gefunden hat, ist so viel geschrieben worden, [32] dass eine Bemerkung genügen soll: Es ist erstaunlich, dass nicht die einflussreichen angepassten Autoren, sondern die beiden wichtigsten ostdeutschen Dichter, Christa Wolf und Heiner Müller, in den Mittelpunkt einer gesinnungspolitischen Kontroverse gerieten, die fast ausschließlich von der westdeutschen Literaturkritik bestritten wurde und im Januar 1993 in entrüsteten Anklagen einer Kollaboration mit dem Überwachungsstaat kulminierte.

Christa Wolf hatte 1961 mit der „Moskauer Novelle“ ihr erstes eigenes literarisches Werk publiziert. Zuvor war sie nach dem Abschluss des Germanistikstudiums 1953 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Schriftstellerverband, seit 1956 als Cheflektorin im Verlag „Neues Leben“, 1958/59 als Redakteurin der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ und von 1959 bis 1962 als freischaffende Lektorin für den Mitteldeutschen Verlag in Halle tätig. Danach zog die Familie mit zwei Töchtern nach Kleinmachnow, wo Christa Wolfs literarische Karriere ihren Anfang nahm. Einbezogen in den kulturellen Funktionsbereich war sie von der Staatsicherheit am 24. März 1959 als „Gesellschaftliche Informantin“ (GI) geworben worden, unter dem Decknamen „Margarete“ geführt, wie ihr einziger handschriftlicher Bericht ausweist. Dass Christa Wolf diese Mitarbeit unangenehm war, zeigen zwei Fakten: Sie hat wiederholt geplante Termine ausfallen lassen und sich geweigert, Begegnungen in konspirativen Wohnungen zu vereinbaren. Insgesamt sind sieben Gespräche mit einem Mitarbeiter der Staatsicherheit dokumentiert, davon drei in Berlin, die vermutlich mit ihrer Tätigkeit als Redakteurin der NDL zusammenhingen, und vier Gespräche in Halle, in ihrer eigenen Wohnung im Beisein von Gerhard Wolf – ein Verstoß gegen die Regel der Konspiration. Als am 21. Januar 1993 die „Berliner Zeitung“ den Vorgang aufgedeckt hatte, eskalierten Verdächtigungen und Vorwürfe, voran „Bild“, „Die Welt“ und „Der Spiegel“. Nachdem Christa Wolf – als Beschuldigte wurden ihr die Akten später zugänglich als den Medien – von dem Sachverhalt im kalifornischen Santa Monica erfahren hatte, initiierte sie die Publikation des Vorgangs.[33] Der Befund zeigte: Die Staatsicherheit hielt den Ertrag der Gespräche für unergiebig, so endete die Affäre im Februar 1962.

Nach Kenntnis der Fakten musste die Vehemenz der Attacken, denen Christa Wolf ausgesetzt war, erstaunen und befremden. Obwohl die Autorin auch einfühlende Deutungen des Vorgangs lesen konnte, wirkte vor allem das Pathos irritierend, mit dem sich Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ über Christa Wolf und – den mit unbewiesenen Vorwürfen mitverdächtigten – Heiner Müller entrüstete: „Mir scheint, beide haben nicht nur ihrer Biographie geschadet; sie haben ihr Werk beschädigt.“[34] Hatte Raddatz übersehen, dass Christa Wolfs erstes wichtiges Buch erst erschienen war, als die von ihr enttäuschte Staatssicherheit sie bereits abgeschrieben hatte? Und hatte er absichtsvoll außer acht gelassen, dass die Wolfs seit 1968/69 unter den Decknamen „Skorpion“ (für Gerhard Wolf) und „Doppelzüngler (für beide gemeinsam) permanent und in gewaltigem Umfang bis zum Ende der DDR observiert worden sind?[35]Hatten die selbstgerechten Moralisierer Christa Wolfs mutige Intervention auf dem „Kahlschlagplenum“ und ihren Protest gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns vergessen?

