Die Welt als Comic – 50 Jahre MOSAIK

 

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Die Welt als Comic – 50 Jahre MOSAIK

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2005

Die Welt als Comic – 50 Jahre MOSAIK

Kennen Sie Ritter Runkel? Wer diese Frage nicht beantworten kann, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Altbundesrepublikaner. Ritter Runkel von Rübenstein, der von 1964 bis 1969 die Welt zwischen Venedig und dem Persischen Golf unsicher machte, ist nach den legendären Digedags die wohl bekannteste Figur aus dem Comic-Magazin „MOSAIK von Hannes Hegen“: „Er stammt aus Franken und ist eine Mischung aus Dreistigkeit und Dummheit, dabei aber so liebenswert, dass er im Gedächtnis vieler Menschen der ehemaligen DDR voll verankert ist.“1  In einer 1995 durchgeführten Umfrage kannten 90 Prozent der Ostdeutschen diesen „Rittersmann von Schrot und Korn“(Henry Böhm), dar- unter auch viele Personen, die das MOSAIK nie selbst gelesen hatten.

Das erste „MOSAIK von Hannes Hegen“ erschien am 23. Dezember 1955. Es war sozusagen ein Weihnachtsgeschenk an die jungen DDR- Comicfans, ein Trost für die fast unerreichbaren, begehrten West-Comics – in dem gleichen Jahr, das die Spaltung der jeweils einseitig souverän gewordenen Deutschländer mit der Integration der beiden deutschen Staaten in die antagonistischen Blöcke auf unabsehbare Zeit zementiert hatte. So war das MOSAIK ein Kind des Kalten Krieges, das sich allerdings von den Agitationsformeln der ideologischen Konfrontation so weit wie möglich fern zu halten suchte, indem es seine Abenteuer in entlegene Jahrhunderte verlegte und dabei die Grenzen von Raum und Zeit sprengte.

West-Comics und DDR-Bildgeschichten

„Über wenige Fragen der Kulturgeschichte gibt es mehr Uneinigkeit als über Geburtsstunde, Geburtsland und Geburtshelfer des Comics.“2 Erste Cartoon-Hefte, die sich den Ruhm origineller Karikaturisten aneigneten, indem sie eigene Kompilationen auf den Markt brachten, entstanden in England bereits in den 1880er Jahren, am erfolgreichsten war Funny Cuts (1890). Doch der moderne Comic ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA erfunden worden, als die New York World 1895 in ihrer Sonntagsbeilage eine regelmäßige Serie mit den Geschichten des Yellow Kid kreierte, der zwei Jahre später The Katzenjammer Kids des deutschstämmigen Rudolph Dirks folgten. Seit 1929 hat der Comic-Held Tarzan seine Leser gefesselt, im folgenden Jahr betritt Micky Mouse die Szene der Comic-World, 1938 erobert Superman, vier Jahre später Donald Duck das Terrain des neuen Massenmediums, das sich in den USA dauerhaft großer Beliebtheit erfreuen sollte.

Die Geburt des europäischen Comics erfolgt am Ende der 1920er Jahre in Frankreich und Belgien, wo Kinderbeilagen von Zeitungen und spezielle Jugendmagazine dieses neue Medium nutzen. Als im Januar 1929 der belgische Zeichner Georges Rémy die erste Folge seiner Tintin-Geschichten (deutsch: Tim und Struppi) veröffentlicht, beginnt die einzigartige Erfolgsserie des Comic-Künstlers Hergé (so sein Pseudonym), die 60 Jahre andauern sollte.3 In Deutschland finden die Bildergeschichten von Vater und Sohn, die Erich Ohser (E. 0. Plauen) zwischen 1934 und 1937 publiziert, große Resonanz, und seit 1937 erscheint in Zürich die erste deutschsprachige Micky Maus Zeitung (18 Hefte bis 1945). In Deutschland kommt 1951 die erste Ausgabe des Wochenbilderblattes Micky Maus heraus, und 1953 startet Rolf Kauka mit Fix und Foxi den beliebtesten und erfolgreichsten deutschen Kinder-Comic. Doch  nach dem Ende des 2. Weltkrieges begründet vor allem der Import der amerikanischen Comics die Erfolgsgeschichte dieses Genres, das im wachsenden Maße junge Leser zwischen acht und 18 Jahren erreicht. In Europa bildet sich wieder seit Mitte der 1950er Jahre eine eigene Comic-Tradition heraus, die einen ersten, unübertroffenen Höhepunkt in den Asterix-Comics des Zeichners Albert Uderzo und des Texters René Goscinny (seit Oktober 1959) erreicht.4 Während im westlichen Deutschland der Comic als bildnerisch-literarische Ausdrucksform eher gering geschätzt und häufig als zweifelhaftes Produkt der Massenkultur abgewertet worden ist, hat er sich in Frankreich auch bei engagierten Literaturfreunden ein beachtliches Prestige erworben.5

In der DDR wurden Comics als Ausdruck der „amerikanischen Unkultur“ strikt abgelehnt, ihre in „Sprechblasen“ und lautmalerischen Kunstwörtern ausgedrückter Handlungsablauf wurde als bildungsfeindlicher „Analphabetismus“ gebrandmarkt. Aber die Agitprop-Funktionäre, die sich vielleicht noch an die populären ROSTA-Fenster der russischen Revolutionszeit erinnerten6, konnten sich dem Reiz des suggestiven Massenmediums mit seinen eingängigen  Geschichten und spannenden Abenteuern nicht völlig entziehen. Weil der Comic aus ideologischen Gründen ein skandalisiertes Tabu war, mussten nicht nur andere Inhalte, sondern auch ein neuer Name gefunden werden, und so gab es schließlich in der DDR nach einem Vorschlag von Ludwig Renn statt Comics lediglich „Bildgeschichten“ zu lesen.

Schon die 1946 gegründete Satirezeitschrift Frischer Wind brachte seit 1949 plakativ-agitatorische Bildgeschichten, die seit 1954 auch der Nachfolger Eulenspiegel enthielt. Das Magazin -wenn man nicht zu den glücklichen Abonnenten zählte, eine fast unerreichbare Bückware – präsentierte bereits in seiner ersten Ausgabe am Jahresbeginn 1954 den Comic Waputa, die Geierkralle von Herbert Reschke, der alle 12 Hefte des ersten Jahrgangs begleitete. Zeichnerisch ambitioniert und durchaus attraktiv, attackierte die Bilderserie die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik eher grobschlächtig als ironisch. Selbst das SED-Zentralorgan Neues Deutschland experimentierte kurze Zeit mit diesem, in seiner westlichen Ausprägung verpönten und verbotenen Genre der Massenkultur. Seit dem Jahreswechsel 1954/55 erschien dort einige Monate lang die von Harry Berein gezeichnete Serie Die lustigen Abenteuer von Pit und Pat. Es ist die Geschichte von einem Pinguin und einem Elefanten, deren Irrfahrt als blinde Passagiere sie nach Island führt, wo sie zunächst in einem amerikanischen Militärgefängnis landen, bevor sie die „USA-Imperialisten“ von der Insel vertreiben, das Happyend vereint sie schließlich im (Ost-)Berliner Tierpark. Besonders aufschlussreich ist die Geschichte einer gezeichneten Sciencefiction-Serie Die Reise zu den Proximanen von Erich Schmitt, die zuerst 1956 in der Wochenpost erschien. Damals wurden die Abenteuer in der Weltraumfähre noch von einer gesamtdeutschen Crew bestanden, zu diesem Zeitpunkt eine ideologisch sanktionierte Reverenz an das mühevolle Zustande-kommen der ersten gesamtdeutschen Olympia-Mannschaft. Bei ihrem Wiederabdruck in der Berliner Zeitung trat elf Jahre später allerdings eine sowjetisch-ostdeutsche Besatzung in Aktion.

