Ein rares Unikat – Gerhard Wolf (2013)

Rüdiger Thomas

Ein rares Unikat

Meine Begegnungen mit Gerhard Wolf

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Es gibt nicht viele, die so sehr in Verlegenheit geraten müssten wie Gerhard Wolf, wenn sie über ihre Profession Auskunft geben sollten. Redakteur, Lektor, Autor, Herausgeber, Verleger, Galerist – das stünde zumindest zur Wahl. Um solchen Entscheidungszwängen zu entgehen und ein Verwirrspiel zu beginnen, könnte man ihn auch als stillen Connaisseur (der Buch- und Bildkunst ebenso wie der Kochkunst zugewandt) und als heimlichen Mäzen vorstellen. In die deutsche Kulturgeschichte hat sich Gerhard Wolf als leidenschaftlicher Aufspürer eingeschrieben, wenn es galt, Entdeckungen in einem Gebiet zu machen, in dem es vielfältige und schmerzhafte Grenzziehungen gab – in einem kleinen Land, das wider den Anschein für ahnungslose Besucher manche reizvolle ästhetische terra incognita aufwies.

Auf der Buchmesse in Frankfurt sind wir uns 1991 zum ersten Mal persönlich begegnet. Gerade war Gerhard Wolf mit Janus press Buchverleger geworden. Schon immer hatte er sich für Menschen eingesetzt, die neue ästhetische Horizonte zu erschließen suchten. Er hatte junge Autoren und Autorinnen ermutigt, ihre Lyrik einfühlsam und engagiert auch in subkulturellen Szenezeitschriften wie der 1986 entstandenen „Ariadnefabrik“ – einem Rarissimum meiner Büchersammlung –interpretiert , indem er die „Befindlichkeit der Sprache“ mit der „Befindlichkeit des Sprechenden“ in Beziehung setzte. Schließlich konnte er  im Aufbau-Verlag ab 1988 Schriftsteller wie Bert Papenfuß-Gorek, Jan Faktor, Gabriele Kachold oder Reinhard Jirgl noch vor dem Ende der DDR unter dem vielsagenden Rubrum  „Außer der Reihe“ vorstellen. Doch wie hatte Christa Wolf im September 1988 in ihrem wunderbaren selbstironischen  Doppelporträt „Er und ich“ zu seinem 60. Geburtstag ahnungsvoll geschrieben:  „Er wäre der ideale Leiter eines kleinen Verlages für zeitgenössische Literatur“.

Ich hatte schon längere Zeit gewusst, dass es diesen einen und besonderen Büchermenschen mit Lust und Leidenschaft, mit Mut und Energie in diesem nahen, fernen Land gab, der zugleich ein Bildermensch war, schon in den frühen Jahren so verschiedenen Künstlern wie Albert Ebert ebenso zugewandt wie Carlfriedrich Claus und später vielen aus der Generation der ostdeutschen Jungen Wilden. Und nun hatten wir uns endlich bei seinem Messedebüt getroffen, an seinem kleinen Stand, umgeben von den ersten fünf Büchern, die er in eigener Regie und auch auf eigenes kommerzielles Risiko – kunstvoll gestaltet und bilderreich ausgestattet –  verlegt hatte. Höchst aufschlussreich für Gerhard Wolfs spontanen Entdeckergeist ist eine Episode, die seiner Verlagsgründung vorausgeht. Im Juni 1990 erreichte Gerhard Wolf ein Brief der jungen sorbischen Autorin Róža Domašcyna: „Ich bin aus Bautzen und meinen Namen dürften Sie noch nie gehört haben. Ich habe noch kein Gedicht in deutscher Sprache veröffentlicht.“ Die Reaktion auf die beigefügten Texte folgt schon nach wenigen Wochen und soll alle Zweifel zerstreuen: „Natürlich sind Sie eine Dichterin.“ Das ist die Vorgeschichte seines ersten Verlagstitels „Zaungucker“. Ein veritabler Coup in diesem Debütprogramm war der Band „das wort auf der zunge“, der von Carlfriedrich Claus ausgewählte Texte von Franz Mon aus 40 Jahren mit seinen eigenen Sprachblättern in Beziehung setzte.

