Literatur-Geschichten

 

Deutschland Archiv 5/2011 – Literaturjournal

Literatur-Geschichten

Kurzbeschreibung:

Die Verlagsgeschichte von Kiepenheuer bietet einen interessanten Einblick in 100 Jahre deutscher Zeitgeschichte, das Hamburger Autoren-Streitgespräch von 1961 ist ein bezeichnendes Kapitel deutsch-deutscher Literaturgeschichte.

Siegfried Lokatis/Ingrid Sonntag (Hg.): 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage, 424 S., Berlin: Links 2011, € 29,90, ISBN: 9783861536352.

Jens Thiel (Hg.): Ja-Sager oder Nein-Sager. Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West 1961. Eine Dokumentation, 448 S., Berlin: Aurora 2011, € 19,95, IBSN: 9783359025160.

Es sind schon 15 Jahre vergangen, seit Wolfgang Emmerichs „Kleine Literaturgeschichte der DDR“ zuletzt erschienen ist. Das erstmals 1981 bei Luchterhand publizierte Werk ist seinerzeit in einer erweiterten Neuausgabe im Leipziger Kiepenheuer Verlag veröffentlicht worden, und noch immer warten wir auf eine neue Gesamtdarstellung der Literaturgeschichte der DDR, die jetzt auf der Basis umfassend zugänglicher Quellen und mit einem vom politischen Systemantagonismus befreiten Blick die Literatur, die im östlichen Teil Deutschlands entstanden ist, bilanziert und gleichzeitig die Autoren und Bücher würdigt, die nun schon zwei Wiedervereinigungsjahrzehnte reflektieren.

Statt dessen sind bis heute zahlreiche Publikationen vorgelegt worden, die einzelne Aspekte zur Literaturentwicklung thematisieren und die sich nur schwer zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen. Wo wir vergeblich auf die „große Erzählung“ warten, müssen Einzelbeschreibungen die Neugier auf das Unabgegoltene wachhalten.

 „100 Jahre Kiepenheuer-Verlage“ 

Über Innenansichten des Literaturbetriebs geben Publikationen Auskunft, die Verlagen aus der DDR gewidmet sind. Ein exemplarischer Beitrag ist der von Simone Barck und Siegfried Lokatis herausgegebene Sammelband „Fenster zur Welt“ (Berlin 2003), der die Geschichte des Verlages Volk und Welt vorstellt. Das Werk überzeugt durch eine facettenreiche Komposition mit mehr als 80 Einzelbeiträgen, weil es die Schwierigkeiten und Erfolge des Verlages bei seinem beharrlichen Bemühen um eine Öffnung zur literarischen Welt und zur ästhetischen Moderne perspektivenreich und anschaulich beschreibt. Seit März dieses Jahres haben wir einen neuen überzeugenden Grund, den Erkenntnis- und Unterhaltungswert von Verlagsgeschichten hervorzuheben. Der von Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag herausgegebene Sammelband „100 Jahre Kiepenheuer-Verlage“ ist ein Unikum in der deutschen Verlagsgeschichte. Er beschreibt eine Entwicklung, die mit dem wagemutigen Verleger Gustav Kiepenheuer 1910 in Weimar ihren Anfang nimmt und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in zwei getrennten Verlagen im Osten und Westen Deutschlands auf höchst verschiedene Weise und unter den Bedingungen des Kalten Krieges fortgesetzt wird. So vermittelt dieses Buch auch ein Exempel der intellektuellen Teilungsgeschichte der Deutschen, bevor die Wiedervereinigung schließlich 2010 das Ende des ostdeutschen Verlages zur Folge hat.

Wer in diesem lobenswerten Buch eine lineare monografische Erzählung vermisst, wird schnell die Vorzüge dieses Sammelbandes schätzen lernen, zu dem 40 Insider, Zeitzeugen und Buchforscher facettenreich beigetragen haben. Der damit verbundene Perspektivenwechsel macht die Lektüre besonders reizvoll und die dem Leser überlassene Herausforderung, aus den vielen Einzelsichten selbst ein Gesamtbild zusammenzufügen, steigert die kulturgeschichtliche Neugier und intensiviert das Leseerlebnis.