Diese Beispiele zeigen, dass die  bescheidenen Experimente mit Bildgeschichten in der ersten Hälfte der 1950er Jahre in hohem Maße ideologisch instrumentalisiert worden sind. Und diese Zielsetzung wurde mit gleichem Nachdruck verfolgt, als Bildgeschichten in das von der FDJ installierte Kinder- und Pioniermagazin „Frösi“ aufgenommen wurden, dessen erste Ausgabe – acht Tage nach dem Arbeiteraufstand! – am 25. Juni 1953 noch unter dem ursprünglichen Titel Fröhlich sein und singen7 herauskam, bevor sich nach kurzer Zeit das weniger pädagogisch anmutende Kürzel und Kunstwort durchsetzte. Während „Frösi“ eine breite Themenpalette abdeckte, wobei allerdings eine politisch-ideologische Zielsetzung im Vordergrund stand, enthielt die seit April 1955 monatlich erscheinende Zeitschrift der Jungen Pioniere „Atze“ ausschließlich Bildgeschichten.8 Atze war der Held der Titel gebenden Bilder-Story, doch sein Erfinder Jürgen Kieser hatte den größten Erfolg mit seinen gezeichneten Abenteuern der beiden Mäuse Fix und Fax, die seit 1957 regelmäßig in insgesamt 358 Folgen veröffentlicht wurden. Die beiden Namen dürften absichtsvoll Rolf Kaukas westdeutschem Erfolgs-Comic-Magazin Fix und Foxi ähneln: zwei Füchsen, die erstmals 1953 das Licht der Comic-Welt erblickt hatten und sich bei den bundesrepublikanischen Kids als eigenständige Variante zu den amerikanischen Micky-Mouse-Geschichten großer Beliebtheit erfreuten.9

Der Comic als Klassenfeind

Seit ihrem ersten Erscheinen auf der offiziellen Lesebühne der DDR wurden die Bildgeschichten von den argwöhnischen Wächtern der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ (Robert Havemann) mit Skepsis betrachtet, und ihr bescheidener Karrierestart in der DDR war nur möglich, nachdem eine prinzipielle Abgrenzung gegenüber den Comic-Erzeugnissen aus dem Westen erfolgt war. Mitunter kam dieses Bemühen Don Quichottes Kampf gegen Windmühlen gleich. Denn bei Kindern und Jugendlichen waren die westlichen Comics, vor allem Micky Mouse und Tarzan, äußerst beliebt, sie waren Tauschobjekte mit höheren Wechselkursen als zwischen den beiden deutschen Geldwährungen. So kam es zu grotesken und schockierenden Abwehrreaktionen gegen das Konkurrenzmedium aus dem Westen, die 1955 einen Höhepunkt erreichten. Im Mai wurde im Berliner VEB Elektrokohle eine Art Schauprozess gegen die West-Comics inszeniert, in dessen Mittelpunkt Tarzan stand. Die beliebte amerikanische Abenteuer-Serie wurde dabei schließlich sogar für den Mord einer Berliner Jugendbande verantwortlich gemacht, womit ein Anlass konstruiert worden war, alle Comics pauschal als westliche Schmutz- und Schundprodukte an den Pranger zu stellen. Wenig später, am 1. Juni 1955, verbrannten irregeleitete FDJ-Mitglieder in einer Schule in Berlin-Pankow  Comics und andere „Schmöker“ in einem demonstrativen öffentlichen Akt. Mit diesen Aktionen sollte offenbar Stimmung für Eingriffe der Gesetzgebung gemacht werden. In der Verordnung zum Schutze der Jugend vom 15. September 1955 wird in § 3 (1) verfügt, „dass Schund- und Schmutzerzeugnisse, insbesondere in Form von Schriften, Abbildungen und Darstellungen“ weder in der DDR hergestellt oder verbreitet noch in die DDR eingeführt werden dürfen. § 3 (3) bestimmt: „Die Erziehungspflichtigen (sic!) sind verantwortlich, dass Kinder und Jugendliche Schund- und Schmutzerzeugnisse nicht in die Hand bekommen. Sie sind verpflichtet, ihnen diese abzunehmen. (…)  (4) In Schulen, Heimen, Lehrwerkstätten, Ferienlagern und anderen Einrichtungen dieser Art sind durch die Leiter regelmäßig Kontrollen nach Schund- und Schmutzerzeugnissen zu veranlassen.  (5) Schund- und Schmutzerzeugnisse sind selbständig durch die Deutsche Volkspolizei einzuziehen und zu vernichten.“ Als Strafandrohung bei Zuwiderhandlung legt § 10 der Verordnung neben Geldstrafen bis zu zwei Jahren Gefängnis fest.10

Das Feld, auf dem die Bildgeschichten wachsen, ist also vermintes Gelände. Wer es betritt, muss listig und erfindungsreich sein, wie es Hannes Hegen, der Gründer des MOSAIK gewesen ist – und nebenbei auch eine Portion Glück haben, um der Gedankenpolizei zu entgehen. Johannes Hegenbarth, ein Neffe des Dresdner Malers und Grafikers Josef Hegenbarth, wurde vor 80 Jahren (am 16. Mai 1925) in Böhmisch-Kamnitz geboren, studierte seit 1943 in Wien und von 1947 bis 1950 an der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst. Von 1950 bis 1954 war er beim Frischen Wind tätig und veröffentlichte anschließend unter dem Namen „Johannes“ u. a. im Eulenspiegel und Magazin. „Die Legende sagt, dass er just, als man im Verlag Neues Leben über die Herausgabe einer Comic-Zeitschrift nachdachte, mit den Entwürfen für eine Bildzeitschrift namens MOSAIK dort anklopfte.“11