Wir entdeckten rasch, wie viele gemeinsame Interessen uns verbanden, und so begann ein andauerndes Gespräch, das uns seither über mehr als 20 Jahre in vielen weiteren Begegnungen und einigen gemeinsamen Aktionen und Projekten bis heute verbinden sollte. Denkwürdig bleibt vor allem ein langes Gespräch , das ich mit Christa und Gerhard Wolf am 7. Mai 1997 im Erker am Amalienpark für den Katalog der Ausstellung „deutschlandbilder“  führen konnte. Es ist erstaunlich, dass dieses Doppelinterview ein einzelner Versuch geblieben ist, zwei Personen gemeinsam auf die Spur zu kommen, von denen Christa Wolf in dem erwähnten Gedankenaustausch  bemerkte: „Wissen Sie, wir waren früher – mehr als heute, wo wir uns nun so gut kennen, daß wir uns manchmal mit halben Sätzen über Sachen verständigen können – in einem Tag-und Nacht-Gespräch.“

Auch nach seiner eigenen Verlagsgründung bleibt Gerhard Wolf als Autor in anderen Verlagen präsent. 1992 erscheint sein aufschlussreicher Reclam-Band „Sprachblätter Wortwechsel“, der facettenreich Schlaglichter darauf wirft, wie der Autor die beiden zurückliegenden Jahrzehnte als Literatur- und Kunstkritiker mitgestaltend erlebt hat: „es war erregend, das zu beobachten und als Herausgeber, jetzt als Verleger, sich engagierend, daran Anteil zu nehmen“, resümiert Gerhard Wolf in einer Vorbemerkung zu diesem „Denk-Mal“. Wer die von Gerhard Wolf selbst ausgewählten Texte heute liest, wird von einem weiten, tiefschürfenden Blick gefangen genommen und auf eigene Weise mit Protagonisten wieder vertraut, die sich in die deutsche Kulturgeschichte unverwechselbar eingeschrieben haben: Irmtraud Morgner, Elke Erb und Adolf Endler, Sarah Kirsch, aber auch die jungen Autoren der späten Achtziger auf der „FLUCHT NACH VORN“ begegnen uns neben ausgewählten Beiträgen zum Werk von Carlfriedrich Claus, der das ästhetische Selbstverständnis von Gerhard Wolf mehr als jeder andere Bildkünstler aus der DDR herausgefordert und konzeptionell bereichert hat.

Es verwundert nicht, dass der rastlose Entdecker 1997 schließlich auch noch zum Galeristen wurde, den ich am Ursprungsort seiner Kellergalerie, im Nebenhaus der eigenen Wohnung, gern und häufig besucht habe. Seine und Christa Wolfs „Freunde, die Maler“ hatten wir schon 1996 nach dem Ausstellungsdebüt in Rheinsberg auch in der bei Köln gelegenen Abtei Brauweiler zeigen können, und hier bin ich auch Christa Wolf zum ersten Mal in einem langen Gedankenaustausch intensiv begegnet.

