Leistungen und Defizite der DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung

Leistungen und Defizite der DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung

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Leistungen und Defizite der DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung

 Rüdiger Thomas

Forschung zielt auf die (methodisch abgesicherte) Ermittlung von Tatsachen, ihre (systematische) Einordnung in Strukturen und Bedingungszusammenhänge und eine (theoriegeleitete) Interpretation der so gewonnenen Erkenntnisse. Mißt man die DDR-Forschung an einem solchen Wissenschaftsverständnis, wird deutlich, daß mit Pauschalurteilen, die derzeit in Mode gekommen sind, kein Beitrag zu einer sachgerechten Bewertung ihrer Leistungen und Mängel erbracht wird.

1. Die DDR-Forschung als Politikum

Eine verbreitete Kritik besagt, die DDR-Forschung habe das Ende der DDR nicht prognostiziert und schon damit ihre Inkompetenz unter Beweis gestellt. Sie verkennt, daß sich die Relevanz sozialwissenschaftlicher Forschung nicht durch ihre Prognosefähigkeit begründet, sondern durch die umfassende Analyse von politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Zuständen und Entwicklungsprozessen. Forschung zielt auf Realitätserkenntnis, sie ist nicht das Orakel von Delphi. Und Pythia ist mit der Forschung nicht enger verwandt als mit der Politik oder der Publizistik – deshalb bleibt die Geschichte wissenschaftlicher Prognostik auch eine Geschichte von Irrtümern.

Karl Marx hatte den Versuch unternommen , die Geschichte der Menschheit in Analogie zu den Naturwissenschaften als einen gesetzmäßigen Prozeß zu deuten. Die von ihm propagierte materialistische Geschichtsauffassung, ein teleologischer Determinismus mit der Zielperspektive der “ kommunistischen Gesellschaft“, hat sich nicht nur als eklatante sozialwissenschaftliche Fehlprognose erwiesen, sondern nachdrücklich verdeutlicht, daß sich Geschichte in einem offenen Horizont der Zukunft vollzieht, der durch das Handeln von Menschen bestimmt wird. Die Sozialwissenschaften können zwar Entwicklungstrends eruieren und daraus Hypothesen ableiten, doch müssen sie dabei ein erhebliches Irrtumsrisiko in Betracht ziehen. Prognosen über die Entwicklung von sozialen Systemen sind in ihrer zeitlichen Dimension und im Hinblick auf die eingenommene Zielperspektive spekulative Zukunftsprojektionen.

Es erscheint daher wenig ergiebig, die Debatte über die Qualität der DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung an der Frage ihrer Prognosekompetenz festzumachen, noch bevor man sich mit ihren konkreten Erkenntnisleistungen beschäftigt hat. Eine rückwärtsgerichtete Teleologie, die uns nachträglich zu erklären weiß, warum es so kommen mußte, wie es sich tatsächlich ereignet hat, mag zwar den Anschein erwecken, recht bekommen zu haben, doch handelt sie nur mit kleiner Münze, sofern sie ihre Einsichten post festum verkündet. Festzuhalten bleibt, daß es niemand – in Wissenschaft, Politik und Publizistik – gegeben hat, der den Zusammenbruch des Kommunismus kurzfristig vorhergesagt hätte. Daß dies auch keinem DDR-Forscher gelungen ist, kann daher nicht überraschen, noch viel weniger kann es ein Unwerturteil über eine ganze Forschungsrichtung begründen.

Ein zweiter Vorwurf, der sich gegen die DDR-Forschung richtet , besagt, ein erheblicher Teil habe sich dadurch diskreditiert, daß er den Anspruch auf Wiedervereinigung, ja sogar die „Einheit der Nation“ preisgegeben habe. Damit sei die Endgültigkeit der staatlichen Teilung Deutschlands akzeptiert und der Unrechtscharakter des SED-Regimes in der DDR verharmlost worden. Dieser Vorwurf richtet sich vornehmlich auf die politische Orientierung von DDR-Forschern und reiht sie ein in die „Galerie der Blamierten“ (Hans-Peter Schwarz).

Die DDR-Forschung war nicht nur ein schwieriges wissenschaftliches Projekt, sondern immer zugleich ein Politikum. Sie hat nicht nur eine – unter komplizierten Forschungsbedingungen zu vollziehende – Erkenntnisfunktion, sondern auch eine außerwissenschaftliche Orientierungsfunktion wahrgenommen, indem sie die Entwicklung der DDR im Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichte politisch einzuordnen suchte. Dieser Doppelcharakter der DDR-Forschung, der ihr immer – implizit oder ausdrücklich – zugleich den Status vergleichender Deutschland-Forschung verlieh, hat dazu geführt, daß sie in der Bundesrepublik – in ihren unterschiedlichen Ausprägungen – zur Rationalisierung deutschlandpolitischer Optionen und Strategien in Anspruch genommen wurde. (Dabei läßt sich im einzelnen schwer aufklären, inwieweit sie politische Entscheidungen selbst beeinflußt oder von diesen forschungspraktisch motiviert bzw. konditioniert wurde.) Im SED-Staat wurde die DDR-Forschung ausschließlich ideologisch perzipiert: als subtile Form intellektueller Subversion, die zur Erosion der herrschenden Staatsideologie beitragen sollte. Mit ihren Erkenntnissen hat man sich substantiell kaum auseinandergesetzt. Und für das „Deutschland Archiv“ bestand ein weitgehendes Zitierverbot.

Die politische Instrumentalisierung der DDR-Forschung wurde – vornehmlich in den siebziger Jahren – in der Kontroverse zwischen den Verfechtern des Totalitarismuskonzepts und der Modernisierungstheorie, also im Konflikt zwischen zwei globalen Deutungsmustern, auf markante Weise deutlich. Zeitweilig dominierte eine Lagermentalität, die sich mehr für die politischen Implikationen wissenschaftstheoretischer Orientierungen interessierte als für deren erkenntnisaufschließende Funktionen. Die beiden konkurrierenden Deutungsmuster wurden zudem ausschließlich als divergente Forschungsansätze betrachtet, ihre komplementäre Funktion wurde demgegenüber kaum erkannt1 .

Die Analyse politischer Strukturen (Totalitarismustheorie ) oder gesellschaftlicher Prozesse (Modernisierungstheorie) implizierte zwar unterschiedliche Forschungsperspektiven, doch war es keineswegs zwangsläufig, daß ihre Vertreter damit auch einseitig politischen Grundströmungen zugerechnet werden mußten. In der Praxis zeigte sich aber, daß die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung, die in erster Linie den Systemwandel und seine Bedingungsfaktoren untersuchte, zur Legitimation einer Deutschlandpolitik in Anspruch genommen wurde, die auf Systemöffnung, auf „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr), setzte. Eine Forschungsrichtung, deren Erkenntnisinteresse demgegenüber vorrangig darauf gerichtet war, Machtstrukturen zu analysieren, konkret: die normative und reale Kluft zwischen Demokratie und Diktatur aufzudecken, schien zugleich Argumente gegen eine Entspannungspolitik zu liefern, deren Hoffnung auf einen Systemwandel durch Einwirkung von außen in dieser Sichtweise als illusionär betrachtet wurde.

In der Bundesrepublik wurde in den siebziger Jahren – anders als in den USA – diese eigentümliche und vordergründige Verbindung zwischen wissenschaftlichen Denkschulen und politisch-strategischen Orientierungen kaum aufgebrochen – etwa durch den naheliegenden Gedanken, daß eine Diktatur durch Systemöffnung eher destabilisiert werden könnte als durch defensive Abgrenzung. Entspannungspolitik als eine offensive Strategie schrittweiser Systemtransformation – wie sie Egon Bahr in seiner Tutzinger Rede im Juli 1963 postuliert hatte – war mit den Axiomen der Totalitarismustheorie durchaus vereinbar, auch wenn diese Einsicht in den deutschlandpolitischen Kontroversen der siebziger Jahre weitgehend verlorengegangen war.

Die vorschnelle und verkürzte Vermischung von Politik und Wissenschaft hat eine sachgerechte Beurteilung der DDR-Forschung in der Vergangenheit oft erschwert, und diese Hypothek ist bis heute nicht abgetragen.Meine erste These lautet daher: Bei der Bewertung der DDR-Forschung muß zwischen ihrer politischen Urteilskompetenz und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisleistung unterschieden werden.

 

2. Die DDR-Forschung als Wissenschaft

Jens Hacker hat 1992 ein voluminöses Werk vorgelegt, das akribisch deutschlandpolitische Fehleinschätzungen bilanziert, die in der Geschichte der Bundesrepublik formuliert worden sind2 . Der eindrucksvolle Umfang seines Buches läßt Vollständigkeit vermuten, doch beschränkt sich der Autor vorwiegend auf die Frage, „wie es die politischen Parteien und wichtige gesellschaftliche Institutionen, die betroffenen Wissenschaften, Publizistik und öffentliche Meinung mit der Problematik der Einheit Deutschlandsgehalten haben“3 .

Dies ist ein notwendiger und wichtiger Beitrag zur Geschichte der deutschen Frage, der Respekt und Anerkennung verdient. Die Resonanz auf Hackers „Sündenregister“ war beträchtlich, doch hat es leider Mißverständnisse begünstigt, die der Autor nur teilweise selbst zu verantworten hat. Der Untertitel „Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen“ ist ein Ärgernis, das der aufklärerischen Absicht seines Autors widerspricht, weil es alle jene pauschal und undifferenziert unter den diffamierenden Verdacht einer politischen Gesinnungskumpanei mit der SED stellt, die das Ziel der staatlichen Wiedervereinigung im Rahmen der Blockkonfrontation für unrealistisch gehalten und Alternativen zur Überwindung der Trennung der Menschen in Deutschland gesucht haben.

Wer Hackers Buch sorgfältig gelesen hat, wird über ein zweites Mißverständnis überrascht sein: die Annahme, hier werde mit den Fehlleistungen der DDR-Forschung umfassend und gründlich abgerechnet4  . Erst im letzten Teil seiner Darstellung kommentiert der Autor“ Verdienste und Defizite der SBZ-/DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung“ auf etwa 40 Seiten5  , wobei weite Bereiche der Forschung ebenso ausgeblendet bleiben wie die Entwicklung in den achtziger Jahren. Diesbezzüglich liefert Hacker allenfalls einen streitbaren Diskussionsbeitrag, doch hat sich die Wirkung des Buches gegenüber den Intentionen des Autors in dieser Hinsicht offenbar verselbständigt.

Mangelndes Differenzierungsvermögen zwischen Politik und Wissenschaft wurde zum Nährboden einer gesinnungspublizistischen Fehlwahrnehmung, die ebenso summarisch wie polemisch konstatierte, die DDRForschung habe „kläglich versagt“6 . Kein DDR-Forscher, aber auch kein Fachwissenschaftler, der sich der Mühe unterzogen hat, die Ergebnisse der DDR-Forschung konkret zu prüfen, hat sich diesem pauschalen Vorwurf angeschlossen, den auch Jens Hacker in seinem Buch ausdrücklich zurückweist. Prominente Soziologen wie Bernhard Schäfers und Wolfgang Zapf haben nicht nur die eigenen Versäumnisse ihrer Zunft bei der wissenschaftlichen Analyse der DDR-Gesellschaft kritisiert, sondern auch ausdrücklich auf relevante Leistungen der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung verwiesen, die unter schwierigen forschungspraktischen Bedingungen erbracht worden sind7 . Für andere Teildisziplinen der DDR-Forschung stehen ähnliche Reaktionen der ihnen zugeordneten „Mutterwissenschaften“ überwiegend noch aus. Dabei wäre es besonders wichtig, wenn sich der Diskurs über Leistungen und Defizite der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung nicht auf die ehemals konkurrierenden Protagonisten der eigenen Zunft beschränken wurde, sondern das unvoreingenommene Urteil kompetenter Fachautoritäten einbeziehen könnte.

Kar! C. Thalheim, einer der Begründer und frühen Mentoren der wirtschaftswissenschaftlichen DDR-Forschung, hat als einer der ersten dem Verdikt wissenschaftlicher Inkompetenz, wie er von einer aus politischen Motiven gespeisten Pauschalkritik seit dem Zusammenbruch des SED-Regimes kolportiert wurde, entschieden widersprochen: „Sicherlich hat es auch in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung über die DDR Irrtümer, Fehlurteile und falsche Prognosen gegeben; aber sie sind keineswegs kennzeichnend für die gesamte Forschung in diesem Bereich.“8 Eine Evaluierung der DDR-Forschung muß nach ihren Erkenntnisleistungen fragen, sie darf sich nicht darauf beschränken, post festurn politische Einschätzungen und Prognosen zu bewerten. Ansätze für einen solchen produktiven Umgang mit der DDR-Forschung bieten insbesondere die kritischen Bilanzen von Eckhard Jesse9  und Detlef Pollack10 . Sie registrieren nicht nur Fehleinschätzungen und Desiderate, sondern strukturieren vor allem wissenschaftstheoretische und methodologische Konzepte und versuchen, die wissenschaftliche Relevanz von Forschungsergebnissen differenziert zu benennen. Sie verdeutlichen damit, daß es nicht ausreicht, politische Irrtümer aufzudecken, wenn man über die Substanz von Forschung zu urteilen beabsichtigt – eine Versuchung, der auch Jens Hacker in seinem Buch nicht immer entgeht.

Mit selektiven Zitaten werden hier die Fehleinschätzungen der „politologischen DDR-Forschung“ pauschal kritisiert, denen die „realistische Einschätzung der DDR durch die Rechtsforschung“ gegenübergestellt wird: „Der Rechtswissenschaftier besitzt gegenüber den meisten anderen Sozialwissenschaftlern einen großen Vorteil, wenn er sich mit der DDR – oder einem anderen östlichen Staat – befaßt: Er hat als einziger die Möglichkeit, auf der sicheren Basis des authentischen Rechtsmaterials zu arbeiten … Er ist im Gegensatz zu den anderen Sozialwissenschaftlern in der Lage, relevante Aussagen zu machen, auch wenn sie sich auf Vorgänge beziehen, die er nur ‚von außen‘ zu beurteilen vermag“11 . Diese Sichtweise ist dann wohl doch zu einfach, um wahr zu sein. Ein Beispiel mag diese Feststellung illustrieren.

Ein vorzüglicher Kenner des DDR-Strafrechts, der in einem 1988 veröffentlichten Aufsatz die Entwicklung des Strafrechts in der DDR präzise und ohne jede Beschönigung beschreibt, schließt seine Analyse mit diesem Resümee ab: „Es bestehen also zahlreiche Ansätze und Anzeichen für einen Wandel des Strafrechts der DDR, der insbesondere auf eine Abkehr von dem strengen Repressionssystem hinzielt . Möglicherweise wird ein Vergleich des Strafrechts in den beiden deutschen Staaten in wenigen Jahren deutlich mehr Gemeinsamkeiten erbringen, als sie für die Entwicklung der letzten 15 bis 20 Jahre festgestellt werden konnten.“12  Hätte ich dieses Zitat isoliert benutzt, wäre ich einer derzeit üblichen Praxis gefolgt: Durch Ablösung von politischen Schlußfolgerungen aus dem Analyse-Kontext werden Negativurteile begründet, die dem sachlichen Gehalt der Analyse selbst –genauer: ihrer wissenschaftlichen Substanz – in keiner Weise gerecht werden.

Es muß daher gefordert werden, Leistungen und Fehleinschätzungen differenziert zu benennen, wenn ein zuverlässiges Bild über die DDR-Forschung gezeichnet werden soll13 . Damit soll keineswegs gesagt sein, daß eine selbstkritische Aufarbeitung der DDR-Forschung überflüssig wäre14 . Doch muß sie an der Sache selbst ansetzen, sie sollte sich nicht auf die Suche nach dem politischen Standort der Forscher beschränken, sondern Leistungen und Defizite der Forschung konkret reflektieren – ohne einseitige Schuldzuweisung und ohne selbstgerechten Triumphalismus15 .

Kritikwürdig und erklärungsbedürftig ist die Tatsache, daß weite Teile der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung in ihren Analysen seit Beginn der siebziger Jahre in auffälliger Weise auf den Begriff der „Diktatur“ zur Kennzeichnung des SED-Regimes verzichtet haben. Es kann nicht  bestritten werden, daß in den siebziger Jahren ein intellektuelles Klima entstanden war, in dem erhebliche Teile der politischen Linken die fundamentale Differenz zwischen einem freiheitlichen demokratischen Sozialismus und dem Monopolsozialismus der kommunistischen Staatsparteien verkannt haben. Fasziniert von der Emphase gesellschaftlicher Reformpolitik im Westen, haben sie den diktatorischen Machtwillen kommunistischer Parteiführungen gründlich unterschätzt und den Einfluß reformkommunistischer Ideen und die gesellschaftliche Eigendynamik – die sie sich durch Rückgriff auf konvergenztheoretische Hypothesen und modernisierungstheoretische Konstrukte plausibel machten – offenkundig überbewertet. Daß solche Erwartungen von kommunistischen Systemkritikern – wie Robert Havemann oder in der Sowjetunion lange Zeit auch von Andrej Sacharow – geteilt wurden, zeigt auf eindrucksvolle Weise an, wie sehr dieses Orientierungsmuster dem vorherrschenden Zeitbewußtsein entsprach.

Solche Irrtümer aufzudecken, denen auch der Autor teilweise selbst erlegen ist , stellt eine wichtige Aufgabe ideologiekritischer Selbstreflexion dar. Es ist freilich eine ganz andere Frage, ob solche Grundannahmen, die dem Forschungsprozeß vorausgehen, die Resultate der Forschung selbst verfälscht haben. Man wird allerdings feststellen müssen, daß dadurch wichtige Forschungsschwerpunkte ungerechtfertigterweise vernachlässigt worden sind.  Wer aus Furcht vor dem Vorwurf einer bellicosen Rhetorik zögerte, die DDR als „Diktatur“ zu kennzeichnen, mochte sich kaum der Analyse ihres Repressionsystems zuwenden, wobei der Mangel an überprüfbaren Informationen nur eine vordergründige Rechtfertigung ür diese Selbstbeschränkung bieten konnte. Dabei waren gewiß noch ganz andere Motive bedeutsam, auf die Eckhard Jesse verwiesen hat: „Ein Teil der hiesigen Forschung war froh über erste, auch offizielle Kontakte zu DDR-Wissenschaftlern und fürchtete offenbar, eine deutlichere Sprache könnte als Bellizismus gedeutet werden und die geknüpften dünnen Fäden trennen.“16

So läßt sich nachträglich erklären, warum die Institutionen des Überwachungsstaates in der DDR-Forschung kaum die notwendige Beachtung gefunden haben, und es bleibt ein Makel, daß Karl Wilhelm Fricke der einzige war, der sich mit dem Ministerium für Staatssicherheit und der Praxis der politischen Justiz in der DDR eingehend beschäftigt hat. Fricke hat dazu ebenso treffend wie mokant angemerkt: „Das Ministerium für Staatssicherheit wurde mithin für die wissenschaftliche DDR-Forschung erst entdeckt, als es nicht mehr existierte.“17 Merkwürdig ist freilich, daß auch die Totalitarismustheoretiker diesem Thema kaum die gebotene Beachtung geschenkt haben, und die Geschichte oppositioneller Bewegungen in der DDR zählt ebenso zu den vernachlässigten Themenfeldern der gesamten DDR-Forschung – von wenigen Außenseitern der Zunft in den achtziger Jahren abgesehen18 . In diesem Zusammenhang sollten freilich keine falschen Legenden entstehen: In der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung gibt es kaum eine Studie, die das Regime der DDR nicht ausdrücklich als ein System der Unfreiheit gekennzeichnet hat, auch wenn es zutrifft, daß zahlreiche Forscher die Möglichkeit einer Liberalisierung des Systems überschätzt haben.