Dass Christa Wolf, die sich seinerzeit nach Santa Monica zurückgezogen hatte, irritiert und verbittert reagierte, lässt sich vor diesem Hintergrund nachvollziehen. Dort konnte sie im Gespräch mit Günter Gaus nach Lektüre der Akten die Einsicht gewinnen: „Ein fremder Mensch tritt mir da gegenüber. Das bin nicht ich. Das muß man erst einmal verarbeiten. (…) Wer war ich eigentlich damals? Es ist ein schreckliches Entfremdungsgefühl, was mich überkommt, wenn ich das lese.“[36] Die Antwort auf diese Frage ist einfacher, als es scheint: Es war der Entschluss, sich unabhängig zu machen von Institutionen und Apparaten, der die Entfremdung aufgehoben und die politische Person Christa Wolf verändert hat. Rekapituliert man die Kontroversen, die als „Literaturstreit“ und als „Bilderstreit“ in die deutsche Kulturgeschichte eingegangen sind,[37] so wird im Rückblick deutlich, dass die Auseinandersetzung um Christa Wolf auf symptomatische Weise den Anspruch einer west-deutschen Hegemonialkultur im deutschen Einigungsprozess manifestiert.

Wildes Denken

Mit „Medea“ (1996) hat Christa Wolf ihre Mythenerkundung zu einem eindrucksvollen Abschluss geführt, in dem eine weit zurückblickende Spurensuche bis in die vorantike Überlieferung mit existenzieller Selbstreflexion sinnfällig verschränkt erscheint. „Medea“ ist uns aus der Tragödie des Euripides als doppelte Kindsmörderin überliefert, die sich aus Eifersucht über die verratene Liebe Jasons, dem sie mit dem vom eigenen Vater geraubten Goldenen Vlies der Argonauten aus Kolchis in das ferne Korinth folgt – und gegen den sie als wilde Fremde einen unbegreiflichen Racheakt vornimmt. Das Drama einer unmenschlichen Untat wird für Christa Wolf zur Grundfrage nach den Mechanismen, mit denen Schuldzuweisungen konstruiert und „Sündenböcke“ produziert werden. Ihr Zweifel an der Wahrheit des von Euripides berichteten Geschehens führt sie in einem intensiven Rechercheprozess zu der sicheren Überzeugung, dass der Ursprung der Geschichte ganz anders war und erst Machtinteressen und Gewaltfantasien eine Figur hervorgebracht haben, die der Gesellschaft als Entlastung für eigenes Fehlverhalten dient.

Die Tatsache, „daß eine Frau zum Sündenbock gemacht wird“, ist nach Christa Wolfs eigenem Bekunden auch damit zu erklären, „daß die Autorin eben dieses Problem in dieser Zeit selbst sehr stark empfunden hat“,[38] doch warnt sie vor einer bloß vordergründigen Lesart. Denn der Kern „dieses mutigen, scharfsinnigen, brillanten und notwendigen Buches“[39] ist eine grundlegende Kritik am Patriarchat: „(…) seit ich über Kassandra gearbeitet habe, ist mir ganz klar, daß die Geschichte des Patriarchats die Geschichte der Frauen aus der Mythologie umgeformt hat. (…) In die Richtung z. B. der Kassandra, also einer Frau, der niemand glaubt. Noch stärker ist diese Umformung bei Medea. Die wilde Frau, das war etwas, das ist etwas, was das Patriarchat nicht erträgt – aus gutem Grund.“[40]