Was folgt sind gesicherte Fakten: Der Comic-Zeichner Hannes Hegen realisierte sein Projekt in einer einzigartigen Konstellation, als Privatunternehmer mit Beteiligung der staatlichen Jugendorganisation FDJ. Er führte seine kreative Werkstatt nicht nur in Eigenregie, mit eigenen Urheberrechten, sondern mehr als ein Jahr auch weitgehend im Alleingang. Nachdem die ersten fünf Hefte im vierteljährlichen Turnus herausgekommen waren, wurde wegen der großen Resonanz ab Juni 1957 eine monatliche Erscheinungs-weise vereinbart, die weit reichende organisatorische Maßnahmen erforderte. Hegen erwarb in Karlshorst ein Haus, in dem seit März 1957 ein größeres Team von Entwurf-Zeichnern, Grafikern und Textern arbeiten konnte, die zweimal wöchentlich in der „Spinnstube“ ihre neuen Hefte entwickelten. Die von Hegen eingestellten Mitarbeiter wurden vom Verlag Neues Leben bezahlt. Im Herbst 1957 stieß Lothar Dräger zum MOSAIK  – er wurde zur wichtigsten Person für die Geschichte des Comic-Magazins nach seinem Erfinder Hegen. Dräger, zwei Jahre jünger als Hegen, war ausgebildeter Opernsänger, was seinen Sinn für dramatische Aktionen angeregt haben dürfte. Er war seit Heft 11 (das im Oktober 1957 erschien) nicht nur für zahlreiche Exposés verantwortlich, sondern wurde auch zum wichtigsten Textautor von MOSAIK und seiner zeitweiligen Beilage, bevor er nach Hegens Ausscheiden aus dem MOSAIK im Januar 1976 selbst zum entscheidenden Promoter des Neubeginns mit der Comic-Figurengruppe der „Abrafaxe“ avancierte.12

Die Karriere der Digedags

Hegen war der Erfinder der drei Digedags, die Kultstatus in der DDR erreichten. Diese drei legendär gewordenen koboldartigen Wesen unterscheiden sich in Physiognomie, Profil und Charakter: Der schwarzhaarige rundköpfige Dig ist ein intelligenter, voltenschlagender Besserwisser; der gelbblonde, mit einem birnenförmigen Kopf ausgestattete Dag ist sein vergnügtes, eigensinnig-antiautoritäres Gegenstück; und der rothaarige Digedag mit langgestrecktem Kopf ist ein manchmal unbeherrschter, gelegentlich jähzorniger Tunichtgut. Eifrige Comic-Forscher haben ausgerechnet, dass Dig mit 8539 Auftritten, Dag knapp (8350) und Digedag deutlich (3232) übertrifft. (Ritter Runkel von Rübenstein bringt es mit einer allerdings deutlich kürzeren Lebenszeit von nur etwa fünf Comic-Jahren immerhin auf 1745 Auftritte.) Die Digedags agierten u. a. als Zirkusunternehmer, Weltraumfahrer und Erfinder. Bei ihren Abenteuern machten sie 59 Erfindungen und wurden dreizehnmal verhaftet. „Wenn das nicht eine interessante DDR-Karriere war!“13 Die drei Digedags sind (mit Ausnahme der beiden Hefte 3 und 5, in denen – der amerikanischen Tradition folgend –  offenbar versuchsweise „Funny Animals“ agieren) über 20 Jahre hinweg die ständig wiederkehrenden Leitfiguren einer Fülle von wechselvollen Geschichten mit unterschiedlichen Sujets, ihre Spur lässt sich durch das Digedag-Universum verfolgen14, das 223 Originalausgaben und sechs Nachdrucke (Hefte 224 bis 229) umfasst, bevor Hannes Hegen Ende 1975 aus dem MOSAIK-Unternehmen ausscheidet.

Die Karriere der Digedags beginnt in der Südsee, ehe sie das alte Rom – noch ein Jahr vor Asterix – entdecken. Von dort begeben sie sich nach einer spektakulären Entführung auf eine Reise in den Weltraum, wo sie auf dem NEOS-Planeten landen. Die Abenteuer auf diesem erfundenen Planeten sind offenkundig durch den spektakulären sowjetischen Sputnik-Start am 5. Oktober 1957 angestoßen und von politischer Seite forciert worden. Die NEOS-Serie wird durch Begegnungen mit bedeu-tenden Entdeckern und ihren spektakulären Experimenten abge-löst, unter denen sich lediglich eine Episode befindet, die recht eindeutig auf den Versuch anspielt, in der DDR eine eigene Flugzeug-Industrie zu entwickeln. (Es handelt sich um die Hefte 37 und 38, die um die „Maschine CB-5“ kreisen.) Vorschläge des Chefredakteurs Hans Donhof, weitere aktuelle Themen aus Wirtschaft und Technik in der DDR aufzugreifen, stießen bei den MOSAIK-Machern auf wenig Gegenliebe. Im Mai 1964 beginnt mit einer „Reise nach Venedig“ die Serie mit den Abenteuern von Ritter Runkel, die nach fünf Jahren im Juni 1969 mit seiner „großen Stunde“ endet, in der er zum „Grafen“ ernannt wird. Das ironische Happyend wird mit der anspielungsreichen Sentenz beschlossen: „Ein Ritter, wird er einmal Graf, folgt seinem Fürst besonders brav!“ Die nachfolgende Amerika-Serie führt die Leser u. a. nach New Orleans, zum Mississippi, zum Missouri und zu den Rocky Mountains, zu den Indianern, und schließlich nach New York. Hegens Comic-Geschichten enden im Juni 1975 mit einer Reise der Digedags in den Orient, im zweiten Halbjahr 1975 werden noch einmal die ersten sechs Hefte der Runkel-Serie nachgedruckt, bevor im Januar 1976 die Abrafaxe ihre Abenteuer unter der Regie Lothar Drägers starten.

Anfeindungen und Erfolge

Es wäre durchaus reizvoll, das „MOSAIK von Hannes Hegen“ inhaltsanalytisch zu untersuchen. Auf diese Weise könnte am besten geklärt werden, in welchem Maße dieses Comic-Magazin unter Hegens Leitung eine eigen-sinnige Spur verfolgt hat und welche ideologischen Konzessionen nachweisbar sind. Solche Untersuchungen fehlen bisher weitgehend, und die  aufschlussreiche, sorgfältig recherchierte Studie von Thomas Kramer „Liebster, ich werd Fliegerin“15 ist dafür nur sehr bedingt geeignet, weil sie ein DDR-spezifisches Gegenwartsthema aufgreift, das im MOSAIK eine Ausnahmeerscheinung darstellt. Die Geschichte politischer Anfeindungen, denen MOSAIK bereits seit 1957 ausgesetzt war, die im „Anti-Mosaik-Jahr“ 1960 einen Höhepunkt erreichten und 1964 in dem gescheiterten Versuch enden, das bei seinen Lesern ebenso beliebte wie von den ideologischen Tugendwächtern ungeliebte Bildermagazin durch ein Alternativprodukt zu ersetzen, unterstreichen allerdings eindrücklich, dass die Jugend-funktionäre mit MOSAIK und seinen Botschaften höchst unzufrieden waren.