Es ist ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit, die angeführten Fehlleistungen selbstkritisch zu konstatieren, doch sollten daraus keine falschen Schlüsse gezogen werden. Wer den Begriff der“ Diktatur“ vermieden hat, muß zwar den politischen Vorwurf hinnehmen, die Machtverhältnisse in der DDR nicht beim Namen genannt zu haben. Dieser berechtigte Einwand setzt jedoch nicht die konkreten Forschungsergebnisse außer Kraft, die eine sozialwissenschaftliche Analyse der Funktionsweise des politischen Systems der DDR erbracht hat. So wird etwa die wissenschaftliche Leistung von Peter Christian Ludz nicht durch den Umstand geschmälert, daß er die politische Herrschaftsform der DDR schon Ende der sechziger Jahre – mit gewichtigen Argumenten aus der soziologischen Forschung in den USA – als „konsultativen Autoritarismus“ gekennzeichnet hat19 . Falsch ist auch der Vorwurf, der von Ludz und seinen zahlreichen Schülern in der DDR-Forschung vertretene kritische Rationalismus sei eine „systemimmanente“ Betrachtungsweise gewesen , die sich an den von der SED proklamierten „System“-Zielen orientiert habe. Es zeugt von mangelnder Kenntnis der Wissenschaftstheorie, wenn der kritische Rationalismus als eine Forschungsrichtung verstanden wird, die auf Werturteile prinzipiell verzichtet. Der kritische Rationalismus orientiert sich vielmehr an der Zielsetzung, „empirische Deskription und Werturteile zu trennen“20 . Wer die Ermittlung von Tatsachen als „Detailismus“21  kritisiert und statt dessen die Formulierung von politischen Bewertungen als zentrale Aufgabe der Wissenschaft deklariert , setzt sich der Gefahr aus, einem Wissenschaftsverständnis zu folgen, das die Grenzen zwischen Objektivität und Parteilichkeit verwischt. Der Verzicht auf die Totalitarismustheorie entwertet nicht apriori die Erkenntnisse sozialwissenschaftlicher DDR-Forschung, die sich an modernisierungstheoretischen Fragestellungen orientiert, ebensowenig wie ein „essentieller Antikommunismus“ (Detlef Herrmann) per se ein wissenschaftliches Qualitätsmerkmal darstellt, auch wenn er politisch geboten war.

Daß auch konservative Forscher nicht vor politischen Fehlleistungen gefeit waren, soll hier zumindest angemerkt werden. Nicht nur eine wichtige politische Parteigruppierung (CDU /CSU), sondern auch renommierte Wissenschaftler haben die Sprengkraft der KSZE-Schlußakte für die Destabilisierung kommunistischer Herrschaft in der DDR und im östlichen Teil Europas fundamental verkannt, indem sie gegen die Ratifizierung des Helsinki-Dokuments, das am 1. August 1975 unterzeichnet worden ist, grundsätzlich opponierten, weil sie es – entgegen dem Wortlaut des Textes – nur als endgültige Anerkennung des Status quo in Europa mißverstanden haben. Aufgrund ihrer strukturbezogenen statischen Systemwahrnehmung haben sie zehn Jahre später auch die Perestrojka-Politik Gorbatschows lange Zeit – wie etwa Konrad Löw – nur für ein besonders raffiniertes Täuschungsmanöver sowjetkommunistischer Propaganda gehalten – nachdem sozialwissenschaftlich orientierte Kommunismusforscher längst erste Ansätze für eine fundamentale Veränderung des Sowjetsystems diagnostiziert hatten22.

Eine kritische Reflexion über wissenschaftliche Defizite und politische Fehleinschätzungen der DDR-Forschung kann nur dann den aktuellen Forschungsprozeß fördern, wenn sie auf einseitige Schuldzuweisungen verzichtet und auch die eigenen Erkenntnisschranken offenlegt. „Schließlich haben auch jene Forscher, die sich den systemimmanenten Ansatz nicht zu eigen machten, die mangelnde Stabilität der DDR keineswegs erkannt und ihr Ende nicht prognostiziert. Der Totalitarismus-Ansatz basierte gerade auf der Prämisse, das kommunistische Machtmonopol sei unantastbar.“ 23 Wichtiger noch erscheint mir der Hinweis, daß die Totalitarismustheorie zwar imstande war, die Machtstruktur der DDR zu analysieren, doch blieb dabei die Entwicklung der Gesellschaft weitgehend ausgeblendet. „So konnte hier keine Theorie strukturell erzeugter Krisenpotentiale oder systemrelevanter Wandlungstendenzen entstehen.“24 Diesem Manko konnte die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung entgehen, gerade weil sie vorrangig auf die Analyse sozialer Prozesse gerichtet war.

Die Geschichte der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung hat in den achtziger Jahren einen Prozeß der politischen Ernüchterung und der wissenschaftlichen Differenzierung durchlaufen, der sie – im Unterschied zu den totalitarismustheoretischen Forschungsansätzen – befähigt hat, die verschärft hervortretenden Konflikte zwischen der politischen Führung und der Gesellschaft in der DDR konkret zu akzentuieren25 . Dabei sind zwei Grundsachverhalte immer wieder betont worden:

das umfassende Legitimationsdefizit der Parteiherrschaft in der DDR

So hat der Autor schon 1982 festgestellt: „Die überzogene politische Inanspruchnahme der DDR-Bevölkerung durch eine Vielzahl gesellschaftlicher Verpflichtungen (Mitgliedschaft in Parteien und Massenorganisationen, Beteiligung an Wettbewerbsinitiativen zur Erfüllung des Wirtschaftsplans usw.) führt zwar zu einem hohen Grad einer formalen politischen Partizipation, begünstigt aber gleichzeitig eine weitgehende faktische Entpolitisierung breiter Bevölkerungsteile, die sich vorrangig auf die Verwirklichung individueller Lebensansprüche oder Karriereerwartungen konzentrieren. Diese politische Apathie ist der Ausdruck einer tiefen Frustration, die sich aus der Erfahrung ergibt, daß gesellschaftliches Engagement auf den aktiven Einsatz für von oben vorgegebene Ziele beschränkt wird, während die Formulierung eigener Positionen sowie die Äußerung von Gesellschaftskritik als ’systemfeindlich‘ tabuiert und mit Einsatz staatlicher Machtmittel sanktioniert wird … Das politische Dilemma des realen Sozialismus liegt in einer fortschreitenden Erosion seiner ideologischen Glaubwürdigkeit … Gesellschaftliche Leitbilder und konkrete Bedürfnisse der DDR-Bürger stimmen weitgehend mit den in der Bundesrepublik vorherrschenden Wertorientierungen und Verhaltensnormen überein.“26

die fortschreitende Abwendung der jungen Generation vom propagandistisch verklärten „Staat der Jugend“  

Das folgende Zitat stammt aus einer Studie, die 1985 entstanden ist: „Eine überzogene politische Inanspruchnahme sowie ein Übermaß an Agitation und Propaganda haben in weiten Teilen der Jugend eine Entpolitisierung begünstigt… Sie nimmt die Leistungen ihrer Gesellschaft als Selbstverständlichkeiten hin und steht indifferent oder irritiert den proklamierten Leerformeln der ’sozialistischen Lebensweise‘ gegenüber. Jugend in der DDR stößt immer wieder auf Grenzen und Widersprüche, die durch die politische Rhetorik zwar überdeckt, aber nicht beseitigt werden.“27

Von solchen Resultaten der DDR-Forschung, die – beliebig ausgewählt – das Scheitern der DDR zwar nicht prognostiziert, aber einige wichtige Gründe dafür frühzeitig benannt haben, ist in Jens Hackers Buch nicht die Rede – ganz zu schweigen von vielen anderen kritischen Beiträgen. Wir können daraus ableiten, daß es unzureichend ist, die DDR-Forschung nur als Politikum wahrzunehmen. Ein fundiertes Urteil über die DDR-Forschung läßt sich nur begründen, wenn man den Standpunkt politischer Funktionalisierung und einer fraktionierten Wahrnehmung ihrer Erkenntnisleistungen und -defizite verläßt. Eine wissenschaftliche Bilanz erfordert, nicht nur ihre Mängel zu summieren , sondern vor allem ihre substantiellen Ergebnisse in einer komplementären Betrachtung zu bestimmen. Zu den wichtigen Resultaten der DDR-Forschung zählen die Leistungen von Peter Christian Ludz und Karl Wilhelm Fricke, es ist unangemessen, daraus eine falsche Alternative zu konstruieren . Es ist überdies unproduktiv: Ein Forschungsfeld, das seine Selbstdemontage undifferenziert mit Eifer betreibt, setzt damit seine Existenzberechtigung selbst aufs Spiel. Forschungskontroversen müssen substantiell geklärt werden. Gegenwärtig zeigt sich aber: „Solche Streitfragen werden in Medien und auf Tagungen zum Teil mit einer Aggressivität verhandelt, die die Forschung fast als Nebensache erscheinen läßt.“28  Daher lautet meine zweite These: Eine Bilanz der DDR-Forschung ergibt sich nicht aus der Summe ihrer (politischen) Fehleinschätzungen, sondern aus der Synthese ihrer (wissenschaftlichen) Erkenntnisleistungen. Desiderate der Forschung müssen in der Absicht bestimmt werden, künftige Forschungsschwerpunkte deutlicher zu konturieren.

 

3. Die DDR als Thema der Zeitgeschichtsforschung

Seit dem 3. Oktober 1990 ist die DDR ein abgeschlossener Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Sie ist damit zum Gegenstand der Zeitgeschichtsforschung geworden, der freilich multidisziplinäre Forschungsprojekte und interdisziplinäre Kooperation einschließt. Wenn wir die oft beschworene „innere Einheit“ erreichen wollen, ist es unabdingbar, daß wir die Geschichte der SED-Diktatur und die Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten umfassend rekonstruieren. Nachdem die geheimen Partei- und Staatsarchive geöffnet sind, wird es möglich sein, die Motive der politischen Akteure und die Genese historischer Prozesse genauer zu interpretieren, doch bleiben dabei Fragen offen, die für die Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte der Deutschen zentrale Bedeutung besitzen. Der SED-Staat ist im Wendejahr 1989/90 untergegangen, seine Machtstrukturen sind zerbrochen. Es bleibt wichtig, die Diktaturgeschichte der DDR detailliert zu untersuchen, ebenso bedeutsam ist jedoch die Gesellschaftsgeschichte der DDR; denn die Menschen, die über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren der SED-Herrschaft unterworfen waren, sind ein Teil des vereinten Deutschland geworden. Die innere Einheit der Deutschen, die Zusammenführung von zwei Teilgesellschaften, läßt sich nur verwirklichen, wenn wir gemeinsam verstehen, wie die Menschen in der DDR gelebt haben , durch welche sozialen und politischen Erfahrungen sie geprägt worden sind. Die Rekonstruktion der Gesellschaftsgeschichte der DDR ist daher eine zentrale Aufgabe einer zeitgeschichtlichen Forschung, die sich in einem interdisziplinären Sinn als „historische Sozialwissenschaft“ (Hans- Ulrich Wehler) versteht.

Das Verhältnis von Politik und Gesellschaft in der DDR kann nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Intentionen und Konzeptionen der SED-Führung betrachtet werden, bedeutsamer ist die Frage nach den Wirkungen der Politik im Hinblick auf die Gesellschaft in der DDR. Obwohl sich die sozialwissenschaftliehe DDR-Forschung seit Beginn der siebziger Jahre in zahlreichen Studien um eine soziologische Analyse der DDR-Gesellschaft bemüht hat, ist das Projekt einer Gesellschaftsgeschichte der DDR bisher über sondierende Ansätze nicht hinausgekommen. Dies hängt nicht nur mit der Komplexität dieser Problemstellung zusammen, sondern ergibt sich vor allem aus dem spezifischen Erkenntnisdilemma sozialwissenschaftlicher DDR-Forschung: Die SED hat mit ihrer Politik alles unternommen, um eine Realanalyse der Gesellschaft in der DDR zu verhindern.

Der wissenschaftliche Diskurs über die Gesellschaftsgeschichte der DDR ist nach der Wende erheblich ausgeweitet worden. Westdeutsche Sozialwissenschaftler sowie Forscher aus der ehemaligen DDR haben dieses Thema neu aufgegriffen, das zuvor weitgehend nur die Spezialisten der DDR-Forschung beschäftigt hatte. Mit dieser Entwicklung war auch ein Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung der DDR-Gesellschaft verbunden: Während das Erkenntnisinteresse in der DDR-Forschung auf den Systemwandel gerichtet war, also vor allem Stabilisierungsfaktoren, Konfliktpotentiale und Reformbedingungen des sozioökonomischen Systems in der DDR thematisiert hatte, rückte nach der Wende der Aspekt in den Vordergrund, wie der „Zusammenbruch der DDR“ umfassend erklärt werden kann. Dabei ging es nicht nur um eine Analyse der „Finalitätskrise“ der Politik29 , sondern auch um den Loyalitätsverfall in der Gesellschaft30, der sich schließlich im Herbst 1989 als“ Widerstand durch Auflehnung“31 manifestierte.

Mit einer rückwärtsgerichteten Teleologie, einer finalen Geschichtsbetrachtung, kann die gesellschaftliche Realität der untergegangenen DDR ebensowenig erfaßt werden wie die Vielfalt und Ambivalenz von Lebensgeschichten, die sich in diesem Land ereignet haben32 . Die Gesellschaftsgeschichte der DDR läßt sich nur verstehen, wenn wir unterscheiden, „zwischen dem, was man heute weiß, und dem Horizont, aus dem man damals handelte“33 , „wenn sie aus der Sicht der Betroffenen nachvollziehbar wird“34 . Ich plädiere für ein neues Forschungskonzept, das Politikgeschichte, Justizgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Ideologiegeschichte, Gesellschaftsgeschichte, Kulturgeschichte, Alltagsgeschichte, Soziologie und Sozialpsychologie miteinander verbindet und das sich als kooperative Deutschlandforschung darstellt, in der sich das Forschungspotential aus den alten und den neuen Bundesländern auch in gemeinsamer Projektarbeit zusammenfügt. Meine Abschlußthese folgt Jürgen Kocka: „Historiker haben die Aufgabe, der methodisch kontrollierten und abwägend analysierenden Erinnerung zum Durchbruch zu verhelfen und nicht dem Vergessen“35 .

 

Anmerkungen

1   Eine Ausnahme bildet der differenzierte Überblick von Gerd Meyer: Sozialistische Systeme. Theorie- und Strukturanalyse, Opladen 1979.

2   Jens Hacker : Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin 1992.

3   Ebd. , S. 14.

4   Vgl. dazu Ralf Altenhof: Die deutschen Irrtümer von 1949 bis 1989. In: Deutsche Studien, 119 (September 1993) , S. 310 – 316, bes. S. 31ff.

5   J. Hacker (Anm. 2), S. 409 – 449.

6   Carola Becker: Kläglich versagt. Was die DDR-Forscher im Westen hinderte, die Wahrheit zu erkennen . In: Die Zeit vom 24. Mai 1991, S. 74.

7   Bernhard Schäfers erwähnt neben den „verdienstvollen Bemühungen von Peter Christian Ludz … die Arbeiten von Dieter Voigt, Rüdiger Thomas und einige jugendsoziologische Studien von Walter Jaide und Barbara Hille“ . (In: Soziologen-Tag Leipzig 1991. Soziologie in Deutschland und die Transformation großer gesellschaftlicher Systeme. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Soziologie [Ostdeutschland] von Hansgünter Meyer, Berlin 1992, S. 62.) Wolfgang Zapf kommentiert eine Studie „Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der DDR“ mit der Bemerkung: „Im übrigen finde ich es beeindruckend, wie souverän Katharina Belwe … als Vertreterin der inzwischen so gescholtenen westdeutschen DDR-Forschung diese komplizierte Debatte [gemeint ist die Sozialstrukturdebatte der achtziger Jahre in der DDR R. Th.] dargestellt hat … “ (Vgl. Die DDR 1989/90 – Zusammenbruch einer Sozialstruktur? In: Hans Joas/Martin Kohli [Hrsg.]: Der Zusammenbruch der DDR, Frankfurt a.M. 1993, S.32).

8   Karl C. Thalheim: Die Aufgaben einer wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Vereinigungsforschung. In: Deutschland Archiv, 24 (1991)10, S. 1083.

9   Eckhard Jesse: Die politikwissenschaftliche DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.): Dem Zeitgeist geopfert? Die DDR in Wissenschaft , Publizistik und politischer Bildung, Mainz 1992, S. 13 – 58.

10 DetIef Pollack: Zum Stand der DDR-Forschung. In: Politische Vierteljahresschrift, 34 (1993)1, S. 119 – 139.

11 J. Hacker (Anm. 2), S. 438.

12 Vgl. Friedrich-Christian Schroeder. Die neuere Entwicklung des Strafrechts in beiden deutschen Staaten . In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 4-5/88, S. 18 – 28, hier S. 28.

13 Vgl. dazu auch meinen eigenen Beitrag: Von der DDR-Forschung zur kooperativen Deutschland-Forschung. Bilanz und Perspektive eines umstrittenen Wissenschaftsfeldes. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 21 (1990)1, S. 126 – 136. Nachdruck in diesem Band, S. 299-313.

14 Vgl. Kurt Sontheimer: Real war nur der schöne Schein. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 23. Februar 1990, S. 2; Wilhelm Bleek: Deutschlandforschung.In: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte: Handbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt a . M./New York 1993, S. 154 – 161. Siehe auch Klaus von Beyme: Die vergleichende Politikwissenschaft und die Paradigmenwechsel in der politischen Theorie.In: Politische Vierteljahresschrift , 31(1990)3, S. 457 -474.

15 Diese Forderung verfehlt die Studie von Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Der diskrete Charme des Status quo. DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik. In: Leviathan, 21 (1993)1, S. 24 – 63. Vgl. dazu kritisch Sigrid Meuschel, Auf der Suche nach der versäumten Tat – Kommentar zu Klaus Schroeders und Jochen Staadts Kritik an der bundesdeutschen DDR-Forschung. In: Leviathan 21(1993)3, S. 407 – 423.

16 Eckhard Jesse. Wie man eine Chimäre zum Leben erweckt. Hat die DDR-Forschung versagt? Kritische Bestandsaufnahme einer allzu vorsichtigen Wissenschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 1990, S. 35.

17 Karl Wilhelm Fricke: Macht und Entmachtung des Staatssicherheitsapparates in der DDR. In: Die DDR auf dem Weg zur deutschen Einheit – Probleme, Perspektiven, offene Fragen (Edition Deutschland Archiv), Köln 1990, S. 116.

18 Hier sind vor allem die Arbeiten von Hubertus Knabe und Pet er Wensierski zu erwähnen.

19 Vgl. Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel, Köln-Opladen 1968, 5. 35f.

20 Vgl. Rüdiger Thomas, Modell DDR, München 1972, S. 7.

21 So Ulrich Gill: Vom Ende der DDR zum Ende der DDR- Forschung? Zu Vergangenheit (und Zukunft) einer entwurzelten Forschungsrichtung. In: Jürgen Hartmann/Uwe Thaysen (Hrsg.) : Pluralismus und Parlamentarismus in Theorie und Praxis, Opladen 1992, 5 . 332. Auch Hartmut Jäckel betont die „Fragwürdigkeit einer systemimmanenten und allzu detailverliebten DDR-Forschung“ mit der Feststellung: „Sie gleicht einem Meßtischblatt, das jedes Gehöft und jede Bodensenke verzeichnet, aber nicht ausweist, daß die ganze Region permanent unter Wasser steht.“ (Unser schiefes DDR-Bild. Anmerkungen zu einem noch nicht verjährten publizistischen Sündenfall. In: Deutschland Archiv, 22(1990)10,S . 1559f.).

