Meine Begegnungen mit Walter Friedrich

2009                                                                                                                                                                 Meine Begegnungen mit Walter Friedrich

Meine erste persönliche Begegnung mit Walter Friedrich steht mir noch heute – da fast 20 Jahre vergangen sind – lebhaft vor Augen. Zum 5. Soziologiekongress, der vom 6. bis 8. Februar 1990 stattfand, war ich mit großer Neugier nach Ostberlin gereist, wo ich auf Einladung von Artur Meier, damals auch Vizepräsident der ISA, im Gästehaus der Humboldt-Universität logieren durfte. Was zuvor undenkbar schien, war plötzlich selbstverständlich geworden. Seinerzeit war ich fast jede Woche in Berlin, oft im Haus der Demokratie in der Friedrichstraße, zuerst schon am 10. November, am Tag nach dem Mauerfall, als die Bundeszentrale für politische Bildung, deren Publikationsabteilung ich leitete, im Reichstagsgebäude einen Kongress veranstaltete, der auf die doppelte Staats-gründung vor vierzig Jahren zurückblickte und nun die ersten Anzeichen für das Ende der deutschen Teilung ahnen ließ. Ich höre noch immer Willy Brandts Worte auf der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg: „Jetzt muss zusammenwachsen, was zusammengehört.“

Knapp drei Monate später stand ich erwartungsvoll in der Kongresshalle und freute mich, endlich Menschen kennenzulernen, von denen ich viel gelesen hatte, ohne sie je gesprochen zu haben. Das erschien vermutlich nicht nur mir reichlich absurd. Denn seit Anfang der siebziger Jahre hatten wir im Kölner Ostkolleg vielfältige Wissenschaftskontakte nach Osteuropa anknüpfen können, zuerst nach Polen, wo mich mit Wladyslaw Markiewicz bald eine Freundschaft verband, später auch in die Sowjetunion, wo ich Nikolaj S. Mansurow, kennen- und schätzenlernte und wohin ich schon 1981 zu einem Studienaufenthalt an das Akademieinstitut für Soziologie eingeladen wurde. Es war eine paradoxe Situation: Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern, die zum bei uns „Ostblock“ genannten Machtbereich der Sowjetunion gehörten, blieben die Türen zu den Forschungseinrichtungen in der DDR für die westdeutschen Wissenschaftler weitestgehend verschlossen. Das war umso enttäuschender, als wir zumindest Teile ihres Forschungsertrages aus publizierten Studien kannten (und ebenso über die nicht publizierten Ergebnisse rätselten).

Schon in den sechziger Jahren – als sich die Soziologie in der DDR als eigenständige Disziplin gerade erst zu formieren begonnen hatte – galt unser besonderes Interesse dem Leipziger ZIJ, dessen Publikationen wir westdeutschen DDR-Forscher allesamt als unentbehrliche Quelle genutzt haben. Vor allem die Intervallstudien des ZIJ  haben besondere Beachtung gefunden, denn sie waren – auch im internationalen Vergleich –  ein innovativer Beitrag zur Jugendforschung. Allerdings war uns auch bewusst, dass die administrativ gesteuerte selektive Veröffentlichungspraxis in der DDR zur Folge hatte, dass politisch brisante Forschungsresultate oft unter Verschluss gehalten werden mussten. Dass es solche Erkenntnisse gab, auf die sich unsere besondere Neugier richtete, war Walter Friedrichs listigem Einfallsreichtum zu danken; dass wir dazu keinen Zugang hatten, konnte er nicht verhindern; dass er sie aufbewahrt hat, sollte sich später als beträchtlicher Gewinn erweisen.

Wir alle, die sich mit der Entwicklung der Gesellschaft in der DDR befassten, kannten Walter Friedrich als einen wichtigen Promotor der Soziologie in der DDR, und doch waren ihm viele von uns niemals persönlich begegnet. Endlich war der Bann gebrochen, in einer  nahezu surrealen Situation. Denn der 5. Soziologiekongress war ja noch in der Verantwortung von Rudi Weidig geplant worden, bevor sich der fundamentale Umbruch absehen ließ, den die DDR im Herbst 1989 auch unter mutiger Mitwirkung Walter Friedrichs erlebte. In wenigen Wochen wurden Rahmenthema und Programm des Kongresses geändert, und mir bleiben die Turbulenzen unvergessen, als auf einer Abendsitzung versucht wurde, einen neuen unabhängigen Soziologenverband zu gründen.