Mit „Medea“ scheint ein Prozess abgeschlossen, in dem Christa Wolf sich selbst gefunden hat, auch wenn ihr vieles in der Lebenswelt des vereinten Deutschland fremd geblieben ist: „Wildes Denken“, das sie sich im Prozess des Schreibens selbst angeeignet hat, weitet den Blick und lässt die Trauer über verlorene Utopien ertragen, ohne zu resignieren. So konnte sich Christa Wolf „Leibhaftig“( 2002) nicht nur an Schmerz und Krankheit, sondern auch an die Paradoxien des Lebens in der DDR erinnern und viele neue Freunde in jenem Land gewinnen, das nun auch das ihre ist. In einem einfühlsamen Text zu „Medea“ hat die Turiner Germanistin Anna Chiarloni vor zwölf Jahren eine Erkenntnis formuliert, die heute noch ein Wunsch von Christa Wolf zu ihrem 80. Geburtstag sein könnte: „In der Mitte Europas hat plötzlich die Wende zwei Kulturen zusammengeworfen. Wichtig wäre es, daß jeder dem anderen die Möglichkeit gäbe, seine eigene Geschichte zu erzählen. Damit eine Erinnerungsgemeinschaft entsteht, die differenzierte Erfahrungen unterscheidet, erduldet und aufbewahrt.“[41]

 


Anmerkungen

[1] Diesen Schlüsselbegriff formuliert die Autorin gegenüber Hans Kaufmann, Gespräch mit Christa Wolf, in: ders., Über DDR-Literatur. Beiträge aus fünfundzwanzig Jahren, Berlin-Weimar 1986, S. 106.

[2] Christa Wolf, Der geteilte Himmel, Halle 1963, S. 265f.

[3] Ebd., S. 275.

[4] Christa Wolf, Rede auf dem internationalen Schriftstellerkolloquium im Dezember 1964, in: Neue Deutsche Literatur, 13 (1965) 3, S. 98.

[5] Zit .nach Hermann Weber/Fred Oldenburg, 25 Jahre SED. Chronik einer Partei, Köln 1971, S.161. Später werden die Wolfs den Liedrefrain Louis Fürnbergs ironisch mit dem Buchtitel „Die Phantasie hat allemal recht“ (der von Bettina von Arnim entlehnt ist) konterkarieren, und der Almanach zum 70. Geburtstag Gerhard Wolfs trägt den Titel „Die Poesie hat immer recht“ (nach dem Gedicht von Friederike Kempner „Die Poesie, die Poesie, die Poesie hat immer recht“).

[6] Christa Wolf, Diskussionsbeitrag, in: Günter Agde (Hrsg.), Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED. Studien und Dokumente, Berlin 2000 (2., erw. Aufl.), S. 262f. Zu den Umständen vgl. auch dies., Erinnerungsbericht, ebd., S. 344-354.

[7] Einen instruktiven Überblick zu Biographie und Werk bietet immer noch Therese Hörnigk, Christa Wolf, Berlin 1989.

[8] Zur Person: Christa Wolf im Gespräch mit Günter Gaus, in: Hermann Vinke (Hrsg.), Akteneinsicht. Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation, Hamburg 1993, S. 257.

[9] Christa Wolf, Die zumutbare Wahrheit – Prosa der Ingeborg Bachmann, in: dies., Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen, Berlin 1973, S. 87-102, hier: S. 90. An anderer Stelle heißt es über die Bachmann, symptomatisch auch für Christa Wolfs Befindlichkeit: „Sie sieht: Keine Hoffnung auf Veränderung mehr ‚im Rahmen des Gegebenen’.“ (S. 100) Der Bachmann-Essay konnte erst 1972, sechs Jahre nach seiner Entstehung im Dezember 1966, publiziert werden.

[10] Vgl. „Vor den Bildern sterben die Wörter“. Rüdiger Thomas im Gespräch mit Christa und Gerhard Wolf, in: Eckhart Gillen (Hrsg.), Deutschlandbilder, Kunst aus einem geteilten Land, Köln 1997, S. 572-576, hier: S. 572 (G. Wolf).