Doch möchte ich hier noch eine andere Art von Begegnung in Erinnerung rufen, die ich mit Gerhard Wolf wiederholt erlebt habe, ohne dass er davon wusste. In meiner Bibliothek steht eine Lyrik-Anthologie, die Christa und Gerhard Wolf 1959 herausgegeben haben – die erste gemeinsame Buchveröffentlichung eines Ehepaares, das sich schon 1951 lebenslang miteinander verbunden hatte. Der nobel in Leinen gebundene „Aufbau“-Band enthält neben Gedichten vieler Ahnherren der DDR-Literatur (nur zwei Frauen aus der älteren Generation sind darunter) schon Verse mancher damals noch sehr junger Grenzgänger wie Günter Kunert, Adolf Endler, Reiner Kunze neben Erich Arendt, Peter Huchel, Georg Maurer und Karl Mickel, die auch heute in keiner Lyrik-Anthologie fehlen. Als mir das Buch geschenkt wurde, hatte ich gerade meine Heimatstadt Leipzig republikflüchtig verlassen und stand der Literatur aus der DDR, von der Gerhard Wolf im Erker am Amalienpark sagen sollte, davon könne „man eigentlich erst ab 1963 sprechen“, fremd gegenüber. So habe ich den Band erst wirklich wahrgenommen, als mich   – durch kulturpolitische Restriktionen lange verzögert – ein 1972 publizierter Text von Gerhard Wolf faszinierte, der schon 1968 entstanden war: „Der arme Hölderlin“ ist ein literarisches Experiment, ein  Geniestreich, der sich souverän zwischen den Genres von Erzählung und Psychogramm, Selbstreflexion und Biografie, Essay und Collage bewegt und dabei die Ausdrucksmittel des Autors und die Zitate der historischen Personen absichtsvoll mitunter kaum unterscheidbar verknüpft. Über die Entstehung dieses Textes hat Gerhard Wolf 1984 in einem Brief an Angela Drescher selbst hintersinnig Auskunft gegeben, indem er neben dem „Jahr des französischen Mai in Paris, der studentischen Proteste in Berkeley gegen den Krieg der USA“ die „Augusttage in Prag“ in Erinnerung ruft. Und Hölderlins Verse „Laß in der Wahrheit immerdar/mich bleiben“ erlebte er nach eigenem Bekunden „durch Radiosignale aktuell skandiert“. Verbindungen zu Prager Freunden, die schließlich auch zu einer Bindung in der eigenen Familie führen sollten (Tochter Annette ist ja mit dem Dichter Jan Faktor verheiratet), haben eine schockierende politische Erfahrung auch zu einer persönlichen Desillusionierung werden lassen, in der zugleich eine unerschütterliche und trotzige Selbstbehauptung anklingt, wenn wir im „Hölderlin“ lesen: „Je sicherer der Mensch in sich und je gesammelter in seinem besten Leben er ist, um so heller muß auch sein Auge sein, und das Herz haben wird er für alles, was ihm leicht und schwer und groß und lieb ist in der Welt.“

Schon bei diesem fiktiven Zusammensein mit Gerhard Wolf als faszinierter Leser entstand der Wunsch, jenem Menschen persönlich zu begegnen, der ein Lebensprinzip lebendig werden ließ, das mir selbst vertraut war. Gerhard Wolf hat Reglementierungen und Begrenzungen der Kunst nie akzeptieren wollen und auch die Grenzen zur Bundesrepublik intellektuell früh überschritten. In seinem 1964 publizierten Werk „Deutsche Lyrik nach 1945“ hat er in einer seinerzeit durchaus riskanten politischen Gratwanderung, aber mit sicherem Gespür für die ästhetische Qualität, wie er in einer Vorbemerkung selbst konstatiert „–bei uns in diesem Umfang zum ersten Mal – auch die wesentlichen Stimmen und Strömungen westdeutscher Dichtung erfaßt“, wobei er ebenso deutschsprachige Autoren wie Ingeborg Bachmann und Paul Celan einbezogen hat. Kaum jemand war so mittendrin in den disparaten Kulturszenen der DDR wie er, als scharfsinniger, bisweilen lustvoll sarkastischer Kritiker, vor allem aber als emphatischer Beobachter, Entdecker und Ermutiger, als einfühlsamer Interpret und engagierter Förderer. Gerhard Wolf tat, was er tun musste, ohne sich vor den Folgen zu fürchten,  wenn es um die Verteidigung der Kunst gegen Ignoranz und Verbote ging.

Ohne Sie, lieber Gerhard Wolf, wäre die Kultur in Deutschland ärmer. Sie haben viele Impulse gegeben und manche Entdeckung wäre uns versagt geblieben, wenn Ihre kreative Energie gefehlt hätte, sie sind in vieler Hinsicht ein Ur-Heber, eben ein rares Unikat.

Quelle: Gerhard Wolf. Stimmen der Freunde. Gerhard Wolf zum 85. Geburtstag. Hrsg. von Friedrich Dieckmann, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2013, S. 179-183.

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