Wer MOSAIK betrachtete und las, drang damit in einen entgrenzten Freiraum ein, der die eigene Phantasie anregte, ästhetische Alternativen aufzeigte, historische Kenntnisse auf spielerische Weise vermittelte, wo die Lehrpläne des Geschichtsunterrichts nur weiße Flecken aufwiesen, und die Entdeckung von Ländern und Regionen ermöglichte, die dem realen Leben eines DDR-Bürgers verschlossen blieben. Dieses Bildungsmotiv wird in einem Schreiben von Hannes Hegen an die Leitung der Pionier-organisation deutlich, mit dem er für sich und seine engsten Mitarbeiter eine Studienreise in die Volksrepublik China beantragt: „Im Mai 1964 beginnt MOSAIK mit einem großen Bildroman, in dessen Verlauf die Digedags auf den Spuren von Marco Polo von Venedig aus über den Orient, die Mongolei und Tibet nach China und Korea ziehen werden. Es ist schon immer das Bestreben von MOSAIK gewesen, (…)sehr viel Wissenswertes über die verschiedenen Völker und ihre Kulturen, über Länderkunde, Architektur und Kunst zu vermitteln.“16 Ob Ritter Runkel die avisierte Reise in die Mongolei, nach Tibet und Korea versäumen musste, weil seinen Erfindern diese Reise – auch ein Signal politischen Unmuts – versagt blieb? Hegen und seine Mitarbeiter hatten jedenfalls in den Vorjahren schwierigere Anfeindungen zu überstehen, als diese Enttäuschung vermuten lässt.

Das MOSAIK, das mit einer Auflage von 150.000 Exemplaren gestartet war, erreichte mit Heft 3 bereits die Viertelmillion, doch diese wachsende Nachfrage, die zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd befriedigt werden konnte, war nicht nur Ausdruck lebhafter Begeisterung, sie rief auch die ideologischen Tugendwächter auf den Plan, die sich schon nach kurzer Zeit mit ersten diffamierenden Kommentaren zu Wort meldeten. Als ein Jugendlicher, der mit Sprengmitteln experimentierte, einen Unfall erlitt, wurde – wie Lothar Dräger berichtet hat – die „Anleitung zum Herstellen von Schießpulver in den Mosaik-Heften“ (7 und 8)  als Ursache dieses Unglücks verdächtigt.17 Zur Besänftigung des aufkommenden Argwohns erhielt das MOSAIK ab 1958 eine Beilage aus dem Pionierleben, in der die Helden „Klaus und Hein“ mit guten Taten, etwa beim Energiesparen im Kampf gegen den „Wattfraß“, in Szene gesetzt wurden. Diese Beilage mit dem Namen „Steinchen an Steinchen“, ein seltsamer Fremdkörper, wurde im September 1962 eingestellt.

Ein Wechsel vom Verlag Neues Leben zum deutlich politischer ausgerichteten Verlag Junge Welt am Beginn des Jahres 1960 sollte zu einer ideologischen Disziplinierung der MOSAIK- Macher beitragen. Diesem Ziel diente auch die Ablösung des bisherigen Chefredakteurs Hans Donhof durch Hans Erhard, der zunächst kommissarisch am 4. Januar 1960 diese Funktion mit unklaren Kompetenzen übernahm und sich bemühte, das MOSAIK an die Pionierzeitschrift Frösi zu koppeln. Wie interne Akten, die nach der Wende im Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung archiviert worden sind, eindeutig belegen, erwies sich Erhard als willfähriger Gehilfe der MOSAIK-Gegner im Funktionärsapparat.  Erhard hatte kaum sein Amt angetreten, da distanzierte er sich bereits intern von der im Dezember 1958 gestarteten NEOS-Serie, der er „Objektivismus“ vorwarf: „Die Serie handelt schon seit fünfzehn Monaten auf dem NEOS, einem unbekannten Planeten mit Bewohnern ohne jede Gesellschaftsordnung.“18 Wie sehr sich dieser Ordnungsfanatiker politisch instrumentalisieren ließ und wie ignorant er sich verhielt, zeigt die Tatsache, dass sich auf dem NEOS die Republikanische Union und das Großneonische Reich gegenüberstanden, die durchaus Affinitäten zur sozialistischen bzw. kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufweisen.

Mangelnde Parteilichkeit lautet der wiederholt erhobene Hauptvorwurf der Funktionäre gegen das MOSAIK, und geradezu entrüstet wird über das im August 1960 erschienene, besonders beliebte Heft 45 („Ziolkowski weist den Weg“) geurteilt: „Hier sind die Professoren trottelhaft, fachidiotisch und lebensfremd dargestellt. (…) Hier wird ganz deutlich, dass die Digedags zum Hindernis für eine wirklichkeitsnahe Gestaltung unserer Zukunft werden.“19 Hinter dem Vorwand einer Kritik am Dilettantismus der Heft-Autoren verbirgt sich der Unmut über den fröhlich-ironischen Umgang mit dem Abenteuer der Entdeckungen, die hier dem russischen Urahn der Weltraumrakete gelten und zu den bildästhetisch gelungensten Heften Hegens gehören.

Ausgerechnet am „Tag der Republik“ (7. Oktober) 1960 startete die Deutsche Lehrerzeitung eine Debatte um das MOSAIK, in der sich eingangs ein Lehrerkorrespondent über die „scheußlichen Fratzen (…) erschrocken“ zeigte, gleichzeitig aber auch die guten Kenntnisse eines MOSAIK lesenden Schülers über die Raumfahrt lobte.20 In den fünf folgenden Ausgaben kommen neben pole-mischen Beiträgen auch positive Stimmen zu Wort21, bevor Mitte November der kabarettreife Brief eines völlig humorlosen Ordnungsfanatikers einen absurden Schlusspunkt setzt: „Mit Begeisterung wird an niedrige Instinkte der Kinder appelliert. Die Digedags stoßen sich die Köpfe beulig und sehen dabei Sterne, wenig später fallen sie in ein Bohrloch und sehen wieder Sterne. Beim Überschlagen des Hauses bekommt Dig die Küchengeräte übergestülpt und eine Wasserdusche dazu. Dag empfindet Schadenfreude (…) Einen Wert erhalten die Bildgeschichten einzig und allein durch die gut eingefügten Erläuterungen der Braunkohlenindustrie (…).“22 Bemerkenswert war an dieser Debatte vor allem, dass sich ein Frösi-Redakteur daran beteiligte und die politische Absicht erkennen ließ, die damit verbunden war, nämlich das„MOSAIK  in irgendeiner Form unter Kontrolle von Frösi zu bringen: „Mosaik stieß unsererseits auf stärkste Kritik. Es war unverantwortlich, dieses Bilderheft weiterhin so zu gestalten, wie es in der Vergangenheit geschah. Weder die unschönen Gesichter noch Inhalt und Handlung der einzelnen Figuren (Krieg zwischen zwei Welten) waren zu vertreten.“23 Der Druck, der auf Hegen ausgeübt wurde, war so stark, dass er beinahe resigniert hätte. Doch kam unerwartet nachdrückliche Unterstützung von prominenter Seite. Kein Geringerer als Manfred von Ardenne outete sich als Digedag-Fan, und die Ehefrau von Horst Sindermann,  der seinerzeit Leiter der Abteilung Agitation und Propaganda im ZK der SED war, bekannte, auch ihre Kinder würden gern MOSAIK lesen.24