22 Symptomatisch Konrad Löw: Das Prinzip Gorhatschow. Anspruch und Wirklichkeit, 1989 Köln; für die gegenteilige Sichtweise vgl. Rüdiger Thomas: Was geschieht heute in der Sowjetunion? Gespräch mit Paulus Engelhardt vom 4. November 1987. In: Wort und Wahrheit, 29(1988)1, S. 28 – 35. Ein gutes Beispiel für einen selbstkritischen Umgang mit früheren Analysen und Fehleinschätzungen bietet Paul Lendvai: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung. Reflexionen zum Wandel in Osteuropa, Wien 1994.

23 Vgl. Eckhard Jesse: Systemvergleich: Politisches System. In: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hrsg): Handwörterbuch zur deutschen Einheit , Frankfurt a.M. 1992, S. 651.

24 Gerd Meyer: Die westdeutsche DDR- und Deutschlandforschung im Umbruch. Probleme und Perspektiven. In: Deutschland Archiv, 25(1992)3, S. 273 – 285, hier S.275.

25 „Jedoch hat die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung zu Aspekten der politischen Kultur, der Lebensweise und der gesellschaftlichen Differenzierung zumal in den achtziger Jahren vielfaltige Analysen und Materialien präsentiert, die alte und neue Trennlinien in der Gesellschaft , zwischen sozialen Gruppen und Schichten, zwischen den Generationen und nicht zuletzt im Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten dokumentiert haben.“ (Ebd., S. 279.) Ähnlich D. Pollack (Anm. 10), S. 127: „Die Forschung hat die sich verschärfenden Konfliktlinien in der DDR genau herausgearbeitet, auch wenn sie von einer weitgehenden Stabilität des Systems ausgegangen ist und mit seinem Zusammenbruch nicht gerechnet hat.“

26 Rüdiger Thomas: Die DDR. Geschichte – Politik – Gesellschaft. In: Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in der DDR. Politische Bildung, 5(1972)2, Neubearbeitung 1982,S.37f.

27 Rüdiger Thomas: Jugend im politisch-gesellschaftlichen System der DDR. In: Dietrich Zitzlaff/Siegfried George (Hrsg.) DDR-Jugend heute, Stuttgart 1986, S. 25f.

28 Ilse Spittmann: Das zweite Leben der DDR-Forschung. In: Deutschland Archiv, 27(1994)5, S. 458.

29 Vgl. Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 – 1989, Frankfurt a. M. 1992.

30 Vgl.dazu Winfried Thaa/lris Häuser/Michael Schenkel/ Gerd Meyer: Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR-Sozialismus, Tübingen 1992.

31 Sigrid Meuschel: Wandel durch Auflehnung. Thesen zum Verfall bürookratischer Herrschaft in der DDR. In: Berliner Journal für Soziologie, Sonderheft 1991, S. 15 – 27.

32 Vgl. dazu Rüdiger Thomas: Aufklärung statt Abrechnung. Anmerkungen zum Umgang mit der DDR-Geschichte. In: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte, Köln 1993, S. 263 – 276.

33 Markus Meckel in der Debatte des Deutschen Bundestages vom 12. März 1992. Zit. nach: Das Parlament vom 20. März 1992, S. 5.

34 Gerd Poppe in der Debatte des Deutschen Bundestages vom 12 . März 1992. Zit. nach: Das Parlament vom 20. März 1992, S. 4.

35  Wem gehört die DDR-Geschichte? Ein Streitgespräch zwischen Jürgen Kocka und Stefan Wolle. In: Wochenpost vom 28. Oktober 1993, S. 34.

© Rüdiger Thomas

In: Heiner Timmermann (Hrsg.): DDR-Forschung. Bilanz und Perspektiven. Berlin: Duncker & Humblot 1995, S. 13-27.

Von der DDR-Forschung zur kooperativen Deutschland-Forschung

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Von der DDR-Forschung zur kooperativen Deutschland-Forschung

Bilanz und Perspektive eines  umstrittenen Wissenschaftsfeldes

Wer den Wert einer Wissenschaft an ihrer Fähigkeit mißt, künftige Entwicklungen zuverlässig vorherzusagen, könnte leicht geneigt sein, der DDR-Forschung eine pauschale Mängelrüge zu erteilen. Es ist wahr: DDR-Forscher haben Zeitpunkt und Ausmaß der politischen Umwälzung in der DDR ebenso wenig prognostizieren können wie Politiker oder Publizisten. Daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen und nicht Objekte einer historischen Zwangsläufigkeit sind, hat uns die gewaltlose deutsche Novemberrevolution 1989 eindrucksvoll gelehrt[1]. Sie hat die Frage nach der Zukunft der Deutschen in unvorhergesehener Weise aktualisiert und damit auch die DDR-Forschung zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme herausgefordert. Dabei ist eine doppelte Aufgabe gestellt:

(1) Im Rückblick soll die Erkenntnis- und Orientierungsleistung der DDR-Forschung reflektiert werden. In diesem Zusammenhang ist sowohl nach ihren Beiträgen zum Verständnis von Geschichte und Gegenwart der DDR als auch nach ihren Desideraten zu fragen.

(2) Auf diesem Hintergrund sollen Perspektiven der DDR-Forschung im Horizont einer sich frei entwickelnden gesamtdeutschen Kommunikationskultur sondiert werden.

Die Anfänge einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands waren eng mit einer schockierenden politischen Erfahrung verbunden: der deutschen Teilung und der europäischen Spaltung. In der „Stunde Nichts“ (Heinrich Böll) war zunächst eine intellektuelle Aufbruchstimmung entstanden, die auf grenzüberschreitende geistige Kommunikation, die Suche nach einem gemeinsamen neuen Weg, zielte. „Ost und West“ hatte Alfred Kantorowicz programmatisch seine „unabhängige deutsche Monatsschrift“ betitelt, die zwischen Juli 1947 und Ende 1949 erschienen ist. Das Konzept der Zeitschrift erläuterte der Herausgeber in seinem Lizenzantrag, der gleichzeitig an die amerikanische und sowjetische Besatzungsmacht in Berlin gerichtet war: „Sie will bestehen auf dem Grundsatz, daß Deutschland, anstatt der Zankapfel zwischen den Mächten zu werden, die friedliche Brücke zwischen ihnen zu werden versuchen soll. Repräsentative Wortführer der verschiedenen weltanschaulichen Richtungen werden eine Freistatt der Meinungsäußerung in diesem Blatte finden. Die Zeitschrift will eine freimütige Diskussion der Grundprobleme unserer Zeit fördern, sie will indessen keineswegs zum Schlachtfeld parteipolitischer Polemiken werden[2].“ Hier wird exemplarisch das Programm für eine Dialogkultur formuliert, das seiner Zeit weit vorauseilte.

Die verheißungsvollen Ansätze einer gesamtdeutschen Kooperation wurden in der Eiszeit des kalten Krieges zum Teil zusätzlich durch die Schablonen einer propagandistisch verengten Konfrontationsmentalität endgültig außer Kraft gesetzt, nachdem die doppelte Staatsgründung 1949 den weltpolitischen Dualismus auf deutschem Boden institutionell fixiert hatte[3].  Die Genese der DDR-Forschung kann nicht zureichend erschlossen werden, wenn man diesen spezifischen Entstehungszusammenhang außer acht läßt.

Es waren vor allem vom Schicksal der Teilung persönlich betroffene Wissenschaftler, die bei der Analyse der DDR Pionierarbeit geleistet haben, von politischen Institutionen unterstützt, jedoch zunächst nur ansatzweise in den Forschungsbetrieb integriert. Während die Osteuropa-Forschung – vor allem durch die Fächer osteuropäische Geschichte und Slawistik – traditionell an den deutschen Universitäten vertreten war und sich auf diesem gesicherten Fundament intensivieren und disziplinär ausweiten konnte, blieb die DDR- Forschung zunächst vornehmlich ein Politikum. Im Bereich der Universitäten führte die aus den Erfahrungen des Mißbrauchs und der intellektuellen Korrumpierung der Wissenschaften im Nationalsozialismus genährte massive Skepsis gegen jede Form politiknaher Forschung zu verbreiteten Abwehrhaltungen gegen zunächst vorwiegend als Wiedervereinigungswissenschaft betriebene DDR-Studien. Das Mißtrauen galt Analysen, die sich ihrem Gegenstand aufgrund einer unzulänglichen Materiallage eher aus politischem Antrieb und mit spekulativer Orientierung zu nähern suchten als mit dem distanzierten Blick registrierender Objektivität und einem adäquaten methodischen Instrumentarium. Ein erster Schwerpunkt der SBZ- und DDR-Forschung bildete sich im Bereich der Wirtschaftswissenschaften heraus. Das „Deutsche Institut ftir Wirtschaftsforschung“ hat sich unter seinem Präsidenten Ferdinarld Friedensburg schon in den ersten Nachkriegsjahren auch mit der Wirtschaftsentwicklung in der SBZ befaßt. Am 24. März 1952 gründete die Bundesregierung den „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesministerium ftjr Gesamtdeutsche Fragen“, der einerseits die ökonomische Situation im anderen Teil Deutschlands analysieren und andererseits ein wirtschaftliches Sofortprogramm für den Fall einer Wiedervereinigung erstellen sollte[4].

Im Institut für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin unter Leitung von Otto Stammer wurde bereits Mitte der fünfziger Jahre eine sozialwissenschaftlich orientierte SBZ/DDR-Forschung begründet, die an methodische Konzepte der politischen Soziologie in den USA anknüpfte. Aus diesen Forschungsprojekten gingen die ersten bemerkenswerten Studien zum Herrschaftssystem, zur Kaderpolitik, zu Agitation und Propaganda, Erziehung, Bildung und Wissenschaft in der DDR hervor[5]. Grundlegende Darstellungen zur Rechts- und Verfassungsordnung und zur Geschichte der DDR wurden dagegen erst seit Anfang der sechziger Jahre publiziert[6].

Die frühen Beiträge zur Entwicklung einer DDR-Forschung, die hier nur summarisch rekapituliert werden können, stellen einerseits wichtige Quellen zur Analyse der Frühgeschichte der DDR dar und reflektieren andererseits eine vorherrschende politische Bewußtseinslage in der Bundesrepublik. Es lag offen zutage, daß die politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen in der DDR – der „Aufbau des Sozialismus“ – durch die sowjetische Besatzungsmacht und ihre ‚Gefolgschaftspartei SED etabliert worden waren, ohne durch die Zustimmung der Bevölkerung legitimiert zu sein. Dieser Sachverhalt wurde durch den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 überdeutlich[7]. Die DDR wurde daher in erster Linie als „ein Staat, der nicht sein darf“ (Ernst Richert) wahrgenommen[8].

Auch die DDR-Forschung suchte vor allem diesen Nachweis zu erbringen, indem sie sich auf die Analyse der politischen Bestimmungsfaktoren und Repressionsmechanismen des DDR-Systems konzentrierte und dabei überwiegend das Deutungsmuster der Totalitarismustheorie“[9]bestätigt fand: Die ursprünglich aus der Realanalyse nationalsozialistischer Herrschaft abgeleitete Totalitarismustheorie konnte die prinzipiellen Divergenzen zwischen den westlichen parlamentarischen Demokratien und den staatssozialistischen Ländern aufdecken. Darin erfüllte sie eine wichtige, bis 1989/90 wirksame Funktion. Erkenntnisgrenzen ließen sich jedoch nicht übersehen: Einerseits war die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus für einige Autoren fragwürdig geworden, wobei insbesondere auf die „antifaschistische“ Grundorientierung der sozialistischen Staaten verwiesen wurde. Andererseits vermochte die Totalitarismustheorie zwar die essentiellen Strukturmerkmale des politischen Systems zu erfassen; sie war jedoch sehr viel weniger zur Analyse von ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen geeignet[10]. Schließlich wurde ihre überwiegend abstrakt-theoretische Begründung eines argumentativ fundierten, entschiedenen Antikommunismus in dem Maße problematisiert, wie sich im Zuge der Entspannungspolitik Komponenten einer „antagonistischen Kooperation“ auszubilden begannen.

Die komplexen Wechselwirkungen zwischen politischen Machtsicherungsinteressen und sozioökonomischer Eigendynamik blieben dem ordnungstheoretischen Ansatz der Totalitarismusanalyse ebenso verschlossen wie die Prozesse sozialen Wandels unter den Bedingungen einer effizienzorientierten industriegesellschaftlichen Entwicklung, die sich unter dem Vorzeichen der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ in der DDR und anderen sozialistischen Ländern seit Mitte der sechziger Jahre verstärkt ausprägte. Damit rückte die Frage in den Vordergrund, ob die DDR als totalitäre Herrschaftsordnung oder als sozialistische Industriegesellschaft interpretiert werden sollte, womit zugleich das Problem der Vergleichbarkeit von Entwicklungsprozessen in beiden deutschen Staaten aufgeworfen wurde[11].

Der Paradigmenstreit in der DDR-Forschung, der seit Ende der sechziger Jahre fast ein Jahrzehnt lang bis in die Nähe der Polarisierung geführt worden ist[12], war nicht nur eine Kontroverse über Erklärungswert und Reichweite sozialwissenschaftlicher Theorien und Konzepte, sondern wurde nachhaltig durch die Debatten über eine Neuorientierung der Deutschlandpolitik beeinflußt. „Der staatlichen Anerkennung der DDR imJahr 1972 war schon in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ihre wissenschaftliche Anerkennung durch die sich in der Bundesrepublik etablierende DDR-Forschung vorausgegangen, ihr folgte in den siebziger Jahren die verstärkte Aufmerksamkeit der westdeutschen Medien und der Bildungsarbeit rür den anderen deutschen Staat und seine Bewohner[13].“ Auf der ersten Tagung für DDR-Forscher, die vom 19. bis 21. September 1967 in der Akademie für politische Bildung Tutzing stattfand, wandte sich Dieter Haack als Vertreter des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen gegen „Schwarz-Weiß-Malerei“ und „mangelndes Differenzierungsvermögen“ , plädierte für „das Erkennen der Eigengesetzlichkeiten der Gesellschaftsordnung in der DDR und der systemimmanenten Entwicklungsmöglichkeiten“[14]Ludwig Auerbach kritisierte in einer Forschungsbilanz die „einseitige Themenwahl“ und eine „Zentrierung“ auf die Normwissenschaften. Diese führte er vor allem auf eine „stark politisch bedingte Motivlage“ der älteren und mittleren Wissenschaftlergenerationen zurück, die nicht nur „wissenschaftliche Neugier“ befriedigen wollten, sondern „vom persönlichen Engagement her verständlich, auf politische Wirkung“ zielten. Die jüngere Forschergeneration habe aufgrund der „differenten Erlebnisweise der Teilung“ demgegenüber stärker sozialwissenschaftliehe Ansätze erprobt und der Forschung damit neue Impulse vermittelt. Es erscheint durchaus lohnend, an diese Erklärung für                        „ Verständnisschwierigkeiten“ zwischen den DDR-Forschern jener Zeit zu erinnern, weil sie manche Kontroversen erklären hilft, die die DDR-Forschung der siebziger Jahre gekennzeichnet haben. Für den Mangel an sozialwissenschaftlich orientierter DDR-Forschung führte Auerbach allerdings auch mit Recht den Nachholbedarf der Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik nach 1945 an, der diese gehindert habe, „korrigierend und relativierend in den Prozeß der wissenschaftlichen Durchdringung des Forschungsgegenstandes DDR“ einzugreifen[15].

Mitte der siebziger Jahre beauftragte das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen eine Expertengruppe, die inzwischen umfangreiche Literatur über die DDR zu sichten und damit nicht nur eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, sondern zugleich Hinweise für notwendige neue Forschungsaktivitäten zu erschließen. Die Frage nach Leistungen, Defiziten und Innovationspotentialen der DDR-Forschung bestimmte das „Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung“, das in den Jahren 1975 bis 1978 erarbeitet worden ist. Bezeichnenderweise wurde diese voluminöse Studie nicht publiziert, sondern nur als Typoskript für Forschungszwecke zugänglich gemacht. Dieser Sachverhalt macht deutlich, daß die Urteile über das erreichte Niveau der DDR-Forschung unter den Experten erheblich divergierten. Als Gesamturteil über die aktuelle Forschungslage formulierte Peter Christian Ludz, „daß gegenwärtig keine umfassenden, dem Gegenstand angemessenen, plausiblen und akzeptierbaren Konzeptionen, wie denn DDR- und vergleichende Deutschland-Forschung zu betreiben seien, in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden sind“[16]. Im Hinblick auf den wissenschaftlichen Standard der DDR-Forschung wird „eine erhebliche, zum Teil besorgniserregende methodische Rückständigkeit gegenüber zahlreichen in den einzelnen Mutterwissenschaften und ihren Subdisziplinen durchgeführten Arbeiten“ registriert[17]. Gleichzeitig wird die mangelnde empirisch-analytische Fundierung der DDR-Forschung kritisiert, woraus die pointierte Forderung nach einer „Entprovinzialisierung“[18]der DDR-Forschung abgeleitet wird. Rückblickend betrachtet, scheint eine solche ernüchternde und schonungslose Bilanz doch einigermaßen überzeichnet, wenn man bedenkt, daß mit den „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation“, die von der Bundesregierung 1971, 1972 und 1974 veröffentlicht wurden, drei voluminöse, thematisch weit gespannte vergleichende Darstellungen zur Entwicklung in beiden deutschen Staaten vorgelegt worden waren, die Kapazität und Kompetenz der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland ebenso unter Beweis gestellt haben wie die Publikation des „DDR-Handbuchs“, das 1975 erschienen ist[19]. Bei diesen ambitionierten Projekten, die auf breite öffentliche Resonanz stießen und ein intensives Interesse an ebenso differenzierter wie detaillierter Information über die DDR in der Bundesrepublik anzeigten, verdient nicht nur die forschungsorganisatorische Leistung von Peter Christian Ludz Respekt, sondern auch die multidisziplinäre Zusammenarbeit, die dabei erfolgreich praktiziert wurde.

Mit den „Materialien“ wurde ein konkretes Informationsbedürfnis befriedigt und zugleich eine neue Stufe der DDR-Forschung erreicht, die sich damit zur vergleichenden Deutschland-Forschung erweitert hatte. Durch Gegenüberstellung und Vergleich sollte ftir relevante Bereiche (insbesondere Wirtschaft, Soziale Sicherung, Bildung und Ausbildung, Bevölkerungs- und Erwerbsstruktur, Jugend) ein reales Bild über die Resultate der Politik in beiden deutschen Staaten gezeichnet werden. Außerdem wurden die Verfassungs- und Rechtsordnungen in beiden deutschen Staaten [20]sowie ihre Einbindung in die Bündnissy steme dargestellt und „eine theoretisch-systematische Interpretation der Einheit der deutschen Nation und der verschiedenen Ordnungsvorstellungen, die über Nation und Staat in beiden deutschen Gesellschaften bestehen“[21], versucht, die für die bundesdeutsche Bevölkerung auch Ergebnisse der Umfrageforschung einbezog.