[11] Ihre Beziehung zu Gerhard Wolf hat Christa Wolf eindrucksvoll beschrieben: Er und ich, in: Peter Böthig (Hrsg.), Die Poesie hat immer recht. Gerhard Wolf Autor Herausgeber Verleger. Ein Almanach zum 70. Geburtstag, Berlin 1998, S. 145-165. Dort heißt es, „seine Zustimmung gibt mir in der Phase totalen Zweifels jene Sicherheitszone, auf die ich mich im Notfall immer zurückziehen kann“. (S. 154)

[12] Im Vergleich mit dem „Geteilten Himmel“ findet Christa Wolf zu einer neuen Erzählstruktur, die auch für spätere Werke bestimmend bleibt. „Ich muß zugeben, daß wir damals alle noch ziemlich provinziell waren, auch in unseren Kenntnissen der Weltliteratur. Es gibt einen Roman von Aragon [gemeint ist „La semaine sante“, deutsch: Die Karwoche, R.T.], der mich damals durch seine nicht chronologische, assoziative Struktur angeregt hat. Bei Christa T. habe ich die zum erstenmal angewendet und gemerkt, daß ich damit eigentlich zu mir selber finde.“ Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis, in: Christa Wolf, Im Dialog. Aktuelle Texte, Frankfurt/M. 1990, S. 140.

[13] Ein wichtiger Impuls für das Buch war der Tod einer engen Jugendfreundin, Christa Tabbert, im Februar 1963: „Ein Mensch, der mir nahe war, starb, zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel, mich wirksam wehren zu können. Ich schreibe, suchend. Es ergibt sich, daß ich eben dieses Suchen festhalten muß, so ehrlich wie möglich, so genau wie möglich.“ Selbstinterview, in: Christa Wolf, Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze. Reden und Gespräche, Berlin-Weimar 1986, Bd.1, S. 31.

[14] So schon Hans Mayer, Christa Wolf. Nachdenken über Christa T., in: Neue Rundschau, 81(1970) 1, S. 180-186.

[15] Christa Wolf, Nachdenken über Christa T., Halle 1968, S. 72, S.66, S. 71.

[16] Ebd., S. 73.

[17] Ebd., S. 90 u. S. 219f. Vgl. dazu die aufschlussreiche Interpretation von Heinrich Mohr, Produktive Sehnsucht: Struktur, Thematik und politische Relevanz von Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“, in: Angela Drescher (Hrsg.), Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Studien – Dokumente – Bibliographie, Berlin und Weimar 1989, S. 32-62, hier: S.51.

[18] Auskunftsbericht, 21.12.1965, in: Akteneinsicht (Anm. 8), S. 23.

[19] Max Walter Schulz, Das Neue und das Bleibende in unserer Literatur, in: VI. Deutscher Schriftstellerkongreß vom 28. bis 30. Mai 1969 in Berlin. Protokoll, Berlin 1969, S. 56.

[20] Schlusswort Erich Honeckers auf der 4. Tagung des ZK, zit. nach Gisela Rüß (Hrsg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1971-1974, Stuttgart 1976, S. 287.

[21] Vor den Bildern (Anm.10), S. 574. Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben, erhellt die Umkehrung eines berühmten Satzes von Ludwig Wittgenstein aus dem „Tractatus logico-philosophicus“: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man zu schweigen allmählich aufhören.“ Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin-Weimar 1976, S. 235.

[22] Vor den Bildern (Anm. 10), S. 574.

[23] Eine frühe, äußerst kritische Besprechung stammt von Annemarie Auer, Gegenmeinung, in: Sinn und Form, 29 (1974) 4, S. 847-878. Bald folgten Reaktionen, die den Wert des Werkes nachdrücklich hervorhoben, u. a. von Stephan Hermlin im übernächsten Heft der Zeitschrift, vgl. Sinn und Form, 29 (1977) 6, S. 1311-1322.

[24] Vor den Bildern (Anm. 10), S. 573.

[25] Vgl. Günter Kunert, >Pamphlet für K.<, in: Sinn und Form, 30 (1975) 5, S. 1097 u. S. 1093.

[26] 1971 wurde Uwe Johnson geehrt, dessen Frühwerk „Mutmassungen über Jakob“ (1959) noch in der DDR entstanden war; 1977 erhielt Reiner Kunze, der im April 1977 die DDR verlassen hatte, den Büchnerpreis.