Diese öffentlich bekundete Zustimmung zu einem Magazin, das sinnfällig und buchstäblich grenzüberschreitend war, verschaffte Hegen und seinem Team  aber nur eine kurze Ruhepause. Lothar Dräger berichtet von Störmanövern des neuen ungeliebten Verlages Junge Welt gegen das erfolgreiche Comic-Magazin, nachdem Heft 50 mit dem hintersinnigen Titel „Das letzte Fest“ im Januar 1961 erschienen war: „So wurde uns eines Tages mitgeteilt, unsere Verträge seien gekündigt, das Atelier in Karlshorst würde geschlossen und Schreibtische und Stühle würden auch demnächst abgeholt. ’Das letzte Fest’ (…) erhielt durch diese Ereignisse eine beinahe schicksalhafte Bedeutung.“25 Doch hielten die öffentlichen Sympathiebekundungen die unmutigen Jugend-funktionäre von weiteren rigorosen Maßnahmen vorerst ab. Und Hegen ließ Goodwill in einer Nebensächlichkeit erkennen, die bei den argwöhnischen Kritikern seines Magazins aber bereits als anstößig und verdächtig galt. Seit Januar 1962 verzichtete er auf die angefeindeten amerikanischen „Sprechblasen“, die er durch geschlossene Textblöcke, unter den Zeichnungen platziert, ersetzte.

Mit solchen Äußerlichkeiten mochten sich freilich Hegens Gegner nicht zufrieden geben, zumal der Wechsel in der Funktion des Chefredakteurs von Hans Erhard zu Wolfgang Altenburger ihre Erwartungen an einen disziplinierenden Effekt kaum erfüllte, auch wenn zwischen Hegen und Altenburger anfangs persönliche Kon-flikte ausgetragen wurden, die bis zu einem zeitweiligen Hausverbot Altenburgers reichten. Altenburger (Jahrgang 1931) war ursprünglich Bergmann, seit 1956 Pionierleiter und Instrukteur beim FDJ-Zentralrat für Touristik und Wandern, gleichzeitig Redakteur im Verlag Junge Welt, bevor er in Leipzig von 1960 bis 1962 Journalistik studierte und mit einer  Diplomarbeit über „Die besonderen Aufgaben der Bilderzeitschrift im System der Kinderpresse der DDR“ abschloss. Obwohl politisch zuverlässig, seit 1948 Mitglied der SED, entwickelte er sich zu einem Verfechter der Bildergeschichten, für die er im MOSAIK-Verbund und seit 1967 zusätzlich als Chefredakteur von Atze auch als Comic-Texter aktiv wurde. Im Verlag Junge Welt wurde unter diesen Umständen der Versuch unternommen, das MOSAIK durch ein Reißbrettprojekt „Kristall“ zu verdrängen, das ideologisch lupenrein sein und gleichzeitig „auf lockere, abenteuerliche Art und Weise“26 eine breite Leserschaft erreichen sollte. Diesen Vorsatz zu verwirklichen hätte nichts weniger als die Quadratur des Digedag-Universums bedeutet. So verwundert es nicht, dass auch der zweite Anlauf, der 1964 mit „Sturmvogel“ unternommen wurden, in einem Desaster endete. Nach der fünften Probenummer landete der „Sturmvogel“ in einem lautlosen Sinkflug auf dem Boden der Tatsache, dass das phantasievolle MOSAIK durch geschichtspropagandistische Elaborate, die beispielsweise dem Hamburger KPD-Aufstand von 1923 unter der Führung von Ernst Thälmann gewidmet waren, nicht ersetzt werden konnte – auch wenn die Leitung der Pionierorganisation  zunächst hoffnungsvoll konstatierte, dass diese Episode den Beifall von „Pädagogen und Arbeiterveteranen“ gefunden hätte.27

Nach diesen  desillusionierenden Erfahrungen bildete sich ein Modus vivendi heraus, der die Lage von Hegens MOSAIK für das folgende Jahrzehnt stabilisieren sollte. Das „MOSAIK von Hannes Hegen“ rangierte 1974 mit einer Gesamtauflage von rund 675.000 Exemplaren auf dem 9. Platz aller Zeitschriften und Wochenzeitungen in der DDR, deutlich vor Frösi (562.000) und dem Magazin (512.000), wobei die zugeteilten Papierkontingente eine höhere Auflage verhinderten. Thomas Kramer urteilt mit unverkennbarer Freude am Positionsgewinn: „Unterdessen hatten die Robin Woods im DDR-Blätterwald fleißig weiter Kuckuckseier ins Nest der kommunismusgläubigen Falken gelegt.“28 Aber die MOSAIK – Macher hatten mit ihrer Runkel-Serie auch selbst ein Spielfeld eröffnet, auf dem zwar turbulente Szenen dargeboten wurden, doch anstößige Sentenzen kaum zu entdecken waren.29

Von Hegens „MOSAIK“ zum Kollektiv der „Abrafaxe“

Das Ende von Hegens MOSAIK kam eher unerwartet und überraschend.30 Es war durch persönliche Konflikte im MOSAIK-Team, vor allem mit Lothar Dräger und Wolfgang Altenburger, angebahnt und durch drucktechnische Probleme verstärkt worden. Die Leipziger Druckerei war bei der erreichten Auflage, die deutlich die Halbmillionen-Grenze übertraf, mit dem Bogen-Offsetdruck an eine Kapazitätsgrenze gekommen. Die von Hegen angestrebte und auch vom Verlag gewünschte Auflagensteigerung hätte  den Übergang zum Rollen-Offsetdruck erfordert. Eine solche Umstellung war technisch nur realisierbar, wenn der Umfang des Heftes von bisher 24 auf 16 Seiten (plus Umschlag) reduziert wurde. Eine solche Reduzierung wollte Hegen nicht hinnehmen, er schlug stattdessen vor, alle zwei Monate ein Heft mit 32 Seiten herauszubringen. Diese Lösung scheiterte an den Verpflichtungen des Verlages Junge Welt gegenüber der Post, mit der eine monatliche Lieferung vereinbart war. Zu diesen drucktechnischen Problemen traten Meinungsverschiedenheiten zwischen Hegen und dem MOSAIK-Team über die Abrechnung von Tantiemen und Lizenzerlösen, bei denen sich die Mitarbeiter deutlich benachteiligt sahen. In dieser kritischen Situation sondierte Wolfgang Altenburger in einer Art stiller „Palastrevolution“, ob Lothar Dräger zur Nachfolge von Hannes Hegen als künstlerischer Leiter bereit sei. Nach Drägers Bereitschaftserklärung scheiterten Verhandlungen des Verlages Junge Welt über den Verkauf der Rechte an den drei Digedags an der von Hegen dafür geforderten Summe. Der Streit eskalierte bis in unmittelbare Nähe eines Prozesses, bevor das neue MOSAIK-Kollektiv unter der Leitung Drägers mit den drei Abrafaxen Abrax, Brabax und Califax eine schließlich von allen Beteiligten akzeptierte Lösung für einen Neustart fand, der im Januar 1956 erfolgte.31 Das Geheimnis der Abrafaxe lautet: Wenn sie ihre Hände übereinander legen, können sie durch Raum und Zeit reisen. Und sie bleiben jung, solange sie sich nicht trennen.32