Während das Totalitarismuskonzept nach Auffassung der Autoren der „Materialien“ auf den strukturellen Systemantagonismus fixiert war, orientierten sich diese in kontrastierender Abgrenzung am kritischen Rationalismus, der empirische Deskription und Werturteil strikt zu trennen sucht[22]. Indem die DDR als sozialistische Industriegesellschaft aufgefaßt wurde, konnten gleichermaßen systemspezifische Bestimmungsfaktoren wie auch systemübergreifende parallele Entwicklungsprozesse und analoge Problemlagen in beiden deutschen Gesellschaften analytisch erfaßt werden. Während es in den „Materialien“ gelungen ist, die verfügbare Datenbasis für wichtige gesellschaftliche Strukturbereiche erheblich zu erweitern, muß gleichzeitig registriert werden, daß nur ansatzweise (das heißt ohne einen entsprechenden theoretischen Bezugsrahmen) Kategorien bereitgestellt wurden, die eine differenzierte Bewertung der Entwicklungsleistungen und -defizite beider deutscher Staaten ermöglicht hätten[23]. Die Kritiker haben den „Materialien“ daher nicht ohne Grund eine positivistische Verkürzung und normative Indifferenz vorgehalten, die durch das Fehlen operationalisierbarer sozialwissenschaftlicher Forschungskonzepte und die eingeschränkte Vergleichbarkeit statistischer Daten für beide deutsche Staaten erklärbar ist.

Die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung, zu der Peter Christian Ludz entscheidende Beiträge geleistet hat[24], hat zwar seit Beginn der siebziger Jahre die konkreten Informa tionen über die Entwicklung wichtiger gesellschaftlicher Bereiche erheblich erweitert, doch blieb sie einem spezifischen Erkenntnisdilemma verhaftet: Eine restriktive Publikationsp litik in der DDR, die durch Erfolgspropaganda und die Geheimhaltung kritischer Forschungsergebnisse bestimmt war, behinderte die umfassende Ermittlung sozialer Tatsachen und begünstigte die Neigung zu spekulativen Deutungen. Aus diesem Grund waren die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik in der DDR-Forschung mitunter fließend. Einerseits zeigte sich ein Hang zum politischen Essentialismus, andererseits eine Neigung zur politischen Urteilsenthaltung, die als Gegengewicht zur postulierten Parteilichkeit der Wissenschaft in den sozialistischen Staaten angesehen wurde.

In bilanzierenden Überblicken[25] wird häufig ein unterschiedliches Entwicklungsniveau für einzelne Gebiete der DDR-Forschung konstatiert. Weit verbreitet ist dabei die Einschät zung, daß Studien zur DDR-Geschichte, zum politischen System und zur Rechtsordnung, zur Wirtschaft und zum Bildungssystem einen höheren Standard erreicht haben als sozialwissenschaftliche Beiträge zur DDR-Gesellschaft. Diese globale Einschätzung bedarf freilich der Relativierung: Die Darstellung politischer und ökonomischer Strukturen, ordnungspolitischer Konzepte, normativer Regelungen und makrostatistischer Daten (mit Einschränkungen in bezug auf Umfang und Validität der DDR-Statistik) war in den erwähnten Disziplinen erheblich einfacher zu leisten als eine wissenschaftlich zuverlässige Rekonstruktion der DDR-Gesellschaft. Der Mangel an gesicherten empirischen Daten erschwerte unübersehbar die Bearbeitung wichtiger Forschungsfelder (etwa Sozialstruktur und sozialer Wandel, materielle und soziokulturelle Lebensverhältnisse, Einstellungen und Verhaltensmuster). Der in diesem Heft der ZParl vonGero Neugebauer vorgestellte „Sozialreport 1990“ vom Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR ist diesbezüglich nur ein Anfang auf der Basis nunmehr freier zugänglicher Informationen.

Außerdem läßt sich nicht übersehen, daß auch die politikwissenschaftliche DDR-Forschung[26] empfindliche Lücken aufweist- Eine normativ-deskriptive oder struktur-funktionale Politikanalyse hat Wahrnehmungsblockaden gegenüber autonomen Entwicklungsprozessen in der DDR-Gesellschaft begünstigt. Sie hat den Repressionscharakter des Systems zwar verdeutlichen können, dabei jedoch die gesellschaftliche Resistenz der DDR-Bürger gegenüber dem Gestaltungsanspruch realsozialistischer Politik weitgehend außer acht gelassen. Die DDR wurde gewissermaßen als politische Inszenierung aufgefaßt, bei der die SED – zwar ohne Ermächtigung – Regie fuhrt, die Bevölkerung aber lediglich als ohnmächtige Komparserie beim schockierenden Staatstheater mitwirkt. Dadurch wurde das Spannungsverhältnis von Politik und Gesellschaft im real existierenden Sozialismus als Forschungsproblem vernachlässigt. Doch dürfen Strukturmerkmale und Programmatik des politischen Systems, der Sozialismus als Staatsmacht, nicht mit seinen tatsächlichen (gewollten und ungewollten) Wirkungen, der realen Gesellschaftsverfassung, gleichgesetzt werden. Durch die disziplinäre Fragmentierung der DDR-Forschung wurde lange Zeit verkannt, in welchem Ausmaß Politikgeschichte und Gesellschaftsgeschichte in der DDR auseinandergefallen waren[27].

Die wirtschaftswissenschaftliche DDR-Forschung[28] hat zwar zahlreiche fundierte Analysen zur Funktionsweise des Wirtschaftssystems und zur Entwicklung der Volkswirtschaft vorgelegt, doch fehlen vergleichbare Studien zu betriebswirtschaftlichen Fragestellungen, eine umfassende Darstellung zur Wirtschaftsgeschichte sowie detaillierte Analysen zur Umweltpolitik[29]. Diese Hinweise sollen andeuten, daß die Resultate der DDR-Forschung in einem erheblichen Umfang durch die Forschungsbedingungen konditioniert waren, die sich flir einzelne Disziplinen sehr unterschiedlich darstellten. Die Quellen- und Materiallage erwies sich flir die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung als besonders prekär, weil die publizierten statistischen Daten wenig aussagekräftig waren und keine eigenen empirischen Untersuchungen in der DDR durchgeführt werden konnten. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage hat die sozialwissenschaftliche DDR- Forschung seit Mitte der sechzigerJahre zahlreiche wichtige Beiträge zur Entwicklung der DDR-Gesellschaft vorgelegt[30], die das Datendilemma mit Einfallsreichtum – insbesondere durch intensive Nutzung der Sekundär- und Dokumentenanalyse – überbrückt haben. So wurde die Dokumentenanalyse (Inhaltsanalyse) beispielsweise für soziologische Interpretationen der DDR-Literatur[31] und wissenschaftsgeschichtliche Darstellungen[32] fruchtbar gemacht, die DDR-spezifische Mentalitätsstrukturen und Konfliktmuster aufgedeckt haben, während die zahlreich vorhandenen Studien zur Entwicklung unterschiedlicher sozialer Gruppen (insbesondere Jugend, Frauen)[33] vor allem auf einer Sekundäranalyse (selektiv publizierter) soziologischer Untersuchungen aus der DDR basierten.

Der Zugewinn an wissenschaftlicher Qualität, den die DDR-Forschung seit den siebziger Jahren in breitem Umfang erreicht hat, vermochte freilich nicht, ihre politischen Konditionierungen aufzuheben. Sie ist „eine am politischen Nutzwert im weitesten Sinne orientierte Wissenschaft“[34] geblieben und daher immer wieder auch zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden. Aus der DDR wurde ihr häufig genug vorgeworfen, die Liquidation des real existierenden Sozialismus betreiben zu wollen[35]. In der Bundesrepublik wurde mitunter das Gegenteil behauptet und der Verdacht beschönigender Tendenzen geäußert[36]. Zu solchen verwirrenden Einschätzungen mag die DDR-Forschung selbst beigetragen haben, die zeitweilig den Eindruck erweckt hat, „daß die Linke nicht weiß, was die Rechte tut“[37]. Doch greift dieser Hinweis zu kurz: Die Relevanz der DDR-Forschung kann nicht allein durch politische Verwertungsinteressen bestimmt werden. Sie muß sich in erster Linie an ihren originären Erkenntnisleistungen messen lassen. Diese erweisen sich in der Ermittlung von politischen, ökonomischen und sozialen Tatbeständen und in der Analyse von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, die ihr Eigengewicht gegenüber dem standortgebundenen Werturteil des Forschers besitzen. Rückblickend wird man konstatieren können, daß erst die Pluralität von Forschungskonzepten und leitenden Fragestellungen sowie die Vielfalt wissenschaftlicher Urteilspositionen die DDR-Forschung in die Lage versetzt haben, ihren komplexen Gegenstand differenziert zu erfassen[38].

Heute hat es den Anschein, als ob die DDR-Forschung an ihr Ende gekommen ist, weil sie im deutschen Einigungsprozeß ihren Gegenstand zu verlieren beginnt. Es gibt freilich gewichtige Argumente, einer solchen Einschätzung zu widersprechen, denn die DDR- Forschung hat ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Die Existenz der DDR umfaßt einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren, sie bleibt ein Bestandteil deutscher Geschichte, der erst jetzt umfassend, unvoreingenommen und ohne politische Restriktionen erforscht werden kann.

Die Historiker erhalten erst jetzt einen ungehinderten Zugang zu geschichtlichen Quellen, die  Sozialwissenschaftler können eigene Feldforschung betreiben. Schließlich eröffnen sich breite Möglichkeiten einer kooperativen Forschung mit jenen qualifizierten Wissenschaft- lern in der DDR, die unter erheblichen Schwierigkeiten Konfliktlagen und Krisensymptome in der DDR-Gesellschaft sondiert haben, wobei manche Projekte blockiert wurden und zahlreiche Forschungsergebnisse in den Schubladen verschlossen werden mußten. Die DDR-Forschung war bisher in einer eigentümlichen Verschränkung auf die Wissenschaft in der DDR bezogen. Sie verstand sich einerseits als deren notwendiges Korrektiv und war doch zugleich auf diese angewiesen. Indem sie die affirmative und apologetische Funktion der Wissenschaft in der DDR kritisierte, profilierte sie sich als realistische Alternative, die dem Gebot der Parteilichkeit, das die „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ (Robert Havemann) überwachte, nicht unterworfen war. Soweit sich DDR-Forschung aber nicht nur als (deskriptiv-kritische) Normwissenschaft verstand, sondern empirisch-analytisch orientiert war, sah sie sich genötigt, die publizierten Forschungsergebnisse aus der DDR – zwar kritisch interpretiert – zu nutzen, weil sie keine Möglichkeit zur eigene Recherchen besaß.

Es scheint angebracht, diese ungewöhnliche Form einer Symbiose wider Willen ins Bewußtsein zu heben, weil dadurch deutlich wird, wie naheliegend der Gedanke einer künftigen Kooperation aus Überzeugung[39] ist, nachdem in der DDR-Wissenschaft die notwendige selbstkritische Bestandsaufnahme erfolgt ist und sich dort die Geister geschieden haben. Das Plädoyer für eine kooperative Deutschland-Forschung setzt voraus, daß zunächst nüchtern Bilanz gezogen wird. Dabei müssen die Konsequenzen benannt werden, die sich aus der Instrumentalisierung der Wissenschaft in der DDR ergeben haben. Der Schriftsteller Christoph Hein hat die verhängnisvollen Resultate der „fünften Grundrechenart“ in deutlicher Weise offengelegt: „In einer Geschichtsbetrachtung, die dieser Grundrechenart huldigt, wird mit Auslassungen, Vernachlässigungen und scholastischen Rösselsprüngen gearbeitet, es wird verschwiegen und geglättet, um aus dem Labyrinth der Geschichte möglichst fleckenlos und schnell zu jenem Ausgang in die Gegenwart zu gelangen, der dem gewünschten Selbstverständnis am nächsten kommt.“ Einer Wissenschaft mit „weißen Flecken“ droht freilich unvermeidlich Einsturzgefahr: „Denn ein mit gewichtigen Lücken entstandenes Gebäude existiert nicht wirklich, mit dem ersten Wind wird es zusammenbrechen[40].“ Diese Einsicht ist in den letzten Monaten auf dramatische Weise bestätigt und von vielen DDR-Wissenschaftlern schmerzlich empfunden worden[41]. Doch sollten wir nicht in den Fehler verfallen, bei einem Neubau auf wertvolle Bruchstücke zu verzichten, die wir jetzt unvoreingenommen und gemeinsam sortieren müssen. Erst jetzt scheint die Zeit gekommen, jene „freimütige Diskussion über Grundprobleme“ zu führen, von der Alfred Kantorowicz bereits 1947 gesprochen hatte. Dabei stehen die Fragen nach einer historischen Ortsbestimmung der Deutschen[42] und ihren Optionen fUr eine gemeinsame Zukunft im Vordergrund. In diesem Prozeß muß die kooperative Deutschland-Forschung ihren Beitrag leisten – kritisch, illusionsfrei und konkret. In diese neue wissenschaftliche Kommunikationskultur sollten alle Disziplinen und möglichst viele Wissenschaftler eingebunden sein. Die kooperative Deutschland-Forschung ist die Fortsetzung der DDR-Forschung im Horizont des deutschen Einigungsprozesses.

Rüdiger Thomas

Anmerkungen


[1]Vgl. dazu Christoph Links/Hannes Bahrmann , Wir sind das Volk. Die DDR im Aufbruch – Eine Chronik, Berlin und Weimar/Wuppertal 1990; Charles Schüddekopf (Hrsg.), „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Reinbek 1990; Hubertus Knabe (Hrsg.), Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes, Reinbek 1989; Marlies Menge, „Ohne uns läuft nichts mehr“. Die Revolution in der DDR, Stuttgart 1990; Gert-Joachim Glaeßner, Vom „realen Sozialismus“ zur Selbstbestimmung. Ursachen und Konsequenzen der Systemkrise in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1- 2/90, S. 3ff.

[2] Alfred Kantorowicz, Deutsches Tagebuch. Erster Teil, München 1959, S. 292f.

[3]  Für diesen Prozeß bieten die Kontakte der Historiker aus beiden deutschen Staaten in den fünfziger Jahren und der Abbruch ihrer Beziehungen auf dem 24. Historikertag in Trier 1958 ein anschauliches Beispiel. Vgl. dazu Rüdiger Thomas, Systemantagonismus und Dialogkultur, in: Clemens Burrichter/Eckart Förtsch (Hrsg.), Konflikt – Konkurrenz – Kooperation. Gedenkschrift für Hans Lades, Erlangen 1989, S. 136ff.

[4] Vgl. dazu insbesondere Karl C. Thalheim, Zur Entwicklung und Gegenwartslage der wirtschaftswissenschaftlichen DDR-Forschung. in: Gottfried Zieger (Hrsg.), Recht, Wirtschaft, Politik im geteilten Deutschland. Festschrift für Siegfried Mampel, Köln 1983, S. 251 ff. – Aus der Arbeit des Forschungsbeirats fü Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands sind neben den fünf „Tätigkeitsberichten“ vor allem zu nennen: Bruno Gleitze, Ostdeutsche Wirtschaft, Berlin 1956; Karl C. Thalheim, Die Wirtschaft der Sowjetzone zwischen Krise und Umbau, Berlin 1964; Bruno Gleitze, Die Industrie der Sowjetzone unter dem gescheiterten Siebenjahrplan, Berlin 1964. – Der Forschungsbeirat wurde 1975 von der Bundesregierung aufgelöst.

[5] Vgl. Max Gustav Lange, Totalitäre Erziehung, Frankfurt/M . 1954: Carola Stern, Porträt einer bolschewistischen Partei. Entwicklung, Funktion und Situation der SED), Köln 1957; Ernst Richert, Macht ohne Mandat, Köln und Opladcn 1958. Die erste frühe fundierte „streng sachlich“ (Vorwort zur deutschen Ausgabe) orientierte Gesamtdartsellung stammt bezeichnenderweise aus Großbritannien: J. Peter Nettl, Die deutsche Sowjetzone bis heute. Politik/Wirtschaft/Gesellschaft, Frankfurt/M. 1953.

[6] Vgl. Siegfried Mampel, Die volksdemokratische Ordnung in Mitteldeutschland. Frankfurt/M. und Berlin 1963; Dietrich  Müller-Römer, Die Grundrechte in Mttteldeutschland, Köln 1966; Martin Jänicke, Der Dritte Weg. Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1953, Köln 1964; die erste umfassende Darstellung zur DDR-Geschichte stammt von Hermann Weber , Von der SBZ zur DDR 1945- 1968, Hannover 1968.

[7] Die beste Darstellung ist noch immer Arnulf Baring, Der 17.Juni 1953. Neuausg. Stuttgart 1983; vgl. auch Ilse Spittmann/Karl Wilhelm Fricke (Hrsg.). 17.Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, Köln 1982.

[8]  Vgl. Ernst Richert, Das zweite Deutschland. Ein Staat, der nicht sein darf, Gütersloh 1964.

[9]  Grundlegend Carl Joachim Friedrich/Zbigniew Brzezinski, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957. Als Überblick Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.). Wege der Totalitarismusforsehung. Darmstadt 1968; Manfred Funke (Hrsg.). Totalitarismus, Düsseldorf 1978. Zur Entwicklung einer dynamischen Totalitarismustheorie vgl. Peter Graf Kielmansegg, Krise der Totalitarismustheorie? in: Zeitschrift für Politik (1974) H. 4, S. 311; sowie vor allem Uwe Backes/Eckhart Jesse,  Totalitarismus – Extremismus – Terrorismus, 2. Aufl., Opladen 1985.

[10] Vgl. Peter Christian Ludz,,Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft, in:ders.(Hrsg.), Studien und Materialien zur Soziologie der DDR. Sonderheft 8, Köln und Opladen 1964, S. 11 ff.; Volker Gransow, Konzeptionelle Wandlungen der Kommunismusforschung. Vom Totalitarismus zur Immanenz, Frankfurt/M. und New York 1980. Zur Position von Ludz insbesondere Peter Dietrich, Geheimbund oder totalitäre Parker, in: Ideologie und gesellschaftliche Entwicklung in der DDR. 18.Tagung zur DDR-Forschung, Edition Deutschland Archiv 1985. S. 133- 142.

[11] Zur Interpretation der DDR als (sozialistische) Industriegesellschaft vgl. Peter Christian Ludz, Die soziologische Analyse der DDR-Gesellschaft, in: Rüdiger Thomas (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, München 1971, S. 11ff.; vgl. auch im Kontext der internationalen Kommunismusforschung David Lane, The Socialist Industrial State, London 1976; Gert-Joachim Glaeßner, Sozialistische Systeme. Einführung in die Kommunismus- und DDR-Forschung, Opladen 1982.

[12] Das Deutschland Archiv hat diese Kontroverse in zahlreichen Beiträgen dokumentiert, die insbesondere 1973 (H. 5 – 10) und 1975/76 (H. 6 -10) publiziert worden sind. Als Ausgangspunkt ist zu nennen Peter Ch. Ludz, Aktuelle oder strukturelle Schwächen der DDR-Forschung, in: Deutschland Archiv 1. Jg. (1968) H. 3. S. 255ff. Eine Bilanz und Deutung versucht Rüdiger Thomas, Reflexionen zur DDR – und vergleichenden Deutschland- Forschung, in: Deutschland Archiv 20. Jg. (1987) H . 10, S. 1062f.

[13] Wilhem Bleek, Das eine und das andere Deutschland, in: Deutschland Archiv 22.Jg. (1989) H. 4, S. 379.

[14]Dieter Haack , Gesamtdeutsche Politik braucht die DDR-Forschung, in: SBZ-Archiv 19. Jg. (1967) H. 20, S. 319 u. S. 321.