[27] Insgesamt sind in der DDR-Ausgabe drei Stellen aus der 3. Vorlesung gestrichen worden. Als besonders brisant galten die Zeilen: „Die Nachrichten beider Seiten bombardieren uns mit der Notwendigkeit von Kriegsvorbereitungen, die auf beiden Seiten Verteidigungsvorbereitungen heißen. Sich den wirklichen Zustand der Welt vor Augen halten, ist psychisch unerträglich. In rasender Eile, die etwa der Raketenproduktion beider Seiten entspricht, verfällt die Schreibmotivation, ‚etwas zu bewirken’. (…) Der Wahnsinn geht mir nachts an die Kehle.“ Auslassung in den ersten fünf Auflagen von Christa Wolf, Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung, Berlin-Weimar 1983, S. 124. Erst die 6. Auflage enthält 1988 den vollständigen Text, vgl. S. 129.

[28] Christa Wolf zitiert diese Formulierung von Anna Seghers, vgl. Fortgesetzter Versuch, in: Die Dimension (Anm. 13), S. 342.

[29] Christa Wolf/Gerhard Wolf, Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Prosa und Essays, Berlin-Weimar 1986.

[30] Schreiben im Zeitbezug (Anm. 12), S. 149. In verschiedenen Gesprächen hat Christa Wolf ausgeführt, dass sie mit ihrem Mann erwogen habe, die DDR zu verlassen, doch hätten sie eine solche Entscheidung verworfen: „Ehrlich gesagt, wir wussten nicht, wohin. Wir sahen in keinem anderen Land eine Alternative. Dazu kam: Ich bin eigentlich nur an diesem Land brennend interessiert gewesen. Die scharfe Reibung, die zu produktiven Funken führt, fühlte ich nur hier mit aller Verzweiflung, dem Kaltgestelltsein, den Selbstzweifeln, die das Leben mit sich bringt.“ Ebd., S.148.

[31] Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz, in: Ch. Wolf, Im Dialog (Anm. 12), S. 119f. Etwa drei Wochen später gehört Christa Wolf mit dem Regisseur Frank Beyer, dem Schriftsteller Volker Braun und dem Filmemacher Konrad Weiß zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs „Für unser Land“, die an die Menschen in der DDR den Appell richten, „in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.“ (Ebd., S.171) Diese Perspektive sollte sich rasch als Illusion erweisen, und jene, die sie formuliert hatten, gerieten im Westen rasch in den Fokus einer moralisierenden öffentlichen Kritik.

[32] Vgl. insbesondere Thomas Anz (Hrsg.), „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991.

[33] Vgl. Akteneinsicht (Anm. 8), S.19-139.

[34] Fritz J. Raddatz, Von der Beschädigung der Literatur durch ihre Urheber, in: Die Zeit vom 29.1.1993, S. 51f., hier: S. 51.

[35] Vgl. Akteneinsicht (Anm. 8), S. 275-290.

[36] Zur Person, in:  Akteneinsicht (Anm.8), S. 256.

[37] Vgl. Rüdiger Thomas, Wie sich die Bilder gleichen. Ein Rückblick auf den deutsch-deutschen Literatur- und Bilderstreit, in: Deutschland Archiv, 40 (2007) 5, S. 872-882.

[38] Christa Wolf im Gespräch nach der Medea-Lesung im FrauenMuseum in Bonn am 23.2.1997, in: Marianne Hochgeschurz (Hrsg.), Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text, Berlin 1998, S. 58.

[39] Margaret Atwood, Zu Christa Wolfs Medea, in: ebd., S. 74.

[40] Christa Wolf im Gespräch (Anm. 38), S. 59.

[41]Anna Chiarloni, Medea und ihre Interpreten, in: M. Hochgeschurz (Anm.38), S. 119.

 

In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 11/2009, 9. März 2009, S.15-23.

 

© Rüdiger Thomas

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