Hannes Hegen hat  seine Urheberrechte seit dieser Zeit mit entschiedener Konsequenz und allen Mitteln verteidigt und nach der Wende und dem Ende der DDR die von ihm kreierten Comics seit 1992  in exklusiven, hochpreisigen Editionen (limitierten Reprintmappen und Jubiläumskassetten in Auflagen von je 3.000 Exemplaren) und verschiedenen Sammelbänden (mit Startauflagen von 15.000 Exemplaren) sehr erfolgreich weiter vermarkten können. Sie erscheinen im Verlag Junge Welt, der 1991 als Tochterunternehmen vollständig in den Besitz des Nürnberger Tessloff Verlags übergegangen ist. Daneben lassen vor allem die frühen Original-Hefte heute noch Sammlerherzen höher schlagen und erzielen hohe Preise. Am 12. November 2005 hat die 12. MOSAIK-Börse im Städtischen Kulturhaus Wolfen die zahlreichen Mitglieder diverser Fan-Clubs und leidenschaftliche Sammler, die inzwischen teilweise das Rentenalter erreicht haben, erneut zu vielfältigen Transaktionen vereint.33 „Ob Zahnarzt oder Postbote, Mikrobiologe oder Hochbauingenieur – Runkel kennt eben jeder“, hat der Autor des „Mosaik FanBuchs“ Thomas Kramer 1994 geäußert34, und diese Mutmaßung ist wohl gültig geblieben.

Es gibt verschiedene materialreiche Internet-Adressen, die kaum eine Information über das MOSAIK schuldig bleiben35  und eine beachtliche Sekundärliteratur. Der Kunstwissenschaftler Paul Thiel, Mitarbeiter in der Abteilung Museumspädagogik der Staatlichen Museen in (Ost-)Berlin, war der erste, der sich in der DDR mit dem MOSAIK beschäftigte. Ausgehend von einem frühen Plädoyer für den Comic in der Wochenpost,(1974), veröffentlichte er 1977 eine Studie „Mickymaus und Mosaik“, die für einen differenzierten und aufgeschlossenen Umgang mit dem Comic plädierte36 und gründete im gleichen Jahr mit Billigung der Museumsleitung eine „Arbeitsgemeinschaft Bildgeschichte“, die ihren bildästhetischen Reiz und ihr Fantasie förderndes Potenzial zu entdecken suchte und dabei auch Comic-Blicke über die Mauer warf.37 So konnte Thiel in der „Wochen-Zeitung für Thälmannpioniere und Schüler“ Trommel im ersten Halbjahr 1978 eine zehnteilige Artikelserie veröffentlichen, die auch Tarzan, Superman und Asterix vorstellte.38 Dass der Comic kunsthistorisch salonfähig geworden war, wurde auf überraschende Weise im „Lexikon der Kunst“ unterstrichen, dessen Neubearbeitung 1987 auch ein Stichwort „Bildgeschichte“ (ebenfalls von Paul Thiel verfasst) enthält, dabei allerdings nur die Geschichte des amerikanischen und westeuropäischen Comics resümiert, ohne auf die Entwicklung in der DDR auch nur mit einer Zeile einzugehen.39 Seit 1987 gab es in der DDR eine inoffizielle Fanzeitschrift „MOSAIK-Geschichte“(herausgegeben von Wolfgang Tiede), die illegal vervielfältigt und verbreitet werden musste. Erst 1988 wurde im Centre Culturel Francais in (Ost-)Berlin ein Überblick über französische Comics von den Anfängen 1935 bis 1987 unter großem Publikumsandrang präsentiert, mit einem Katalog, der durch die (West-)Berliner Elefanten Press verlegt wurde.

Einen krönender Abschluss und eine spektakuläre Reverenz an den Comic-Künstler Hannes Hegen bildete die von Volker Handloik zusammengestellte Ausstellung „Die Digedags: Ein Mythos“, die der ideenreiche Leipziger Selfmade-Galerist Gerd Harry („Judy“) Lybke im April 1990 in seiner Galerie „Eigen+Art“ präsentierte.40 Dass Hannes Hegen noch immer große Sympathie genießt, wurde an seinem 80. Geburtstag im Mai dieses Jahres deutlich. Neben zahlreichen Pressebeiträgen, die seinem Werk gewidmet waren41, gratulierte ihm auch der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck in einem persönlichen Schreiben: „Ihre Comics gehören zur DDR wie der Trabant. Während der uns höchstens bis Bulgarien fuhr, kamen wir mit den Digedags auch ins Weltall, in fremde Länder, sogar bis in die USA. Sie können stolz sein auf Ihr Lebenswerk. Sie haben nicht nur vielen Kindern und Jugendlichen mitreissende Abenteuer geschenkt. Sie haben sich auch stets standhaft zur Wehr gesetzt gegen politische Einflussversuche der DDR-Zensur.“42 Heute umfasst die Liste von Büchern und Broschüren mit Beiträgen über das „MOSAIK von Hannes Hegen“ über 2O Titel und mehr als 50 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel.43

Das neue MOSAIK, bis 1990 unter der künstlerischen Leitung von Lothar Dräger, hat nicht nur das Ende der DDR überlebt, sondern seine eigene Erfolgsgeschichte bis heute fortgesetzt. 1988 hatte es die Millionen-Grenze überschritten und war mit einer Gesamtauflage von 1.006.300 Exemplaren auf den 3.Platz der Zeitschriften und Wochenzeitungen in der DDR vorgerückt. Nur die Funk- und Fernsehzeitschrift FF dabei (1.378.925) und die Wochenpost (1.100.280) konnten seinerzeit höhere Auflagen vorweisen.44 Nach einer Übergangszeit im Verlag Junge Welt erscheint das Magazin bereits seit 1991 im Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag in Berlin. Nach dem Ausscheiden von Lothar Dräger hat zunächst Lona Rietschel (geb. 1933) die künstlerische Leitung beim MOSAIK übernommen. Seit 1960 bei Hannes Hegen als wichtigste Figurenzeichnerin tätig, hat sie das neue Trio der Abrafaxe erfolgreich in die Comic-Welt gesetzt. Als ihr Nachfolger leitet Jörg Berger bis heute das Gestalter-Team. Seit 2001 werden auch Sammelbände der Abrafax-Comics angeboten. Auf der Frankfurter Buchmesse wurden die Abrafaxe zu ihrem dreißig-jährigen Jubiläum mit einer Ausstellung im Rahmen des Schwerpunkthemas „Faszination Comic“ im Comic-Zentrum gewürdigt. Im Dezember 2005 hat MOSAIK bei einer deutlich gesunkenen, aber immer noch beachtlichen Auflage von rund 90.000 Exemplaren45 bereits Heft 360 erreicht.