[15]Ludwig Auerbach, DDR-Forschung im Spannungsfeld der Politik. in: SBZ-Archiv 18.Jg. (1967) H.20, S. 325f.

[16]Gutachten zum Stand der DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung, erstattet vom Arbeitskreis für vergleichende Deutschland-Forschung unter Vorsitz von Peter Ch. Ludz im März 1978 (als Typoskript hrsg. v. Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen), S. 38.

[17]Ebd., S. 74.

[18] Ebd., S. 79.

[19] DDR-Handbuch. Wissenschaftliche Leitung: Peter ChristianLudz unter MitwirkungvonJohannesKuppe,Köln 1975. Zuletzt DDR-Handbuch. Wissenschaftliche Leitung: Hartmut Zimmermann unter Mitarbeit von Horst Ulrich und Michael Fehlauer, 3. Aufl., Köln 1985.

[20] Dieser Themenkomplex bildete den Inhalt der „Materialien zur Lage der Nation 1972″. Die Darstellung ist „geprägt von der beschreibenden Erfassung überwiegend formaler Strukturen der Rechtsordnungen in beiden deutschen Staaten“. Der weitgehende Verzicht auf einen „Vergleich von Rechtsordnung und Rechtswirklichkeit“ hat zur Folge. daß das angestrebte „Verständnis von Politik, Staat und Gesellschaft“ kaum erreicht wird, da die Mechanismen der Machtausübung in der DDR, die vor allem durch die politische Hegemonie der SED bestimmt    waren, auf diese Weise nicht zureichend erfaßt werden    konnten. Alle Zitate aus: Bericht der Bundesregierung und Materialien zur Lage der Nation 1972, hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1972. S. 19.)

[21] Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974, hrsg. v. Bundesministerium ftir innerdeutsche Beziehungen, Bonn und Opladen 1974. S. XXI.

[22] Vgl. Bericht der Bundesregierung und Materialien zur Lage der Nation, hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1971, S. 34.

[23] Auf die Grenzen vergleichender quantitativer Forschung kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie ergeben sich etwa aus dem Hinweis, daß die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in der Bundesrepublik Deutschland (Bruttosozialprodukt) und in der DDR (Nationaleinkommen) unterschiedlichen Berechnungsmethoden folgt. Ein anderes Beispiel soll illustrieren. daß es problematisch ist, Zahlen für qualitative Schlußfolgerungen zu nutzen, ohne Prüfkriterien zu entwickeln: So kann offenkundig aus dem Organisationsgrad der Bürger in Parteien nicht ohne weiteres auf Intensität und Qualität politischer Partizipation geschlossen werden, sonst hätte die realsozialistische DDR diesbezüglich weltweit eine führende Stellung eingenommen. Die Entwicklung eines Indikatorensystems und einer darauf basierenden Sozialberichterstattung hätten den zwischendeutschen Vergleich auf eine neue Stufe heben können, doch stieß dieser Ansatz, der Anfang der achtziger Jahre sondiert wurde, angesichts der restriktiven Forschungspraxis in der DDR und der Geheimhaltung sozialstatistischer Daten auf unüberwindliche Grenzen. Vgl. dazu den Forschungsbericht von Rüdiger Thomas, Sozialindikatoren als Evaluationskriterien für systemvergleichende Analysen (untersucht am Beispiel der beiden deutschen Staaten), Köln 1982 (Typoskript). Siehe auch den interessanten Beitrag von Marie-Louise von Bergmann-Winberg, Wohlfahrt, Lebensniveau und Lebensweise im deutsch-deutschen Vergleich (Publications of the Swedish School of Economics Nr. 38), Helsingfors 1987.

[24] Grundlegend Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Soziologie und Ideologie der Parteitührung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Opladen 1968. Eine Bilanz bei Rüdiger Thomas, Reflexionen zur DDR- und vergleichenden Deutschland-Forschung, a. a. 0. (Anm. 12), S. 1063ff.

 [25] Siehe vor allem die umfassende Übersicht bei Hermann Weber, Die DDR 1945-1986 (Oldenbourg Grundriß der Geschichte 20), München 1988, S. 105 ff.

 [26] Vgl. insbesondere Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Text und Kommentar, 2.Aufl. Berlin1982; Georg Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. München1979; Gero Neugebauer, Partei und Staatsapparat in der DDR. Aspekte der 1nstrumentalisierung des Staatsapparats durch die SED. Opladen 1978; Gert-Joachim Glaeßner, Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik in der DDR am Beispiel des Staatsapparates, Opladen 1977; Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945- 1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979; ders.., Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung – Strukturen – Aktionsfelder, Köln 1982 (3. akt. Aufl. 1989). Zum parlamentarischen System: Joachim Lapp, Die Volkskammer der DDR, Opladen 1975; Heinrich Oberreuter, Sozialistischer Parlamentarismus? Idee, Norm und Realität sozialistischer Vertretungskörperschaften in vergleichender Sicht, in: Jürgen Weber (Hrsg.), DDR – Bundesrepublik Deutschland, München 1980, S. 213ff.

 [27] Auch Günter Gaus hat mit seinem oft zitierten Erklärungsansatz von der „Nischengesellschaft“, die er als Ort eines von der Politik entlastenden Rückzugs in die Privatheit interpretierte, das gesellschaftskritische Potential der DDR-Gesellschaft unterschätzt. Der Aufbruch zu ziviler Mündigkeit wurde zwar zunächst nur von einzelnen Intellektuellen vollzogen, doch reichen die Ansätze zur Entwicklung einer sozialen Bewegung in der DDR bis in die Mitte der siebziger Jahre zurück, als sich unter dem Schutz der evangelischen Kirche die ersten Ökologie-, Friedens- und Dritte-Welt-Gruppen bildeten. Vgl. dazu Peter Wensierski/Wolfgang Büscher (Hrsg.), Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR, Hattingen 1981; Wolfgag Büscher u. a. , Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978- 1982, Hattingen 1982. – Auch die Entstehung einer autonomen Kultur, die sich von der „Vormundschaft eines übergeordneten Sinns“ (Elke Erb) befreite, gewinnt seit Ende der siebziger Jahre wachsende Bedeutung fur eine kritische Sensibilität in der DDR-Gesellschaft. Vgl. dazu Rüdiger Thomas, Kulturpolitik und Künstlerbewußtsein seit dem VIII. Parteitag der SED, in: Gert-Joachim Glaeßner (Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft, Opladen 1988, S. 589 ff.; zur Entwicklung am Ende der achtziger Jahre ders., Neues Denken und alte Gewohnheiten. Über den Strukturwandel der Öffentlichkeit in der DDR, in: Niemandsland 2.Jg (1988) H. 6, S. 60ff. – Eine Gesamtdarstellung zur Gesellschaftsgeschichte der DDR wurde bisher nicht vorgelegt, womit ein entscheidendes Desiderat der DDR-Forschung benannt ist. Ansätze enthalten die beiden Bände von Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. DeutscheGeschichte 1945- 1955, Bonn und Göttingen1983; ders.,Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955- 1970, Bonn und Göttingen 1988 – Ein wichtiger Beitrag zur Kulturgeschichte ist Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß, Edition Deutschland Archiv, Köln 1982. Zur Literaturentwicklung Woifgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR 1945- 1988. Erw. Ausg. Frankfurt/M. 1989; zur bildenden Kunst Karin Thomas, Zweimal deutsche Kunst nach 1945. 40 Jahre Nähe und Ferne, Köln 1985.

[28 Vgl. dazu Karl C. Thalheim, Die wirtschaftswissenschaftliche DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutschland Archiv 20.Jg. (1987) H.10, S.1072 ff. Als Gesamtdarstellung sei vor allem verwiesen auf: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.), Handbuch DDR-Wirtschaft, 4. Aufl. Reinbek 1984. (Die 1. Aufl. erschien 1971 unter dem Titel „DDR-Wirtschaft – eine Bestandsaufnahme“.) Neuerdings bietet einen umfassenden Überblick: Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Mai 1987.

[29] Ansätze bietet der Sammelband: Redaktion Deutschland Archiv (Hrsg.), Umweltprobleme und Umweltbewußtsein in der DDR, Köln 1985; quantitative Angaben – soweit zugänglich – enthalten die Materialien 1987. a. a. 0. (Anm. 28), S. 301ff.

[30] Grundlegend Studien und Materialien zur Soziologie der DDR, a. a. 0. (Anm. 10); einen neuen Gesamtüberblick bieten Dieter Voigt/Werner Voss/Sabine Meck, Sozialstruktur der DDR. Eine Einführung, Darmstadt 1987.

[31] Vgl. insbesondere Irma Hanke, Alltag und Politik. Zur politischen Kultur einer unpolitischen Gesellschaft. Eine Untersuchung zur erzählenden Gegenwartsliteratur in der DDR in den 70erJahren, Opladen 1987.

[32]32 Vgl. Hans Lades/Clemens Burrichter (Hrsg.) , Produktivkraft Wissenschaft. Sozialistische Sozialwissenschaften in der DDR, Hamburg 1971; Rüdiger Thomas (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, München 1972; neuerdings Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in der DDR. Bd. I, Berlin 1988.

[33] Vgl. Walter Jaide/Barbara Hille (Hrsg.) ,Jugend im doppelten Deutschland, Opladen 1977; Rüdiger Thomas, Jugend im politisch-gesellschaftlichen System der DDR, in: Dietrich Zitzlaff/SiegfriedGeorge (Hrsg.), DDR-Jugend heute. Zustandsbeschreibungen. Forschungsbefunde. Bildungsanregungen, Stuttgart 1986, S. 1ff.; Barbara Hille, Familie und Sozialisation in der DDR, Opladen 1985; Gisela Helwig, Frau und Familie. Bundesrepublik Deutschland – DDR, Köln 1987.

[34] Wolfgang Bergsdorf, Eine dritte Phase der DDR-Forschung, in: Deutschland Archiv 6.Jg. (1973) H. 6, S. 592.

[35] Vgl. etwa Gerhard Lozek, Illusionen und Tatsachen, Berlin (Ost) 1980; zuletzt mit Ansätzen zu einer differenzierteren Sicht Heinz Heilzer/Gerhard Lozek, Kritische Bemerkungen zur bundesdeutschen DDR-Forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 34/89, S. 18ff.

[36]Vgl. Eberhard Schütt-Wetschky, Vergleich Bundesrepublik Deutschland – Deutsche Demokratische Republik. Zur Kritik der systemimmanenten Methode, in: Deutschland Archiv 21. Jg. (1988) H.7, S. 754ff.

[37] Hermann Rudolph, Keine Länderforschung neben anderen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11. 11. 1976.

[38] Wichtige neue Beispiele fUr eine multidisziplinäre Kooperation bei der Analyse der DDR sind: Gert-Joachim Glaeßner (Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker, Opladen 1988; einen vergleichenden Ansatz hat Wemer Weidenfeld/Hartmut Zimmermann(Hrsg.), Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949- 1989, Bonn und München 1989.

 [39] Ansätze für eine begrenzte Kommunikation zwischen Wissenschaftlern aus beiden deutschen Staaten haben zuerst die Historiker, dann auch die Ökonomen und Soziologen in den letzten Jahren zu ersten gemeinsamen Tagungen ausbauen können. Vgl. dazu Susanne Miller/Malte Ristau (Hrsg.), Erben deutscher Geschichte. DDR – BRD: Protokolle einer historischen Begegnung, Reinbek 1988; Heiner Timmermann (Hrsg.), Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR, Saarbrücken 1988. Auf die damit verbundenen Probleme verweist Dietrich Staritz, DDR-Geschichte im deutsch-deutschen Wissenschaftsdialog, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 34/89, S. 10ff.; vgl. auch Clemens Burrichter, Wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten, in: ebd., S. 3ff.

[40] Christoph Hein, Die fünfte Grundrechenart. Rede zur Geschichte im Ostberliner Schriftstellerverband am 14. September, in: Die Zeit v. 6. 10. 1989, S. 65. Vgl. dazu Hermann Weber, „Weiße Flecken“ in der DDR-Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 11/90, S. 3ff.

[41 Vgl. Walter Friedrich, Nicht Diener wollen wir sein, sondern Partner der Politik, in: Neues Deutschland v. 18./19. 11. 1989. Der 5. Soziologie-Kongreß der DDR, der vom 6. bis 8. 2. 1990 unter dem Titel „Soziologie im Prozeß der Erneuerung“ in Berlin stattfand, war die erste wissenschaftliche Großveranstaltung nach der Novemberrevolution 1989. Der Gesamteindruck blieb auf symptomatische Weise zwiespältig: Einerseits wurde das Bild über die Forschungspotentiale der DDR-Soziologie differenziert und erweitert, andererseits wurden die Unsicherheiten im Prozeß der Neuorientierung deutlich. Vgl. dazu Walter Süß, „Die besungene Zukunft ist beendet“, in : Das Parlament v. 16. 2. 1990, S. 9. – Die ersten Beispiele für eine konkrete Wissenschaftskooperation nach der Wende liefert bezeichnenderweise die Umfrage- und Wahlforschung. Das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR und das Zentralinstitut für Jugendforschung (Leipzig) haben bei der Konzeption und Auswertung verschiedener Umfragen zu politischen Einstellungen der DDR-Bürger und zum Wählerverhalten mit bundesdeutschen Partnern (wie Emnid, Forschungsgruppe Wahlen) kooperiert. Eine wichtige Form der Zusammenarbeit dürfte künftig auch die Einrichtung von Gastprofessuren sein.

[42] Vgl. dazu vor allem Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, Bonn und München 1983; ders. (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Materialien zur Spurensuche einer Nation, Köln 1987; Karl-Rudolf Korte, Der Standort der Deutschen, Köln 1990.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 21. Jg., H. 1, Mai 1990, S.126-136.

Geschichte als Drama

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Geschichte als Drama

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

Friedrich Dieckmann: Deutsche Daten oder Der lange Weg zum Frieden, Göttingen: Wallstein Verlag 2009,190 S, 19,90

Friedrich Dieckmann zählte in der DDR zu den selbstbewussten Persönlichkeiten, die durch den von Karl Mannheim geprägten Begriff der „freischwebenden Intelligenz“ treffend charakterisiert sind. Der 1937 in Landsberg an der Warthe (auch dem Geburtsort Christa Wolfs) geborene Sohn des späteren Volkskammerpräsidenten, Johannes Dieckmann, studierte in Leipzig Germanistik, Philosophie und Physik und machte sich schon in den 1960er Jahren als freier Schriftsteller und Essayist einen Namen. Nur kurze Zeit wurde dieses unabhängige Dasein, das durch viele Reisen in wichtige westliche Kulturzentren wesentlich inspiriert und privilegiert war, durch eine Tätigkeit als Dramaturg am Berliner Ensemble (1972-1976) unterbrochen. Bis 1989 hat Dieckmann seine Publikationen vor allem musikgeschichtlichen und kulturhistorischen Themen gewidmet: Wagner, Verdi, Mozart und das Theater standen dabei im Vordergrund eines Werkes, für das ihm u. a. 1983 der Internationale Kritikerpreis der Stadt Venedig verliehen wurde.

Der konzise konzipierte Sammelband mit sieben Beiträgen zur deutschen Nachkrieggeschichte, den der durch seine literarischen und kulturhistorischen Editionen renommierte Wallstein Verlag im Herbst 2009 publiziert hat, bietet vielfältige Denkanstöße, die Bedeutung des Jubiläumsdoppeljahres 1989/90 in einem weit gespannten historischen Horizont zu reflektieren. Im letzten Jahrzehnt sind zahlreiche umfassende Darstellungen zu diesem Themenkreis erschienen, aus unterschiedlichen Perspektiven konzipiert. Doch die gewichtigen Kompendien von Heinrich August Winklers „Der lange Weg nach Westen“ (Band II) bis zu Hans-Ulrich Wehlers abschließendem 5. Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ lassen die in Dieckmanns Vorwort eingangs gestellte Frage nicht obsolet werden: „Fehlt es den staatlich wiedervereinigten Deutschen für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg immer noch an tieferem national-geschichtlichem Interesse?“(7) Weiter konstatiert Dieckmann: „Was, mit rühmlichen Ausnahmen, zu kurz kam, war ein historischer Blick, der die Situation und die Erfahrungen der Deutschen in zwei aus Besatzungszonen hervorgegangenen Republiken als kontrastierende und interferierende Ergebnisse einer Situation begriff, die in der Suspendierung des deutschen Ge-samtstaats durch agonale Siegermächte bestanden hatte.“ (8)

Wie ein solches Vorhaben gelingen kann, führt Dieckmann in sieben zeithistorischen Kabinettstücken vor. Sechs der im Zeit-raum von 1994 bis 2006 entstandenen Beiträge, die hier in vielfach ergänzter Fassung neu zugänglich werden, spannen den Bogen historischer Reflexion von der „Zeit-Zone des Übergangs“ am Ende des Zweiten Weltkriegs über die doppelte Staatsgründung, den Aufstand vom 17. Juni 1953 bis zur Selbstbefreiung der Gesellschaft im ostdeutschen Herbst von 1989. Wenn Dieckmann seinen Überblick über die Entwicklung der DDR im Spannungsfeld der Ost-West-Politik mit dem Titel „Geschichte als Drama“ versieht, verbirgt sich darin auch ein Hinweis auf seine Darstellungskunst, historische Abläufe in einem spannungsvollen Gefüge zu inszenieren, sodass die Lektüre auch dort Vergnügen bereitet, wo man seine prononcierten Urteile nicht teilen mag (etwa im Hinblick auf die Rolle Hans Modrows am 8. Oktober 1989 in Dresden).

Der an den Beginn des Bandes platzierte Essay „Das Vertragsfest“, der hier als Originalbeitrag publiziert ist, beschreibt den 3. Oktober als eine plausible Wahl für unseren Nationalfeiertag, nachdem er verschiedene Alternativen, von drei denkwürdigen Beschlüssen der Frankfurter Paulskirchen-Nationalversammlung 1848/1849 ausgehend, über den 17. Juni 1953, den 9. Oktober (in Leipzig) und den 9. November 1989 diskutiert hat. Obwohl seine Sympathie für den Tag der Maueröffnung deutlich ist, verwirft er dieses Datum, weil es durch den 9. November 1938 unvermeidbar kontaminiert ist.

Friedrich Dieckmann ist ein deutscher Intellektueller, der sich – wie Peter Bender, dem er seinen Beitrag „Olymp im Nebel“ zu dessen 80. Geburtstag einst gewidmet hatte – jenseits der Grenzen und Denkkonventionen bewegt, sich keinem Ost-West-Schema einfügt. In seinem abschließenden „Versuch über die Deutschen“ erinnert Dieckmann an Immanuel Kant, auf dessen Charakterisierung der Deutschen in seiner „Anthropologie, in pragmatischer Absicht“ er interpretierend Bezug nimmt: „Auf der einen Seite: Bescheidenheit, kein Nationalstolz, eine natürliche Weltoffenheit und Gastfreundlichkeit, auf der andern Seite derselben Veranlagung: Distinktionssucht, Pedanterie, Obrigkeits- und Autoritätshörigkeit, die sich in der Erziehung reproduzieren.“ (152). So hatte es Kant 1798 empfunden – die Leser mögen sich selbst fragen, was sich daran verändert hat. Wie artistisch Dieckmann in seinen Texten Bonmots ins Spiel zu bringen weiß, zeigt sich, wenn er „eine Venezianerin, die schon lange unter den Deutschen wohnt“, zitiert: „Deutsch, das ist etwas, das sich fragt, was deutsch ist.“ (143) Dieckmann belohnt uns mit einem Lesevergnügen, das viele Gedankenblitze erhellen. Ein passendes Jubiläumsgeschenk.