Siegfried Lokatis bemerkt in seiner Einleitung, dass es sich hier um die „vielleicht spannendste Verlagsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ handelt. „Gleich einem Proteus wechselt dieser Verlag die Gestalt, Ort und Programm, Größe, Namen und rechtliche Form, er bildet Absplitterungen und vervielfältigt sich.“ (12)

Die Geschichte beginnt mit dem Weimarer Sortimentbuchhändler Gustav Kiepenheuer, der am 1. April 1910 unter seinem Namen einen eigenen Verlag gründet. Nach Anfängen mit buchkünstlerischen Editionen findet Kiepenheuer nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 in Potsdam einen neuen Standort und übersiedelt 1929 schließlich nach Berlin. Die Potsdamer Jahre werden, in einem eigenen Kapitel gewürdigt, als die „goldenen Zwanziger“ zu einem Höhepunkt in der Verlagsgeschichte. Gustav Kiepenheuer wird zur wichtigen Heimstatt des literarischen Expressionismus, hier erscheinen Werke von Bertolt Brecht und Anna Seghers, zu den Autoren zählen Gottfried Benn, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Carl Zuckmayer, aber auch Georg Bernhard Shaw und Upton Sinclair. Zu einer Legende wird der Europa-Almanach (1925), den Dirk Heißerer als eine „einzigartige Summe der künstlerischen Strömungen“ (92) in Literatur und bildender Kunst würdigt, projektiert und komponiert von Hermann Kasack und Carl Einstein gemeinsam mit dem Kunstexperten Paul Westheim. Schon in Berlin publiziert Kiepenheuer 1932 Joseph Roths „Radetzkymarsch“, einen der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts.

Die Zeit des Nationalsozialismus wird zum dunkelsten Kapitel der Verlagsgeschichte, 75 Prozent der Verlagsproduktion werden verboten, teilweise vernichtet, viele Autoren müssen das Exil wählen, ebenso wie der Verlagslektor Fritz Landshoff, der sie nun im Amsterdamer Exilverlag Querido publiziert. Der Mut Kiepenheuers zeigt sich an der Veröffentlichung von Otto Pankoks „Die Passion Christi“ (1937), die heftige Schmähungen des berüchtigten SS-Organs „Stürmer“ provoziert und ein Verbot nach sich zieht. Als ein bitterer Kommentar auf die hoffnungslosen Zeitumstände erscheinen 1942 noch Goyas „Caprichos“. Schon längst angefeindet und in seinen verlegerischen Aktivitäten einschneidend behindert, wird der Verlag schließlich im August 1944 durch die NS-Reichsschrifttumskammer geschlossen.

Volker Wahl schildert in seinem Beitrag, wie es Gustav Kiepenheuer, der 1945 nach Weimar zurückkehrt, mit maßgeblicher Unterstützung durch Theodor Plivier, den Autor des „Stalingrad“-Romans, und Joseph Caspar Witsch, den Leiter der thüringischen Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen, nach monatelangen Bemühungen im März 1946 gelingt, eine Verlagslizenz für die SBZ zu erhalten. Kiepenheuer sondiert anschließend, diese Lizenz auf andere Besatzungszonen auszuweiten. Als Witsch, dem seine NS-Vergangenheit vorgeworfen wird, im März 1948 in den Westen flüchtet, bereitet er mit dem Einverständnis Kiepenheuers die Gründung der Gustav Kiepenheuer GmbH in Hagen (Westfalen) vor, die im März 1949 in das Handelsregister eingetragen wird. Als Gustav Kiepenheuer am 6. April 1949 stirbt, entschließt sich seine Frau Noa in der SBZ zu bleiben und dort den Weimarer Verlag fortzuführen. Der folgende Rechtsstreit zwischen Joseph Caspar Witsch und Noa Kiepenheuer wird am 21. Mai 1951 mit einem Vergleich beendet, der festlegt, dass fortan beide Verlage völlig getrennt voneinander agieren. Ab November 1951 firmiert der inzwischen in Köln ansässige Westverlag unter dem Namen Kiepenheuer & Witsch.