Das MOSAIK gehört zum Kernbestand der Erinnerungskultur der Ostdeutschen, die in die DDR „hineingeboren“ (Uwe Kolbe) worden sind. Konzeption und Ästhetik, Inhalt und Gestaltung haben das MOSAIK aus dem Reich einer neu entdeckten, Zeit und Grenzen überschreitenden Fantasie zu einer einzigartigen Erscheinung in der Bildwelt der DDR gemacht, die auch viele junge Künstler inspiriert hat. Und wer die Bilder des Leipziger Malers Neo Rauch betrachtet, der inzwischen weltweit zu einem der erfolgreichsten deutschen Maler der jüngeren Generation avanciert ist, wird dort unschwer Spuren der MOSAIK-Ästhetik erkennen. So ist das MOSAIK nach 50 Jahren zu einem Denk-Mal ostdeutscher Alltagskultur geworden –  eine schier unendliche Geschichte, die den mehrfachen Wechsel von kreativen Urhebern, Verlagen, Lesergenerationen und sogar den Systemwechsel überdauert hat.

 

© Rüdiger Thomas

 

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Anmerkungen

1 Reinhard Pfeiffer: Von Hannes Hegen bis Erich Schmitt. Lexikon der Karikaturisten, Presse- und Comic-Zeichner der DDR, Berlin 1998, S.222.

2 Andreas Platthaus: „Dem Samson des Humors“, in: FAZ, 3. 12. 2004, S. 33.

3 Zu Hergés Tintin vgl. Andreas Platthaus: Im Comic vereint – Eine Geschichte der Bildgeschichte,  Frankfurt a. M./Leipzig 2000, S. 159ff.

4 Vgl. André Stoll: ASTERIX. Das Trivialepos Frankreichs. Bild- und Sprachartistik eines Bestseller-Comics, Köln 1974. Der Erfolg von Asterix stellte sich erst nach mehreren Jahren ein. Das erste Album „Asterix der Gallier“ erschien 1961 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren, von denen zunächst nur 6.000 verkauft werden konnten. Das Folgealbum erreichte 1963 40.000 Exemplare. Erst Mitte der 1960er Jahre vollzog sich der spektakuläre Durchbruch, nachdem Kleopatra die Szene betreten hatte. Seitdem haben die Asterix-Geschichten die Millionengrenze überschritten und ihre Weltkarriere gestartet.

5 Seit Beginn der 1970er Jahre erscheinen auch in der Bundesrepublik erste wissenschaftliche Studien, und die Akademie der Künste in (West-)Berlin veranstaltet 1970 eine erste Ausstellung von Comic-Strips, verbunden mit einem Colloquium. Vgl. dazu Hans Dieter Zimmermann (Red.): Vom Geist der Superhelden. Comic Strips. Zur Theorie der Bildergeschichte, Berlin 1970 (Taschenbuchausgabe München 1973). Siehe auch Günter Metken: Comics, Frankfurt a. M. 1970.

6 Siehe dazu Wiktor Duwakin: ROSTA FENSTER. Majakowski als Dichter und bildender Künstler, Dresden 1975.

7 Der Titel leitet sich aus einem häufig gesungenen Pionierlied ab.

8 Eigene Rubriken mit ausführlichen Informationen zu Frösi und Atze finden sich unter www.ddr-comics.de

9 Fix und Foxi wird 1994 eingestellt, ein Relaunch-Versuch im Jahr 2000, dem Todesjahr Rolf Kaukas, scheitert nach vier Ausgaben. Seine Ehefrau Alexandra Kauka hat erneut eine Wiederbelebung initiiert. Ende Oktober 2005 ist das Comic-Magazin im 52. Jahrgang mit dem neuen Chefredakteur Michael Hopp in den Zeitschriftenhandel gekommen. Vgl. www.kauka.de

10 GBl. DDR I Nr. 80 (29. September 1955), S.641ff.

11 Zit.: www.helmutmy.de/hegen.htm[13.10.2005]

12 Lothar Dräger hat am 18. März 1989 als Gast des Mosaik-Clubs Apolda ausführlich über die Geschichte von MOSAIK berichtet. Der Bericht ist dokumentiert unter www.jmct.de/mosaik/draeger. Vgl. auch Gerd Lettkemann: 35 Jahre MOSAIK. 35 Jahre Comics in der DDR. Ein Interview mit Lothar Dräger, in: Comic-Jahrbuch 1990, hrsg. von Andreas C. Knigge, Frankfurt a. M./Berlin 1990, S.98ff.

13 Pfeiffer (Anm. 1), S. 171 u. S. 174.

14 Über alle Facetten  der Digedag-Geschichten informiert mit reichhaltigen Illustrationen Reinhard Pfeiffer: DIGEDAG-UNIVERSUM, Berlin1996.

15 Thomas Kramer: Liebster, ich werd Fliegerin. DDR-Flugzeugindustrie und GST-Romantik im Mosaik, in: Simone Barck/Martina Langermann/Siegfried Lokatis (Hg.): Zwischen „Mosaik“ und „Einheit“, Berlin 1999, S.99ff. 

16 Zit. nach Thomas Kramer: Das Mosaik FanBuch. Zweiter Teil, Berlin 1994, S.18.

17 www.jmct.de/mosaik/draeger.html[13.10.2005]

18 SAPMO, PO 1402.

19 Ebd.

20 Deutsche Lehrerzeitung, Nr. 41, 7. 10. 1960, S. 8.

21 So schreibt der Leser Klaus Meyer: „Im ‚Mosaik’ werden den Kindern gesellschaftliche und technische Probleme in einer selbst für die Kleineren leicht verständlichen Form nahegebracht (…) In den Comics der Westzonen werden Krieg und rohe Gewalt verherrlicht. Das kann vom ‚Mosaik’ beim schlechtesten Willen nicht behauptet werden.“ Dieser Einschätzung widerspricht vehement eine Stimme aus Döbritschen: „Ich werde nie begreifen, wie eine so scheußliche und den Menschen erniedrigende Kinderzeitschrift so lange bei uns erscheinen konnte und noch immer erscheint.“ (Deutsche Lehrerzeitung, Nr. 44, 28. 10. 1960, S. 8.)

22 Ebd., Nr. 46, 11. 11. 1960, S. 8.

23 Ebd., Nr. 45, 4. 11. 1960, S. 8.

24 So Pfeiffer (Anm. 1), S. 52.

25 Lettkemann (Anm. 12), S.103.

26 SAPMO-BArch, PO 931/2.

27SAPMO-BArch, PO 983.