 

© Rüdiger Thomas

In: Deutschland Archiv, 43. Jg. (2010), H. 5, S. 923-924.

Rückblick im Abendlicht

Rückblick im Abendlicht

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

Lothar Lang: Ein Leben für die Kunst. Erinnerungen, Leipzig:

Faber & Faber Verlag 2009, 336 S., 19,90

Unter den Kunstkritikern in der DDR war Lothar Lang eine exponierte Persönlichkeit. Seine 1979 in Leipzig und Luzern erschienene Publikation „Malerei und Graphik in der DDR“ war ein bemerkenswerter Versuch, die Entwicklung der bildenden Kunst in der DDR aus einer undogmatischen Sichtweise zu beschreiben, auch wenn dabei nicht alle kulturpolitischen Tabus gebrochen werden konnten. (Das galt vor allem für A.R.Penck, der, im Westen längst renommiert, in der DDR als Außenseiter künstlerisch ausgegrenzt wurde, bis er 1980 in die Bundesrepublik abwanderte.) Vor allem durch seine in vier Bänden erschienene Geschichte der Buchkunst im 20. Jahr-hundert, die Lang 1975 mit seiner „Expressionistischen Buchillustration in Deutschland 1907-1927“ begonnen hat, ist Lang zu einem international anerkannten Experten auf diesem Gebiet avanciert. Doch von einer breiteren Öffentlichkeit ist der Autor vor allem im Hinblick auf sein Engagement für bildende Künstler aus der DDR wahrgenommen worden. Er war es auch, der 1977 auf der 6. Documenta als Kurator für ein separat in Auftrag gegebenes Segment fungierte, das sechs Künstler aus der DDR zum ersten Mal auf die wichtigste Bühne der internationalen Kunst brachte.

Wer nach Auskünften über diese graue Eminenz der Kunstszenen in der DDR sucht, durfte auf Langs Rückblick in die Kunstgeschichte der DDR, an der er selbst als handelnde Person beteiligt war, gespannt sein. Zwar verspricht der Untertitel seines Buches „Erinnerungen“, doch wird rasch deutlich, dass dies nicht im Sinne einer Autobiografie im klassischen Verständnis gemeint ist. Es sind vielmehr Mosaiksteine, Geschichten über seine Begegnungen mit Künstlern, seine Tätigkeit als Redakteur, Autor und Aus-stellungsorganisator, aus denen Lothar Lang ein Bild zusammenfügt, das seine solitäre Stellung im Kunstbetrieb der DDR zum Ausdruck bringen soll.

Nach einem kurzen Einblick in seinen Bildungsgang, der ihn 1955, damals 27 Jahre alt, zum  wissenschaftlichen Oberassistenten und wenig später zum Lehrbeauftragten für Probleme der Ästhetik an der Pädagogischen Hochschule Potsdam werden ließ, berichtet uns Lang, welche Künstler er gefördert oder gar entdeckt hat – da fehlt kaum ein Name -, und welche Bücher wir ihm verdanken, wie er mit lobenden Rezensionsauszügen ausführlich zu belegen weiß. Auch von seinen Begegnungen mit Künstlern im Westen und seinen damit verbundenen kunsthistorischen Bildungsreisen u. a. nach London, Rom, Mailand, Florenz, Venedig, Padua, Paris, Zürich, Bern und Basel berichtet der Autor enthusiastisch, ohne zu reflektieren, in welchem Maße er damit privilegiert war. Nicht ohne Koketterie überschreibt Lang ein Kapitel seines Buches „Ein Künstler wird bekannt“, bevor er die Entdeckung  von Harald Metzkes und der „Berliner Schule“ als „Erfolg eines Kunstkritikers“ rühmt. Da klingt manches ziemlich eitel und selbstverliebt, und man denkt gelegentlich an Manfred Ewalds Opus „Ich war der Sport“, das sich als eine einzige Erfolgs-geschichte lesen lässt, in der politische Hürden allenfalls am Rande vorkommen.

Doch wer sich davon nicht irritieren lässt, wird mit der Schilderung interessanter Episoden belohnt, die symptoma-tische Schlaglichter auf die Kulturgeschichte der DDR werfen. Das gilt für Langs Tätigkeit als freier Autor der „Weltbühne“ seit Oktober 1957 und als Chefredakteur der renommierten Zeitschrift für Bibliophilie und Buchkunst „Marginalien“ zwischen 1964 und 1998, vor allem aber für sein kreatives Wirken als Leiter des Kunstkabinetts Berlin-Weißensee, das er am dortigen Institut für Lehrerweiterbildung 1962 eingerichtet hatte, wo er wie in Potsdam seit 1957 als Dozent tätig war. Das Kunstkabinett hat für die Kunstentwicklung in der DDR wichtige Impulse vermittelt, auf Druck argwöhnischer Kulturfunktionäre musste es 1968 geschlossen werden. Im Rahmen des Kunstkabinetts organisierte Lang regelmäßig Ausstellungen, edierte Grafikmappen (die unter dem Label „Kabinettpresse“ bis 1975 erschienen) und veranstaltete Gespräche, Lesungen und Konzerte. Die erste Veranstaltung bestritt am 21. Juni 1962 Wolf Biermann. „Biermann war routiniert und in vollendeter Perfektion. Seine Gesänge zur Gitarre waren verblüffend und voller Witz. Er besang den Kommunismus und verlachte die Funktionäre der SED.“ Die Schilderung dieser Episode, die Lang durchaus zur Ehre gereicht, endet mit dem lapidaren Satz: „1976 wurde Biermann als Regimekritiker die Staatsbürgerschaft der DDR entzogen.“ (126) Dies ist eine symptomatische Formulierung für Lang, sobald es um das Verhältnis von Kultur und Kulturpolitik in der DDR geht. Wenn Restriktionen der Kulturpolitik und ihre Sanktionsmechanismen ins Blickfeld rücken, bleibt Lang merkwürdig verschlossen. Das gilt etwa für die Jubiläumsaussstellung Weggefährten Zeitgenossen zum 30. Jahrestag der DDR-Gründung, die ja bekanntermaßen noch vor der Eröffnung zensiert wurde. Darüber hätte man von einem Beteiligten gern mehr erfahren, doch verliert der Autor darüber kein Wort.

Enttäuschend ist auch der Bericht über seine Documenta-Mitwirkung 1977. Lang, der die documenta 5 1972 in einem Beitrag für die „Weltbühne“ noch als „documenta der Schar-latane“ (H.29, S. 910) bezeichnet hatte, war durch einen Beschluss des SED-ZK auf Initiative von Willi Sitte die „Orga-nisation und wissenschaftliche Begleitung“ des DDR-Auftritts (einschließlich der Künstler-Auswahl) übertragen worden. Er verschweigt freilich, dass er für diesen Auftrag zwangsläufig auch als Apologet der DDR-Kulturpolitik fungieren musste. So würdigt Lang in seinem Beitrag für den Documenta-Katalog die Kontinuität einer Kulturpolitik, „die den Künsten den historisch jeweils optimalen Freiraum für ihre Entwicklung, geistig und materiell, sichert“ und unterstreicht: „Die schöpferische Leis-tung der Kulturpolitik der DDR besteht ohne Zweifel gerade darin, die Künstler, manchmal gegenderen Widerstand, zu der Einsicht geführt zu haben, für den Zustand der Gesellschaft, in dersie leben, selbst mit verantwortlich zu sein“ (Kat I, S.47).  Es wäre pharisäisch, dem DDR-Kurator solche Anpassungsleistungen vorzuwerfen, aber man könnte doch erwarten, dass der davon Betroffene erkennen lässt, wie solche disziplinierende Mechanismen der Kulturpolitik abgelaufen sind. Die Politik, die ja noch wenige Monate vor der Documenta-Eröffnung mit der Zwangausbürgerung von Wolf Biermann das vielbeschworene Bündnis von Geist und Macht desillusionierend und endgültig aufgekündigt hatte, wird bei Lang so weitgehend  ausgeblendet, dass der Leser vermuten könnte, sie sei nicht der Rede wert. So lässt der Autor in einem lesenswerten Buch die Kunst in der DDR in einem milden Abendlicht erscheinen, das vor allem auf ihn selbst als einen ihrer wichtigsten Kommentatoren viele aufschlussreiche Schlaglichter wirft.

 

© Rüdiger Thomas

In: Deutschland Archiv, 43. Jg. (2010), H. 6, S. 1136-1137.

Spurensuche auf einer Kulturinsel

Spurensuche auf einer Kulturinsel

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Spurensuche auf einer Kulturinsel

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

 

Matthias Braun: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit, Göttingen: Vandenhoek& Ruprecht 2007, 464 S., 31,90

Wer nach ermutigenden Ansätzen im ersten Nachkriegsjahr -zunächst gefördert durch sowjetische Kulturoffiziere – auf eine liberale Kulturpolitik in der SBZ hoffen mochte, wurde seit 1947 zunehmend desillusioniert. Der politische Ost-West-Antagonismus mündete 1948 in das berüchtigte Verdikt gegen den Formalismus, der das Ende aller Illusionen auf eine freie Entwicklung der Künste im Osten Deutschlands markierte. Nach Gründung der DDR fehlte zunächst ein Kulturministerium (bis 1954 Johannes R. Becher zum ersten Minister berufen wurde), stattdessen waren mit der Staatlichen Kommission für Kunst-angelegenheiten und dem Amt für Literatur und Verlagswesen im Sommer 1951 zwei Kontrollinstanzen etabliert worden. Sie bewirkten, dass sich die dunklen Schatten der sowjetischen Kulturpolitik Shdanows auch über die Kulturszene der DDR legten, was auf der Dresdner III. Deutschen Kunstausstellung (1953) ebenso sichtbar wurde wie in den Programmen der Verlage. Diese deprimierende Entwicklung rief bei vielen Kunst-schaffenden gleichermaßen Enttäuschung, Resignation, Argwohn und Kritik hervor. Daher wurden die bereits kurz nach Kriegsende eingeleiteten ersten Sondierungen und Aktivitäten für eine Wiederbelebung der Preußischen Akademie der Künste von den Kulturproduzenten als eine Chance wahrgenommen, dem Prozess einer fortschreitenden Reglementierung der Künste den Anspruch auf eine Selbstbestimmung der Künstler entgegenzusetzen.

Im ersten Kapitel seines materialreichen, quellengestützten Buches schildert Matthias Braun die Gründungsgeschichte der „Deutschen Akademie der Künste“, die schließlich nach langwierigen politisch-administrativen Prozeduren am 24. März 1950 mit einem Staatsakt im Berliner Admiralspalast inauguriert wurde. In seiner Eröffnungsrede stellte Minister-präsident Otto Grotewohl fest: „Was also soll die Akademie der Künste ihrem Wesen nach sein? Nichts mehr und nichts weniger als die höchste Institution der Deutschen Demokratischen Republik im Bereich der Kunst.“ Wer dieser Rede genau zuhörte, konnte bezweifeln, dass die Kunst damit für ihre eigenen Angelegenheiten ein selbstbestimmtes Forum erhalten hätte. Denn als „Ziel und Maßstab“ wurde von Grotewohl gleichzeitig die „Parteinahme für die Sache der Arbeit“ postuliert (S. 35). Ursprünglich war im Oktober 1948 Heinrich Mann das Angebot unterbreitet worden, die Präsidentschaft der künftigen Deutschen Akademie der Künste zu übernehmen, der jedoch seine beabsichtigte Rückkehr nach Deutschland so lange hinauszögerte, bis er zwei Wochen vor Akademiegründung im kalifornischen Santa Monica  starb. So wurde Arnold Zweig zum Präsidenten der Akademie berufen, der zunächst nur 22 Mitglieder angehörten, darunter Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Otto Nagel, Gret Palucca, Anna Seghers, Helene Weigel und vier aus dem westlichen Teil stammende Künstler, Heinrich Ehmsen, Otto Pankok, Gustav Seitz und Heinrich Tessenow. Bereits im Vorfeld hatten u. a. Karl Hofer und Karl Schmidt-Rottluff eine Mitgliedschaft abgelehnt.  Gustav Seitz wurde 1952 beauftragt, in einem Gespräch mit dem Westberliner Kultursenator Joachim Tiburtius eine durch die Ost-West-Konfrontation bedingte Gegengründung zu verhindern. Doch diese als „Antithese zur Ostakademie“ (so der Architekt und erste Präsident Hans Scharoun) verstandene Institution wurde als Akademie der Künste 1955 ins Leben gerufen und konnte in der Folgezeit ihren Anspruch auf  autonomes Handeln weitgehend behaupten. Demgegenüber zeigte sich sehr bald, dass die Aktivitäten der Deutschen Akademie der Künste (die 1972 in Akademie der Künste der DDR umbenannt wurde) weitgehend den kulturpolitischen Leitlinien der SED unterworfen wurde. Diese Tatsache drückte sich sowohl in ihrer administrativen Struktur aus, die den Direktor der Akademie als Partei- und Staatsfunktionär unmittelbar in ihre Pflicht nahm, als auch durch den Anspruch der SED, auf die Zuwahl der Akademiemitglieder nachdrücklich Einfluss zu nehmen.

Die Studie von Matthias Braun ist der erste Versuch, eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Akademie der Künste zu bieten, doch wird diese auf zwei Schwerpunkte fokussiert. Sie untersucht im Rückgriff auf alle relevanten Archivbestände einerseits die Einwirkungen der Partei und die kontrollierenden Aktivitäten der Staatssicherheit auf die Tätigkeit der Akademie und reflektiert an ausgewählten Sachverhalten, wie sich die Akademie der Künste in wichtigen  politischen Konfliktlagen und bei kulturpolitischen Kontroversen verhalten hat. Matthias Braun hat damit eine Konfliktgeschichte der Akademie vorgelegt.  Sie beschreibt die Spielräume und deckt die Gren-zen auf, eigenständige Positionen und Ansprüche gegenüber der Staatspartei und ihren Kontrollorganen zu entwickeln oder gar zu behaupten. Und sie belegt auch, wie sich manche Akademiemitglieder zu politischen Zwecken instrumentalisieren ließen.

Der Autor, der als Literatur- und Theaterwissenschaftler mit bemerkenswerten Studien zur Literaturgeschichte der DDR hervorgetreten ist (u. a. mit einem Werk zur Literaturzeitschrift „Sinn und Form“, 2004) und in der Abteilung Bildung und Forschung der BStU arbeitet,  gliedert seine Studie nach den Amtszeiten der Akademiepräsidenten Arnold Zweig (1950 – 1953), Johannes R. Becher (1953 – 1956), Otto Nagel (1956 – 1962), Willi Bredel (1962 -1964), Konrad Wolf (1965 – 1982) und Manfred Wekwerth (1982 – 1989). Besondere Beachtung finden die Reaktionen der Akademie auf die „Krisen und politischen Großereignisse“,  insbesondere den 17. Juni 1953, den Mauerbau, den Prager Frühling, den KSZE-Prozess, die Biermann-Ausbürgerung und die Perestrojka-Politik Gorbatschows. Außerdem werden wichtige kulturpolitische Ereignisse in den Blick genommen: Welche Stellung hat die Akademie zum von der SED-Führung proklamierten Bitterfelder Weg („Greif zur Feder, Kumpel!“) bezogen, wie hat sie auf die Absetzung Peter Huchels reagiert, der unter dem Druck der Partei-administration Ende 1962 sein Amt als Chefredakteur der von der Akademie herausgegebenen Zeitschrift „Sinn und Form“ niederlegte, die Walter Jens seinerzeit als „die wohl wichtigste Literaturrevue aller Deutschländer“ bezeichnet hat ? Als Beispiele für zwei gescheiterte Innovationsschübe in der Literatur der DDR werden das von Stephan Hermlin initiierte Projekt „Junge Lyrik“ (1962) und die seit Ende 1980 von Franz Fühmann angeregte Anthologie junger Autoren thematisiert, bei deren Scheitern – wie Braun zeigt – die Staatssicherheit stärker Einfluss nehmen konnte als in anderen Fällen. (Die Anthologie ist schließlich  – bereits nach Fühmanns Tod – 1985 im Kölner Verlag Kiepenheuer&Witsch  unter dem Titel „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ erschienen, herausgegeben von Elke Erb und Sascha Anderson.) Aufschlussreich sind auch die Ausführungen über Stephan Hermlins Initiative für die „Berliner Begegnung“ zur Friedensförderung im Dezember 1981, die als Versuch eines gesamtdeutschen Dialogs im Osten und Westen nicht unumstritten war.

Durch diese Themenzentrierung gelingt es dem Autor, Einblicke in das Selbstverständnis der Akademie und ihre Diskussionskultur zu vermitteln und dabei deutlich werden zu lassen, wie stark ihre Aktivitäten durch machtpolitische Ansprüche und kulturpolitische Interessen begrenzt worden sind. Dass auch der „zumeist fachlich gut ausgebildete und politisch verlässliche Mitarbeiterstab“ der Akademie, die nach den Zuwahlen von 1983 mehr als 100 Mitglieder hatte, bis 1989 auf 345 Personen anwachsen sollte und als ein „Gegengewicht zu der nicht kalkulierbaren Künstlerschaft gedacht“ war (S. 23), hebt der Autor ausdrücklich hervor, hält hierfür jedoch mit Recht eine eigene Untersuchung für erforderlich. Seine Darstellung schließt mit einem kursorischen Blick auf die Abwicklungsperiode der Akademie unter der Präsidentschaft Heiner Müllers, die ebenfalls eine gründliche Aufarbeitung verdienen würde.

Es bleibt nicht aus, dass man im Hinblick auf Ereignisse und Kontroversen, die der Autor ausgewählt hat, Lücken entdeckt, das gilt vor allem für die Sektionen Musik und Bildende Kunst, die auf die Kunstentwicklung in der DDR dadurch besonderen Einfluss nehmen konnte, dass die Akademiemitglieder Meisterschüler betreuen durften. Braun thematisiert in diesem Zusammenhang die von Fritz Cremer initiierte Akademie-Ausstellung „Junge Kunst/Malerei“, die mit Werken von mehr als 70 jungen experimentierfreudigen Künstlern am 15. September 1961 eröffnet wurde und heftige Kritik bei der Kulturbürokratie hervorrief, sodass eine geplante Folgeausstellung zur Plastik unterbleiben musste. Man hätte sich hier gewünscht, dass die Zeit ab Mitte der 1980er Jahre, als sich die Sklerose des politischen Systems  immer deutlicher abzu-zeichnen begann, ausführlicher untersucht worden wäre. Dass sich die Akademie in den späten 1980er-Jahren erweiterte Aktionsmöglichkeiten zu schaffen wusste, zeigt die Geschichte der ersten Beuys-Ausstellung in der DDR, die am 15. Januar 1988 im Berliner Marstall eröffnet und anschließend in der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst gezeigt wurde. Obwohl sich Willi Sitte als Präsident des Verbandes Bildender Künstler dezidiert gegen das Projekt ausgesprochen hatte und sich die ZK-Abteilung unter Ursula Ragwitz höchst distanziert zeigt, gelang es der Akademie mit Unterstützung des stellv. Kulturministers Dietmar Keller die Ausstellung mit Zeichnungen von Beuys unter dem beschwichtigenden Titel „Beuys vor Beuys“ zu realisieren. Es wäre lohnend gewesen, die Vorgeschichte dieser spektakulären Schau, die insbesondere junge Künstler und Kunstwissenschaftler in der DDR nachhaltig beeinflusst hat, unter der Leitfrage von Braun aus den Akten zu rekonstruieren.