In diesem Spannungsfeld zwischen Chaos und Innovation wechselte ich von den Plenarveranstaltungen in der Kongresshalle zu den Sektionen im Haus des Lehrers, wo ich Walter Friedrich endlich zum ersten Mal begegnete. Ich traf ihn sogleich mit einem konkreten Anliegen. Als Redaktionsleiter der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ hatte ich im Vorfeld des XII. World Congress of Sociology, der vom 9. bis 13. Juli 1990 in Madrid stattfinden würde, in einem Sondierungsgespräch mit Artur Meier eine Ausgabe projektiert, in der sich Soziologen aus der DDR mit grundlegenden Beiträgen präsentieren sollten. Walter Friedrich und Hildegard Maria Nickel waren dabei als meine wichtigsten Ansprechpartner vor-gesehen. Und die Gespräche verliefen so mühelos und intensiv, vertrauensvoll und beinahe schon freundschaftlich, als hätten wir uns seit Jahren gekannt. Das Ergebnis dieser inspirierenden, ja elektrisierenden Kontaktaufnahmen ist dokumentiert. Bereits Mitte April erschien „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (mit einer Auflage von 110.000 Exemplaren) mit vier Beiträgen von Soziologen aus der DDR, darunter Walter Friedrichs Studie „Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR“ – eine eindrucksvoll kondensierte Forschungsbilanz aus der Werkstatt des ZIJ, ein Kunststück, in wenigen Wochen entstanden, das ein vielzitierter Klassiker werden sollte.

Seither haben wir uns viele Jahre bei fast jedem meiner Leipzig-Besuche (ich habe 1958 an der Thomasschule mein Abitur gemacht) getroffen, zunächst im ZIJ, später in seiner Wohnung nahe beim Johannapark. In der Stallbaumstraße wurde ich nicht nur mit Informationen und unveröffentlichten Materialien reich beschenkt. Ich habe dort auch einen Institutsdirektor erlebt, der auf liebenswürdige Weise alle meine Wünsche erfüllte, mit jenen Mitarbeitern bekannt zu werden, deren Forschungsgebiete mich besonders interessiert hatten. Das galt vor allem für die Kultursoziologie, und so verdanke ich Walter Friedrich auch meine erste Begegnung mit Bernd Lindner, aus der eine andauernde Freundschaft werden sollte.

Ein kleiner Nachtrag zum deutschen Wissenschaftsdialog soll meinen Gruß an Walter Friedrich beschließen. Aus dem illustren Kreis des ZIJ habe ich als ersten Gustav-Wilhelm Bathke bereits im April 1988 in dem kleinen saarländischen Ort Nonnweiler getroffen. Dort begegneten wir uns auf einer Tagung der Europäischen Akademie Otzenhausen zum Thema „Sozial-struktur und sozialer Wandel in der DDR“.

Wie sie zustande kam, ist eine kuriose Geschichte: Mein Freund Heiner Timmermann, Studienleiter der Akademie, hatte eine Verbindung zu Erich Honecker hergestellt, indem er dem bekennenden Saarländer einen Artikel aus der Zeitschrift des örtlichen Geschichtsvereins über die Familie Honecker geschickt hatte. Die freundliche Antwort ermutigte ihn, Honecker zu bitten, eine Reisegruppe von Schülern, die Ostberlin besuchen wollte, zu einem Gespräch zu empfangen. Diese Begegnung, über die schließlich sogar vom DDR-Fernsehen berichtet wurde, öffnete die Türen für einen verwegenen Plan, den wir gemeinsam ausheckten.

Ich schlug vor, Manfred Lötsch, Jutta Gysi, Gunnar Winkler und Walter Friedrich zu einer Tagung „Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR“ nach Otzenhausen einzuladen. Kaum jemand glaubte an unseren Erfolg, der sich relativ mühelos einstellte. Lötsch berichtete uns, wie verwundert er war, als die Einladung bei ihm eintraf und noch mehr, als er für seine Teilnahme grünes Licht erhielt. Vor allem der Beitrag von Manfred Lötsch schlug hohe Wellen und löste einen spektakulären Kommentar in der FAZ aus. Ein Sammelband, der noch 1988 erschien, dokumentiert die Referate der Tagung, darunter den Beitrag von Gustav-Wilhelm Bathke „Sozialstruktur – Soziale Herkunft – Persönlichkeitsentwicklung“. So bin ich indirekt mit Walter Friedrich schon fast zwei Jahre vor unserer persönlichen Begegnung in Verbindung gekommen, als sein engagierter Sendbote aus dem ZIJ mir beim abendlichen Zusammensein von den altruistischen Tugenden sowie dem strategischen Geschick seines Chefs ebenso wie von der kreativen Atmosphäre im ZIJ berichtet hat.

Lieber Walter Friedrich, schade, dass Sie nicht schon damals dabei sein konnten. Der Tagungsband soll nun meine kleine Erinnerung als dankbares Geschenk begleiten.

© Rüdiger Thomas

In: Walter Friedrich zum 80. Geburtstag, Gesellschaft für Jugend- und Sozialforschung, Leipzig 2009, S. 203-205.

 

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