28 Kramer (Anm. 15), S. 12.

29 Zur Runkel-Serie ausführlich Kramer (Anm. 16).

30 Hegen hatte seit Ende der 1960er Jahre versucht, Ausstattung, Papier und Druckqualität zu verbessern. Unter Bezug auf Hergés Tintin  erklärte er: „Mit dem jetzigen Aussehen der Hefte ist es völlig unmöglich, daß der ständig geforderte und so sehr angestrebte Höchststand erreicht werden kann. (…) Auf alle Fälle wäre es devisenrentabler, eine hervorragend gestaltete Bildgeschichte zu schaffen, als bestes Tiefdruckpapier als Rohmaterial für die französisch-belgische Bildergeschichte ‚Tintin’ zu exportieren, die mit 400.000 Exemplaren pro Woche erscheint.“ (SAPMO, PO 1452) Und Lothar Dräger erklärt 1990 in einem Interview: „Rolf Kauka war, das ging aus zahlreichen Äußerungen Hegenbarths hervor, das beneidete Vorbild. Immer wieder wurden unternehmerische Konzepte und Zielsetzungen erörtert, die natürlich alle realitätsfremd waren.“ (Lettkemann, Anm. 12, S.99.)

31 Für Hegens Ausstieg  aus dem MOSAIK und  die damit verbundenen Probleme folgt die Darstellung dem Bericht Drägers unter www.jmct.de/mosaik/draeger [13.10.2005]. 

32 Eine Titelliste der MOSAIK-Abrafaxe findet sich unter www.helmutmy.de/dbank.htm[13.10.2005]

33 Zur Mosaik-Börse ist der von Rainer Grünberg bearbeitete Katalog „Das Mosaik von Hannes Hegen“ in der 6. Auflage erschienen.

34 Kramer (Anm. 16), S.7.

35 Wichtige Websites: www.ddr-comics.de; www.tangentus.de;  www.helmutmy.de/mosaik;  www.digedags.de; www.orlandos.de; www.comicforum.de[13.10.2005].

36 „Eine empirische oder gar wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium Comic existiert bis heute, auf einige wenige Ausnahmen beschränkt, nicht in der DDR. Diese fehlende Auseinandersetzung betrifft sowohl die Comics aus den westlichen Ländern als auch die eigene Produktion und die vergleichbaren Erzeugnisse aus den anderen sozialistischen Ländern. (…) Die mangelnde Auseinandersetzung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Comics der kapitalistischen Länder bei uns lange pauschal als Schund- und Schmutzliteratur galten und die eigenen Erzeugnisse einer eingehenden Betrachtung als nicht würdig erschienen. Dieses doppelte Vorurteil hat nicht nur historische, sondern vor allem kulturpolitische und politisch-ideologische Ursachen.“ (Paul Thiel: Mickymaus und Mosaik, in: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, H. 44/1977, S. 28 – 44, hier S. 38.) Zum Thema war lediglich 1975 an der Pädagogischen Hochschule Magdeburg eine Diplomarbeit entstanden: Werner Sünderhauf: Die Bedeutung der Zeitschrift MOSAIK im Literaturangebot für die Kinder und Jugendlichen der DDR.

37 Zu dieser Arbeitsgemeinschaft zählten junge Comic-Fans wie Holger Fickelscherer (geb. 1966), die später teilweise selbst als Comic-Autoren hervorgetreten sind. Fickelscherer hatte bereits im Januar 1990 eine Ausstellung in der Leipziger Galerie „Eigen+Art“. Zu den Comics, die zwischen 1988 und 1990 entstanden, siehe: LEICHTMETALL. Comics in der DDR. Eine Dokumentation von Volker Handloik. Edition LIANE, Berlin 1990.

38 Den Hinweis auf diese Serie verdanke ich Paul Thiel. Die „Geschichte der Bildgeschichte“, die in den Nrn. 1, 4, 8, 10, 12, 14, 18, 20 und 22 der Trommel (jeweils auf S. 8) erschien, skizziert die Entwicklung von den Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Neuruppiner Bilderbögen über Wilhelm Busch, die Katzenjammer Kids bis zu den ROSTA-Fenstern sowie den frühen Bildgeschichten in der DDR, bevor die Digedags ihr Debüt gaben. Höhepunkte waren  die mittleren Teile, die – jeweils mit einer bescheidenen Abbildung – Tarzan (Nr. 8/78), Superman (Nr.10/78) und Asterix (Nr. 18/78) vorstellten. Die von Thiel verfassten Texte vermitteln vor allem den Inhalt der Bildgeschichten, ergänzt durch eher zurückhaltende kapitalismuskritische Anmerkungen (offenbar die Bedingung für dieses erstaunliche Projekt). In den folgenden Jahren veröffentlicht die Trommel häufiger Comics von ungarischen Zeichnern und Textern, beispielsweise Das Gespenst von Canterville (nach Oscar Wilde), Tom Sawyers Abenteuer und Huck Finns Abenteuer (nach Mark Twain), Der Graf von Monte Christo (nach Alexandre Dumas) oder Die geheimnisvolle Insel (nach Jules Verne).

39 Lexikon der Kunst. Neubearbeitung, Bd. 1, Leipzig 1987, S. 551 – 553. (Die Verfasser der Stichworte sind im Lexikon nicht genannt). 

40 Diese Information und das Plakat verdanke ich der Galerie „Eigen+Art“. (Der Ausstellungsmacher Volker Handloik machte in den 1990er Jahren eine bemerkenswerte Karriere als mehrfach preisgekrönten Reporter, der u .a. für Stern und Spiegel gearbeitet hat. Erst vierzig Jahre alt, ist er 2001 gemeinsam mit zwei französischen Reporterkollegen einem Anschlag in Afghanistan zum Opfer gefallen.)

41 Vgl. Frank Pergande: „Comicreisen auf Weltniveau“, in: FAZ, 14. 5. 2005, S. 35.

42 Der Brief von Matthias Platzeck ist dokumentiert unter www.comicforum.de/showthread[13.10.2005]

43 Eine Übersicht findet sich unter www.helmut.my.de/dbz1.htm[13.10.2005]

44 Vgl. Dietrich Löffler: Publikumszeitschriften und ihre Leser, in: Barck/Langermann/Lokatis (Anm. 15), S.49. Da verschiedene, besonders attraktive Zeitschriften nur schwer zu  erhalten waren, gab es einen regen Tauschhandel. Um dem Mangel abzuhelfen, wurden in den Bibliotheken zunehmend Wochenmagazine und Zeitschriften in den Bestand aufgenommen. Eine Untersuchung im Bezirk Erfurt ergab, dass sich die Entleihungen von Magazinen und Zeitschriften von 1970 bis 1989 verzehnfacht hat. Ihr Anteil an allen Ausleihen (also inklusive Bücher) erreichte bis zu 40 Prozent. Bei den am meisten entliehenen Zeitschriften stand das MOSAIK deutlich an der Spitze. (Vgl. Helmut Göhler: Das „Suhler Beispiel“. Bibliotheken entdecken die Mangelware Zeitschrift, in: ebd., S. 578ff.

45 Information des Verlages, 4. 10. 2005.

 

In: Deutschland Archiv, 38. Jg. (2005), H. 6, S. 1033-1044.

 

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