Infolge seiner thematischen Eingrenzung gibt Brauns ver-dienstvolles Buch keine Aufschlüsse über die internen Kulturdiskurse, die auf den Sitzungen der Akademie, angeregt durch Referate von Ernst Bloch (der hier 1955 seinen berühmten Vortrag „Differenzierungen im Begriff Fortschritt“ hielt) bis zu den Reflexionen Robert Weimanns zur modernen Ästhetik, Impulse zur Entwicklung einer ästhetischen Theorie jenseits des sozialistischen Realismus vermittelten. Auch die unter der Bezeichnung „Nationale Forschungs- und Gedenk-stätten der DDR für deutsche Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts“ zum 35. Jahrestag der Akademie-Gründung etablierte Forschungseinrichtung  kann Braun nur kurz erwähnen (vgl. 405 – 410), ohne ihre Arbeit näher zu beleuchten.

Über die beiden von der Stiftung Archiv der Akademie der Künste herausgegebenen  Editionen mit Dokumenten zur Geschichte der (ostdeutschen) Akademie der Künste („Die Regierung ruft die Künstler“,1993; Zwischen Diskussion und Disziplin, 1997) führt die Studie von Matthias Braun in doppelter Hinsicht wesentlich hinaus: Indem sie interne Debatten der Akademie auswertet, macht sie erneut deutlich, dass ihre Mitglieder differenziert betrachtet werden müssen: Hier finden sich in jeder Periode ebenso Beispiele für bedingungslose Parteiloyalität wie auch der Respekt fordernde Mut zu eigenständiger Kritik an den kulturpolitischen Restrik-tionen des SED-Staates. Im Hinblick auf die Einwirkung der Machtorgane kommt Braun zu dem Ergebnis, dass „die Partei- und Staatsführung zu keinem Zeitpunkt die Entscheidungs-macht in Sachen Akademie aus der Hand gab“. Obwohl es auch unter den Akademiemitgliedern Informanten gab, verneint der Autor die These, dass das MfS „starken Einfluss auf den kulturpolitischen Kurs und die Zusammensetzung und Steue-rung der Akademiemitgliedschaft“ ausüben konnte: „Als nicht haltbar erwies sich ebenfalls die Annahme, dass die ‚Kulturinsel’ Akademie vom MfS intensiv überwacht und durch IM in Schlüsselpositionen konspirativ gesteuert wurde.“ (S. 12/13) Matthias Brauns gründlich recherchierte, sorgfältig abwägende Studie ist eine bedeutsame Ergänzung zu Joachim Walthers grundlegender Analyse zum „Sicherheitsbereich Literatur“ (1996) und ein wichtiger Beitrag zur Kulturgeschichte der DDR, ebenso nüchtern wie facettenreich – eine  empfehlenswerte spannende Lektüre.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Deutschland Archiv, 41. Jg. (2008), H. 3, S.550-552.

Erkundungen in einer versinkenden Verlagslandschaft

Erkundungen in einer versinkenden Verlagslandschaft

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Erkundungen in einer versinkenden Verlagslandschaft

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

 

Christoph Links: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. Berlin: Ch. Links 2009, 352 S., 24,90 

„Leipzig schließt“ titelte das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel  im Februar und weckte damit Assoziationen an „Leipzig liest“, den singulären Veranstaltungsmarathon für Bücherfreunde mit mehr als 1.900 Angeboten während der Leipziger Buchmesse, die im März Jahr für Jahr mit wachsenden Besucherzahlen aufwartet. Eine irritierende Diskrepanz: Während die einst stolze Stadt so berühmter Verlage wie Reclam, Brockhaus oder Insel schmerzliche Verluste beklagen muss, warten die neugierigen Leser mit anhaltenden Rekorden auf.

In dieser Situation kommt die Studie von Christoph Links, punktgenau vor Messebeginn ausgeliefert, gerade recht, erklärt sie doch akribisch eine Entwicklung, die das Land der Verlage nach der deutschen Vereinigung weitgehend auf ein Land der Bücherfreunde reduziert hat. Christoph Links scheint für Überraschungen prädestiniert: Mit seiner Verlagsneugründung ist ihm 1990 ein selten gebliebener Erfolg geglückt, und es ist staunenswert, wie er neben der Verlagsarbeit die aufwendigen Recherchen unternehmen konnte, die er in seiner fundierten Darstellung der ostdeutschen Verlagslandschaft mit ihrem dramatischen Schrumpfungsprozess seit 1990 kondensiert hat.

Das Buch beginnt mit einer schockierenden Bilanz: „Die Verlagslandschaft in Ostdeutschland hat sich in der Zeit zwischen 1990 und 2007 grundlegend verändert. Von den ehemals 78 staatlich lizenzierten Verlagen der DDR existiert in eigenständiger Form heute nur noch ein Dutzend. (…) Selbst mit den neu gegründeten Verlagen zusammen werden in den ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) heute nur noch 2,2% der gesamten deutschen Buchproduktion erzeugt“. (9) Die Beschäftigtenzahl ist im gleichen Zeitraum auf ein Zehntel zurückgegangen – eine dramatische Verfallsgeschichte, deren Ursachen Christoph Links in seiner bemerkenswerten Studie nachgeht.

In einem instruktiven Überblick resümiert der Autor einleitend die „Entwicklung der Eigentumsverhältnisse im Verlagswesen der SBZ/DDR“. Hier werden auf zehn Seiten die entscheidenden politischen Maßnahmen zur Steuerung des Verlagswesens zusammengefasst und zusätzlich interessante Informationen zur Buchproduktion in der DDR vermittelt. Zwischen 1945 und 1985 hat sich die Zahl der Verlage von 160 auf 78 reduziert, davon waren allein zehn im Besitz der SED, darunter neben dem Agitprop-Verlag Dietz auch der renommierte Verlag für internationale Literatur Volk und Welt. Diese parteieigenen Verlage wiesen für 1985 einen Umsatz von rund 118 Mio. M aus und konnten dabei einen Gewinn von mehr als 36 Mio. M erzielen (27). Trotz solcher erstaunlichen Renditen konnten die Verlage kein nennenswertes Vermögen bilden, mussten sie doch 80 Prozent ihrer Gewinne an den Staat abführen. Die Abschlussbilanz 1989 ergab für alle Verlage in der DDR einen Umsatz von 583 Mio. M, der Buchhandel konnte Publikationen für 840 Mio. M verkaufen. Damit war das Buchwesen ein durchaus relevanter Wirtschaftsfaktor. Für den „Kleinstaat“ DDR, der sich selbst gern als „Leseland“ feierte, ist es überraschend, dass die Durchschnittsauflage der Bücher bereits 1969 mit rund 21.400 Exemplaren angegeben wurde und auch in den 1980er Jahren die Grenze von 20.000 Exemplaren erreichte.

Die 1990 begonnene Privatisierung der Verlage, von denen 52 durch die Treuhandanstalt abgewickelt wurde (andere waren und blieben in kirchlichem Besitz oder gingen an ihre westdeutschen Alteigentümer zurück), erwies sich in weiten Teilen als Geschichte ihrer zumeist schleichenden Auflösung. Christoph Links untersucht die Ursachen dieser Entwicklung, die er nicht monokausal erklärt, sondern als Komplex aus verschiedenen Faktorenbündeln betrachtet. Die Strukturbedingungen der Verlage (Rückstand bei technischer Ausstattung, hoher Personalaufwand), fehlende marktwirtschaftliche Erfahrungen, mangelnde Kapitalausstattung, das Fehlen einer gemeinsamen ostdeutschen Interessenvertretung der Verlage und in erster Linie Fehler der Treuhandanstalt, die sich kaum auf verlegerischen Sachverstand stützte, bildeten eine Mixtur, die das eigenständige Überleben der Verlage fast unmöglich werden ließ.

Das Kernstück der Studie, mit der Christoph Links an der Berliner Humboldt-Universität promoviert wurde, besteht aus Kurzporträts der 78 Verlage, die knappe Angaben  zur Verlagsgeschichte, den Programmschwerpunkten, Titelzahl und Umsatz sowie dem „Schicksal“ seit 1990 enthalten. Der längste Verlagseintrag ist dem Aufbau-Verlag gewidmet, den der neue Verleger Lunkewitz gleich zweimal erwerben musste, nachdem sich herausgestellt hatte, dass dieser wichtigste Belletristik-Verlag der DDR nicht der SED, sondern dem Kulturbund gehört hatte. In dem 14 Jahre dauernden Rechtsstreit zwischen dem Verleger Bernd F. Lunkewitz, der den Verlag ursprünglich am 18. September 1991 übernommen hatte, und der Rechtsnachfolgerin der Treuhandanstalt urteilte der Bundesgerichtshof im Februar 2008, dass „die Treuhandanstalt 1991einen Verlag verkauft hatte, der ihr gar nicht gehörte, da er sich im Eigen-tum des weiterhin bestehenden Kulturbundes befand“ (202). Christoph Links berücksichtigt in seinem Text auch noch die Übernahme durch den Berliner Kaufmann Matthias Koch zum 1. November 2008, nachdem Lunkewitz in einem schockierenden Überraschungscoup ohne Kenntnis seiner leitenden Mitarbeiter im Mai 2008 Insolvenz angemeldet hatte.

Christoph Links ist ein komplexes, komprimiertes, gut lesbares Handbuch zu verdanken, das für die Geschichte des Verlagswesens in der DDR künftig eine unentbehrliche Grund-lage bereitstellt. Außerhalb seines Themenrahmens liegt die Geschichte von Verlagsneugründungen, die seit 1990 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entstanden sind. Hier gibt es erfreulicherweise auch einige Erfolgsgeschichten – und die wohl wichtigste hat der Autor als kreativer Verleger selbst geschrieben.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Deutschland Archiv, 42. Jg. (2009), H. 3, S. 547-548.

Lexikalische Irritationen

Lexikalische Irritationen

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Lexikalische Irritationen

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

Dietmar Eisold (Hg.): Lexikon Künstler der DDR,  Berlin: Verlag Neues Leben, 2010,1088 S., 39,90

Wie hilfreich ein Personenlexikon sein kann, zeigt die Erfolgsgeschichte des im Christoph Links Verlag zuerst 1992 erschienenen Kompendiums „Wer war wer in der DDR?“, das in diesem Frühjahr erneut in einer erheblich erweiterten zweibändigen Neuausgabe erschienen ist. Alle, die an der Kunstgeschichte der DDR interessiert sind, konnten daher auf das Lexikon Künstler in der DDR gespannt sein, das pünktlich zur Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt wurde. Es umfasst Angaben zu etwa 7.000 Personen aus einem weit gefassten Umfeld der bildenden Künste: Maler, Grafiker, Bildhauer, Fotografen, Formgestalter, Kunsthandwerker, Buchgestalter, Bühnenbildner (und sogar – eigens erwähnt – Puppengestalter). Der Herausgeber Dietmar Eisold, in Leipzig diplomierter Kunstwissenschaftler, war von 1971 bis 1991 als Redakteur für bildende Kunst beim „Neuen Deutschland“ tätig und hat die Einträge des Lexikons in einem Zeitraum von etw 20 Jahren zusammengetragen, wobei ihm ein „Berater- und Gutachterkreis“ zur Seite stand, dem    u. a. Peter H. Feist, Wolfgang Hütt und Lothar Lang angehörten.

Der  Ehrgeiz dieses Lexikons, das als ein „Projekt der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde“ ausgewiesen ist, die sich bekanntlich mit ihren zahlreichen Aktivitäten einer dezidierten DDR-Apologie verschrieben hat, zielt über die Information zu einzelnen Künstlern hinaus. Es soll die „Fülle und Vielgestaltigkeit der im Osten Deutschlands entstandenen und rezipierten Kunst“ sichtbar werden lassen, wie Peter H. Feist einleitend formuliert und damit auch Anstösse zu einer neuen Sicht auf die Kunstgeschichte der DDR geben, die „als ein weißer Fleck auf der Geschichte der Weltkunst im 20. Jahrhundert“ behauptet wird – trotz der Publikationen von Lothar Lang, Karin Thomas, Martin Damus, Eckhart Gillen oder Hermann Raum, in denen sich höchst unterschiedliche Sichtweisen auf die Kunst der DDR abgebildet haben. Dem Herausgeber und dem Verlag geht es aber nicht nur um eine Bestandsaufnahme der Künstler und Einblicke in die Kunstentwicklung der DDR, sondern auch um ein generelles politisches Anliegen. So beklagt sich Feist ganz im Sinne des Projektträgers, „wie der soziale und politische Versuch, der hier [also in der DDR R. Th.]unternommen wurde, zu einer bloßen Fußnote der Weltgeschichte entwürdigt werden sollte.“(8)

Das weckt Skepsis im Hinblick auf die gebotene Neutralität bei Auswahl und Inhalt der lexikalischen Einträge, die zunächst durch ihre schiere Anzahl beeindrucken. Bei näherer Durchsicht zeigen sich jedoch gravierende Mängel, die den Gebrauchswert dieses Lexikons erheblich beeinträchtigen. Generell folgen die Beiträge einem einheitlichen Schema: Angaben zur Person, zur künstlerischen Ausbildung und Entwicklung leiten die Artikel ein (wobei staatliche Auszeichnungen nicht fehlen), dann werden Ausstellungen,  mitunter auch einzelne Werke benannt, Literaturangaben unterschiedlicher Provenienz bilden den Abschluss. Zur Auswahl der aufgenommenen Künstler bemerkt Eisold: „In das Lexikon gehören selbstverständlich auch jene Künstler, die die DDR aus unterschiedlichen Gründen ver-ließen.“(10) Diesem selbst gesetzten Anspruch wird er nominell zwar überwiegend gerecht, doch die Einträge zu den in den Westen über-gesiedelten Künstlern sind völlig unzulänglich und brechen in der Regel mit dem Zeitpunkt ab, zu dem die Künstler die DDR verlassen haben. Später im Westen weltweit arrivierte Künstler wie Georg Baselitz, Günther Uecker und Gerhard Richter werden lediglich mit Geburtsdaten und dem lapidaren Vermerk „weggegangen“ annotiert, obwohl  zumin-dest Richter nach seinem Dresdner Akademiestudium noch eine kurze Karriere in der DDR begonnen hatte, bevor er 1961 in die Bundesrepublik übersiedelte. Doch dieses Prinzip wird gelegentlich durchbrochen. So wird dem aus Halle stammenden Maler und Grafiker Herbert Kitzel, der die DDR 1958 verlassen hat, ein Eintrag gewidmet, der auch sein Wirken in der Bundes-republik darstellt (Das gilt ebenso für den Text zu Gil Schle-singer). Auch wichtige Künstler der jungen Generation, die erst in den 1980er Jahren die DDR verlassen haben, etwa Cornelia Schleime oder Ralf Kerbach, werden lediglich in drei Zeilen abgetan. Befremd-lich auch, dass die Suche nach A.R.Penck auf seinen ursprüng-lichen Namen Ralf Winkler rückverweist, so wie ihn Lothar Lang,  um dem Druck der DDR-Kulturbehörden auszuweichen, in seiner frühen Publikation „Malerei und Graphik in der DDR“ (1979) in wenigen Zeilen erwähnt hatte. Von den außerhalb des Künstlerverbandes wirkenden unab-hängigen Künstlern aus der DDR fehlen wichtige Namen wie Jörg Herold, Carsten Nicolai oder die Fotografin Gundula Schulze (Eldowy) vollständig, während Neo Rauch immerhin mit einem kurzen Eintrag berücksichtigt ist.

Befremdlich sind auch die Disproportionen im Umfang der einzelnen Beiträge, aus  denen sich kaum Rückschlüsse auf die Bedeutung der Künstler ziehen lassen. Während Willi Sitte als Spitzenreiter auf acht Spalten vorgestellt wird, muss sich Carlfriedrich Claus mit gerade einem Fünftel begnügen, die Einträge über Hermann Glöckner und Gerhard Altenbourg umfassen etwa drei Spalten, während Hubertus Giebe, ein interessanter Künstler der zweiten Generation, die doppelte Textmenge zugestanden wird. Da verwundert es umso mehr, dass sich Hartwig Ebersbach nur mit einer knappen Notiz von lediglich einer Spalte begnügen muss – ein Künstler, der sich mit seinem der Abstraktion angenäherten expressiven Malstil den Konventionen sozialistisch-realistischer Kunst verweigerte und mit einem höchst eigenständigen Werk auch im Westen große Beachtung gefunden hat. Solche erheblichen Unterschiede im Informationsgehalt, für die zahlreiche weitere Beispiele angeführt werden könnten, lassen sich nur als willkürliche Vorgehensweise bezeichnen. Sie sind aber wohl nicht allein der Wertschätzung des Herausgebers geschuldet, sondern vermutlich das Ergebnis seiner Arbeitsweise. Offensichtlich haben verschiedene Künstler auf Anfrage die Angaben selbst beigesteuert, oder es wurden Quellen mit unterschiedlicher Informationsdichte benutzt. Als Extremfall können die Literatureinträge bei Werner Tübke gelten, wo nicht weniger als 300 Zeitungsartikel erfasst worden sind.

Es sind nicht die Details, die das Lexikon als Rohbaustelle erscheinen lassen, es ist vielmehr das kulturpolitische Anliegen, das Zweifel an dem Nutzen dieses Projekts erweckt. So heißt es beispielsweise in dem Text zu Gerhard Altenbourg: „Von Anfang an bestand eine prinzipielle Divergenz seiner Kunstauffassung zu den staatsoffiziell geforderten und geförderten Haupttendenzen der Entwicklung bildender Kunst in der DDR. (…) Maßgebliche Künstler (Willi Sitte und Bernhard Heisig) haben im VBK-DDR dazu beigetragen, die doktrinäre Haltung gegenüber G.A. zu überwinden.“(22)  Auch dem Künstler Roger Loewig, der sich in eindringlichen künstlerischen Arbeiten mit der repressiven poltischen Realität in der DDR auseinander-gesetzt hat, ist ein Beitrag gewidmet, der allerdings mehr verschweigt als informiert. Lapidar heißt es da: „1972 weggegangen (…) seit 1964 freischaffend. Mitglied des VBK-DDR.“(554) Dagegen informiert das eingangs erwähnte Lexikon „Wer war wer in der DDR?“ in einem entsprechenden Eintrag ausführlich über den künstlerischen Werdegang Loewigs und die gegen ihn gerichteten Zwangsmaßnahmen, dort heißt es u.a.: „1962 eine zur 5. Dt. Kunstausstellung eingereichte Lithografien-Folge wurde zurückgewiesen. (…) Beschlagnahme von künstler. Arbeiten, Manuskripten und Büchern, bis 1964 U-Haft in Berlin-Pankow; zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.“ Solche Schlaglichter auf die Kunstgeschichte der DDR, die auch eine Geschichte der Unterdrückung autonomer Kunst gewesen ist, vermeidet das Lexikon Eisolds. In bezeichnenden Auslassungen verwandelt sich ebenso wie im Lob auf die Maler-Verbandsfunktionäre Sitte und Heisig die lexikalische Information in einen nachgeholten Versuch, die Deutungshoheit über die Kunstgeschichte der DDR in apologetischer Absicht zu erlangen. So hat Eisold zwar seinen Vorsatz erfüllt, doch die Funktion eines Lexikons häufig verfehlt.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Deutschland Archiv, 43. Jg. (2010), H. 4, S. 730-731.

Die Angst vor der Moderne

Die Angst vor der Moderne

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Die Angst vor der Moderne

Rüdiger Thomas Bergisch Gladbach

 

Elke Scherstjanoi (Hrsg.): Zwei Staaten, zwei Literaturen? Das Internationale Kolloquium des Schriftstellerverbandes in der DDR, Dezember 1964, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ,Band 96, R. Oldenbourg Verlag, München 2008, 211 S., 24,80

 

„Es ist wahr, dass wir im Augenblick eine Isolierung fürchten müssen. Die deutschen Schriftsteller werden im Ausland sehr leicht des Dogmatismus verdächtigt.“ (23) So umschreibt die Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV), Anna Seghers, am 24. September 1964 in einer Sitzung der Partei-gruppe des DSV-Vorstands die kulturpolitische Situation, der sich die Autoren in der DDR ausgesetzt sehen. Kritisiert von ihren Kollegen aus den sozialistischen Nachbarstaaten und verunsichert in der Konkurrenzsituation mit der auch im Osten weit erfolgreicheren westdeutschen Literatur, suchen sie nach einem Ausweg aus jener Isolierung, die sie vor allem auf der Kafka-Konferenz in Liblice im Mai 1963 besonders deutlich erfahren mussten. Die in den Jahren 1963 und 1964 nach der jähen Unterbrechung durch den Mauerbau wieder aufgenommenen Gespräche und Begegnungen mit westdeutschen Schriftstellern zeigten ebenso die Verunsicherung, die sich bei den ostdeutschen Autoren ausgebreitet hatte, obwohl sich in den Verlagen der Bundesrepublik nach Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ ein zunehmendes Interesse an literarischen Werken aus der DDR abzuzeichnen begann.

Elke Scherstjanoi hat jetzt eine sorgfältig edierte Dokumentation des Internationalen Kolloquiums des DSV vorgelegt, das vom 1. bis 5. Dezember unter dem Titel „Die Existenz zweier deutscher Staaten und die Lage in der Literatur“ im (Ost-) Berliner Haus des Lehrers stattfand. Der Band enthält neben dem Protokoll des Kolloquiums vier Papiere aus der Vorbereitungsphase sowie Berichte über die Veranstaltung, die verschiedene interne Sichtweisen aus der DDR und eine sowjetische Einschätzung präsentieren. Die Herausgeberin schildert in ihrer kenntnisreichen, auch die politischen Kontexte einbeziehenden Einleitung die „Orientierungsnot“ (23) der Kulturfunktionäre und Verbandsvertreter aus der DDR gegenüber der westdeutschen Literatur und verweist zugleich auf die Bemühungen, den Partnern in den sozialistischen Ländern die Situation der Literatur in Deutschland nach ihren eigenen Deutungsmustern zu interpretieren. Ulbrichts Projekt einer „sozialistischen Nationalkultur“, zuerst auf der Bitterfelder Konferenz 1959 emphatisch proklamiert, sollte die prospektive Überlegenheit der Literatur aus der DDR den ausländischen Gästen wortreich vermitteln.

Doch es kam anders: Schon eingangs verwies der polnische Schriftsteller und Übersetzer Egon Naganowski auf das entscheidende Manko der Literatur aus der DDR: Es fehle ihr wegen der Ablehnung von Schriftstellern wie Joyce, Proust, Kafka oder Musil „ein literarischer, ästhetischer Faktor“ (74), der moderne Werke auszeichne. An dem Kolloquium nahmen 17 zumeist weniger prominente Gäste aus  dem sozialistischen Ausland teil, 4 aus der Sowjetunion (darunter Juri Trifonow), je drei aus Polen, der CSSR und Rumänien, zwei aus Ungarn und Jugoslawien. Aus der Bundesrepublik war lediglich der KPD-Funktionär Oskar Neumann, ZK-Mitglied der damals noch verbotenen Partei, anwesend, der auf Grund eines einschlägigen Aufsatzes, der im August 1964 in der „Einheit“ publiziert worden war, bei den SED-Kulturfunktionären als Kenner der westdeutschen Literatur galt. In seinem Einleitungsreferat hatte Hans Koch, 1. Sekretär des DSV, noch explizit das Thema des Kolloquiums kommentiert und dabei vor allem die Gegensätze betont: „Wir haben in Westdeutschland die Tatsache zu verzeichnen, dass die Literatur, die durch Namen von Böll bis Grass, von Enzensberger, Martin Walser und so weiter gekennzeichnet ist (…), dass sie in Westdeutschland fünf Prozent der lesefähigenBevölkerung erreicht (…), während es eine andere Literatur gibt, die wirklich 90 bis 95 Prozent der lesefähigen Bevölkerung  erreicht, eine Literatur, die gekenn-zeichnet ist beispielsweise durch Schundhefte.“ (69)

Auf solche platten Einschätzungen mochten sich die Teil-nehmer des Kolloquiums nicht einlassen. Sie fragten stattdessen nach den Umständen der Absetzung Peter Huchels als Chefredakteur von „Sinn und Form“ (so vor allem der Tscheche Ludvík Kundera) und immer wieder nach den zahllosen Werken der Weltliteratur, die in der DDR wegen „Modernismus und „Abstraktionismus“, die als neue Propaganda-Chiffren die alten Vorwürfe des Formalismus“ und der „Dekadenz“ abgelöst hatten, nicht publiziert werden durften. Diese Publikationspraxis kritisierten allerdings nicht nur viele der Gäste, sondern auch Stephan Hermlin in einem engagierten Plädoyer für die künst-lerische Moderne. (141-145) Die Teilnehmer aus der DDR waren sorgfältig ausgewählt, sodass mit ähnlich kritischen Bemerkungen wie sie der polnische Gast Naganowski geäußert hatte,  aus dem eigenen Verband nicht gerechnet werden mus-ste. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Stefan Heym, der erst aus der Presse von der Veranstaltung erfahren hatte, lud sich daraufhin – von dem slowakischen Schriftsteller Juraj Spitzer, Chefredakteur der Zeitschrift „Kulturelles Leben“ mitgebracht – selbst ein und erregte mit seinem eigenen Beitrag Aufsehen. Er hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für eine rückhaltlose, offene Diskussion, „um den Leib des Sozialismus von den Rost- und Blutflecken der Stalin-Ära und dem Schimmelpilz der Bürokratie zu säubern.“ (125) Dass Heym einen wunden Punkt berührt hatte, ließ die prompte Replik von Klaus Gysi, seinerzeit Leiter des Aufbau-Verlages, erkennen, der sich gegen eine solche Sichtweise in „historischen Totalen“ wendete, gleichzeitig aber Heym  konzedierte: „Es ist also richtig, dass wir keine rechten Diskussionen haben, weil der Rotstift des Zensors die echten verhindert, und wir haben infolgedessen nur unechte.“ (126) Daran sollte sich wenig ändern und Gysi behielt auf makabre Weise recht. Genau ein Jahr nach diesem Kolloquium fand das „Kahlschlagplenum“ statt.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Deutschland Archiv, 41. Jg. (2008), H. 5, S. 929-930.

Die Macht der Bücher

Die Macht der Bücher

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Die Macht der Bücher

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

 

Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin: Ch. Links Verlag 2008, 406 S., 29,90

 

Dieses Buch weckt Erinnerungen an eigene Erlebnisse im inner-deutschen Grenzverkehr. Es war ein beklemmendes Gefühl: Als ich bei einem Leipzig-Besuch mit Herbert Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (1973) die Grenze passieren wollte, hatte ich mir ausgedacht, die Kontrolle mit einer offensiven Strategie zu überlisten. „Führen Sie Schriften mit sich?“ fragte die argwöhnisch blickende Kontrolleurin. „Nur ein Buch über den antiimperialistischen Befreiungskampf“ war die Antwort, der ein anerkennender Blick folgte. Und der Reisende atmete erleich-tert auf, hatte er doch gleichzeitig Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ im Gepäck, das wohl kaum als astronomisches Lehrbuch durchgegangen wäre.

Der Weg zu den „heimlichen Lesern“ in der DDR war stets ein kleines Abenteuer, das durch die erfreuten Reaktionen der Beschenkten reichlich belohnt wurde. Aber es gab nicht nur die lesehungrige Neugier, sondern auch die rigorose Schnüffelei des Überwachungsstaates, die sich an der martialischen Parole orientierte: „Der Feind kommt nicht durch“ (265).  Ein besonders erschreckendes Beispiel für die Unterdrückung unerwünschter Publikationen bietet der Beitrag von Hans-Hermann Dirksen über die Broschüre der Zeugen Jehovas „Wachtturm“. Seit dem Verbot von 1950 wurden Einfuhr und Verbreitung drakonisch bestraft. In der DDR lebten etwa 12.000 Zeugen Jehovas, von denen etwa 6.000 von Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren (292). In diesem Zusammenhang erfährt der Leser  auch, dass in einem im Juli 1980 vom Zoll entdeckten VW-Transporter nicht weniger als 42.000 Exemplare des „Wachtturm“ expediert werden konnten (19), wie Siegfried Lokatis in seinem aufschlussreichen Einleitungsbeitrag „Lesen in der Diktatur“berichtet (11 – 23).

Während bis 1961 Westberlin eine vorrangige Bezugsquelle darstellte, war in den Jahren nach dem Mauerbau zunächst der Postweg die wichtigste Übermittlungsform. Auch wenn die Zahl der Postsendungen um ein Vielfaches höher war, weist doch die Beschlagnahme von 70.000 Sendungen mit 420.000 Druck-erzeugnissen bis Anfang 1966 (265) auf die Überwachungsintensität hin, mit der die von der SED gefürchtete geistige Konterbande bekämpft wurde.

Doch die Fahnder konnten gegen den Einfallsreichtum der Bücherfreunde letztlich nur bescheidene Erfolg erzielen. Die Lektüre der Geschichten, in denen berichtet wird, wie die Barrieren der Überwachung durch die List der  praktischen Vernunft überwunden worden sind, bereitet daher besonderes Vergnügen, zumal sich dabei zeigt, wie vielfältig und einfallsreich die „heimlichen Leser“ bei der Beschaffung ihrer Objekte der Begierde vorgingen. Der Bücherschmuggler  Rainer Eckert, der u. a. eine Drahtinstallation auf dem Zugklo als Versteck benutzte, beschaffte sich nicht nur „Karl May von der Oma“ (113 – 118). Und wer den Westen nicht besuchen konnte, versuchte auf der Leipziger Buchmesse, sich seine Wünsche zu erfüllen. So heißt es1975 im „Abschlussbericht des Operativen Einsatzstabes“ der Staatssicherheit: „Nach wie vor traten bei einigen Verlagen Diebstähle von Exponaten auf, wobei einige (…) offensichtlich keinen Wert darauf legen, derartige Hand-lungen zu verhindern, sondern diese zum Teil noch begünstigen. Z. B. hielt sich das Standpersonal von Suhrkamp zeitweise außerhalb des Standes auf. Beim Verlag S. Fischer eigneten sich Standbesucher unter den Augen des Personals Bücher an.“ (238)

Das Buch „Heimliche Leser in der DDR“ ist ein Geschenk nicht nur für Bibliomanen, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der DDR und zur Beschreibung ihrer intellektuellen und subkulturellen Milieus. Es dokumentiert eine Tagung, die im September 2007 im Leipziger Haus des Buches veranstaltet worden ist und mit 40 Beiträgen exemplarische Einblicke in die Paradoxien einer „Literaturgesellschaft“ bietet, in der das Pathos von der „allseits gebildeten Persönlichkeit“ durch Zensur und Überwachung zur tragischen Illusion verkam. Simone Barck, der wir das gemeinsam mit Siegfried Lokatis und Martina Langermann verfasste grundlegende Werk „Jedes Buch ein Abenteuer“(1984) verdanken, das „Zensursystem und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre“ offenlegt, hat die Tagung noch maßgeblich vorbereitet. Den Erfolg des Projekts, an dem auch das Zentrum für Zeithistorische Forschung beteiligt war, konnte sie nicht mehr erleben, da sie zwei Monate zuvor verstorben war. Ihrem Andenken ist der in jeder Hinsicht gewichtige Band gewidmet.

Der besondere Reiz dieses Buches liegt darin, dass Zeitzeugen zu Wort kommen, die facettenreich ihre höchst verschiedene persönliche Erfahrungen und Erlebnisse im Streben nach den ersehnten Büchern mitteilen. Zuweilen hat man den Eindruck, in eine surreale Welt zu blicken, in der die Dialektik von Überwachung und Überlistung absurde Purzelbäume schlägt. Dass dabei die listigen Leser den Kopf meist oben behalten, ist ein Hauptgrund es Lesevergnügens, das uns dieses originelle Buch bereitet. Bücher haben „Fenster im Dickicht“ geöffnet, wie sich eine Kapitelüberschrift variieren lässt. Dazu haben auch listenreiche Verleger wie Roland Links oder wagemutige  Herausgeber und Übersetzer wie Fritz Mierau beigetragen. Darüber informiert ein Gespräch mit Ingrid Sonntag (77 -87). Als sie abschließend Roland Links fragt, was sein erstes heimlich gelesenes Buch gewesen sei, nennt er Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ – die literarische Abrechnung mit Stalins Schauprozessen, die das Ende einer Illusion markieren.

 

© Rüdiger Thomas

Büchermachen als Lebensgeschichte

Büchermachen als Lebensgeschichte

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Büchermachen als Lebensgeschichte

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

 

Erhard Frommhold. Lektor und Publizist. Zusammengestellt und erarbeitet von Hildtrud Ebert. Herausgegeben von der Akademie der Künste Archiv. Archiv-Blätter 17 (Berlin Mai 2008), 200 S.,     € 7,50

 

Die Verlagsgeschichte der DDR ist nicht nur eine Geschichte politischer Reglementierung, von Zensur und ideologischer Vor-mundschaft. Sie ist vor allem auch eine Geschichte kreativer Büchermacher. Sie haben ideenreich, listig, mutig und beharrlich Publikationen realisiert, die von weltsüchtigen Lesern als Bückware geadelt wurden. Es waren Verleger wie Roland Links (der seit 1979 die Verlagsgruppe Gustav Kiepenheuer Leipzig führte), aber auch Lektoren wie Dietrich Simon (der bei Volk und Welt die deutschsprachige Literatur verantwortete), die sich  – mehr noch als die öffentlichkeitswirksam agierenden Großverleger Elmar Faber und Hans Marquardt – bleibende Verdienste um die Vermittlung der literarischen Moderne in der DDR erworben haben. Zu diesen kreativen Persönlichkeiten zählt – wie wenige andere – auch Erhard Frommhold, der fast 40 Jahre als Lektor und Cheflektor (seit 1958) im Dresdner Verlag der Kunst dessen Programmangebot maßgeblich geprägt hat.

1928 im sächsischen Altenberg geboren, in einer antifaschistischen Arbeiterfamilie aufgewachsen, lernt er zunächst das Klempnerhandwerk und muss als Sechzehnjähriger noch in Hitlers Krieg ziehen. Nach Abschluss eines Studiums der Sozialwissenschaften, Literatur- und Kunstgeschichte kurzzeitig im thüringischen Ministerium für Volksbildung tätig, wirkte Erhard Frommhold vier Jahrzehnte lang bis zu seinem Ausscheiden 1992 als intellektuelles Kraftzentrum des Verlages der Kunst, „das nicht das Machbare, sondern stets das Mögliche erwogen hat“. (8) So würdigt Hildtrud Ebert den Lektor und Kunstpublizisten in einer konzisen Auswahl von Texten Frommholds, die einen eindrucksvollen Einblick in Denkweise und Haltung einer inspirierenden Persönlichkeit aus dem Kulturleben der DDR erlauben, der im Westen Deutschlands nicht hinreichend bekannt geworden ist.

Frommholds Opus magnum ist sein 1968 erschienenes großformatiges Buch „Kunst im Widerstand“, das den Untertitel „Malerei, Graphik, Plastik 1922 – 1945“ trägt. Die von Hildtrud Ebert kenntnisreich eingeleitete Edition dokumentiert u. a. ein erstes Konzept zu diesem Hauptwerk Löfflers, das bereits 1957 entstanden ist. Der opulent ausgestattete Bildband, der Arbeiten von mehr als 300 Künstlern dokumentiert, zeigt neben zahlreichen Arbeiten, die in der Tradition realistischer Kunst stehen, auch Bilder und Skulpturen u. a. von Beckmann, Chagall, Max Ernst, Feininger, Klee, Kokoschka, Laurens, Léger, Lipschitz, Miro, Moore, Picasso, Schwitters und Ossip Zadkine, die in der DDR als formalistisch abgelehnt wurden. Das Buch, seinerzeit ein fulminanter Bestseller, fand internationale Beach-tung und vielfältiges Lob, u. a. in einem Brief des berühmten Pariser Picasso-Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler (73), stieß wegen seines unbestechlichen kunsthistorischen Blicks aber auf heftige Kritik engstirniger „Kulturwebel“ (Alfred Kantorowicz), die im Juni 1969 zur Einleitung eines Parteiverfahrens führte. Anschließend wurde Frommhold die Funktion des Cheflektors zeitweilig (bis 1973) entzogen.

Nachdem Frommhold 1959 mit Ernst Fischers Band „Von der Notwendigkeit der Kunst“ die Fundus-Reihe gestartet hatte, die u. a. wichtige Dokumente und Kommentare zur Kunst- und Kulturtheorie versammelte, sollte er wenig später erstmals den Argwohn der Parteifunktionäre erwecken. Obwohl er 1958 die viel beachtete Wiederentdeckung des bedeutenden Fotografen Helmar Lerski eingeleitetet hatte, musste er im Herbst 1962 erleben, dass die Veröffentlichung eines bereits fertiggestellten zweiten Buches „Metamorphosen – Verwandlungen durch Licht“ an einer rigiden Zensur scheiterte, die sich über vorgeblich „technisch raffinierte(n) Taschenspielertricks“ entrüstete. (16) Doch Frommhold ließ sich durch solche schockierende Erfahrungen, die ihm in einem Parteiverfahren eine Verwarnung eintrugen, nicht entmutigen: 1967 erschien die grundlegende Monografie über den russischen Konstruktivisten El Lissitzky, „einen bilderstürmenden Avantgardisten – formalistisch durch und durch. Wie durch ein Wunder blieb es von Verriss und Verbot verschont. Dass es überhaupt erschien, verdankt es der Servilität der DDR-Behörden gegenüber sowjetischen Institutionen. (…) Mitte der 1960er Jahre nahm Frommhold Kontakt zu Sophie Lissitzky-Küppers, der Witwe des Künstlers, im fernen Nowosibirsk auf. Dort verfasste sie das Manuskript, aus dem der spätere Buchtext hervorgehen sollte. Eine sowjetische Behörde genehmigte den ‚Export’ der vielen, dichtbeschriebenen Seiten, die vermutlich in Moskau niemand lesen konnte. In der DDR traute sich keiner, deren Entscheidung anzuzweifeln.“ (18)

Die Veröffentlichungen, die dieser engagierte Büchermacher unter schwierigen kulturpolitischen Rahmenbedingungen ermöglicht hat, lassen sich hier nicht annähernd bilanzieren und würdigen. Das lesenswerte Buch von Hildtrud Ebert gibt darüber ebenso anschaulich Auskunft wie über eine besondere Eigenschaft Frommholds, die ihn als Menschen lebendig werden lässt. Er hat viele Freundschaften  zu Künstlern und Kunstwissenschaftlern in aller Welt gepflegt und war jungen Künstlern und vielen aus der nachfolgenden Generation der Kunstwissenschaftler ein inspirierender Berater und ein ermutigendes Vorbild. So ist dieses gelungene Buch ein kleines Denkmal für einen unabhängigen Geist, der vor einem Jahr am 17. Oktober 2007 in Dresden gestorben ist.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Deutschland Archiv, 41. Jg. (2008), H. 6, S. 1129-1130.