Während der Weimarer Verlag Gustav Kiepenheuer die Nachteile eines Privatunternehmens in der DDR im Hinblick auf Autorenlizenzen und Papierzuteilung immer stärker zu spüren bekommt und in Nischen abgeschoben wird[1], wobei Noa immerhin das Kunststück fertigbringt, ein Paris-Buch der Colette und 1967 eine erste Lasker-Schüler-Ausgabe in der DDR zu publizieren, gelingt Kiepenheuer & Witsch ein unaufhaltsamer Aufstieg. Dieser wird – wie Ingrid Boge zeigt – maßgeblich durch die Partnerschaft ermöglicht, die Joseph Caspar Witsch mit Fritz Landshoff eingeht. Dieser stützt ihn nicht nur durch eine relevante finanzielle Beteiligung, sondern wird vor allem durch die Vermittlung wichtiger Autoren, darunter Vicki Baum, Annemarie Selinko (mit ihrem Bestseller Désirée“), Erich Maria Remarque, Erich Kästner und Irmgard Keun unentbehrlich. Auch Heinrich Böll findet vor allem durch Landshoffs nachdrückliche Empfehlung zum Verlag. Vor diesem Hintergrund erscheint es höchst befremdlich, dass Landshoff im April 1953 von Witsch „aus dem Verlag hinauskatapultiert“ wird (243).

Wie Klaus Körner in seinem instruktiven Beitrag „Kiepenheuer & Witsch und der Kalte Krieg in Deutschland“ zeigt, engagiert Witsch sich zunehmend in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen für Publikationen, die der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus dienen. Dieses Engagement reicht von Propagandaschriften und dem Vorgänger des „Deutschland Archivs“, dem „SBZ-Archiv“, bis zu Bestsellern wie Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ (1955) und Carola Sterns Ulbricht-Biografie (1964).

Als Witsch 1967 stirbt, kauft sein Schwiegersohn Reinhard Neven DuMont Kiepenheuer & Witsch. Unter seiner Leitung und nach dem Eintritt von Helge Malchow in das Lektorat (1981) gewinnt der Verlag ein linksliberales Profil. Neben dem Werk von Heinrich Böll, das weiter ein Kernstück des Verlagsprogramms bildet, wird Günter Wallraff zu einem der neuen Erfolgsautoren. 1985 erscheint bei KiWi (wie der Verlag sich selbst nun abkürzt) die von Elke Erb und Sascha Anderson herausgegebene Anthologie „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ mit Texten unabhängiger junger Autoren aus der DDR, worüber Klaus Michael in einem aufschlussreichen Text berichtet.

Wenn es einen kleinen Mangel gibt, dann kommt die Verlagsgeschichte des letzten Vierteljahrhunderts in diesem Sammelband zu kurz, das gilt auch für die späten Jahrzehnte des ostdeutschen Verlages, den – neben Informationen über die Abwicklung von Kiepenheuer – nur noch ein kurzer, Programmschwerpunkte skizzierender Beitrag von Thorsten Ahrend streift.

Das wichtigste Kapitel des Sammelbandes ist der „Kiepenheuer Verlagsgruppe Leipzig und Weimar 1977–1990“ gewidmet. Als Noa Kiepenheuer, die den privaten Verlag mit wenigen Glanzlichtern über zwei Jahrzehnte am Leben erhalten konnte, im November 1971 stirbt, ist die Zukunft des Verlages höchst ungewiss, zumal seine Lizenz zu diesem Zeitpunkt auf Ende 1973 beschränkt ist. Es beginnt eine Übergangszeit von sechs Jahren, in der von den kulturpolitischen Instanzen verschiedene Integrationsmodelle sondiert werden. Die Tochter Noas, Eva Mayer, ist zunächst nicht bereit, den Status des Verlages preiszugeben. Sie erklärt aber schließlich ihre Bereitschaft, einer Übernahme in „Volkseigentum“ zuzustimmen, was das Privatunternehmen vor einer Zukunft als Staats- oder Parteiverlag bewahren soll.

Schließlich wird 1977 mit den Privatverlagen Insel, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung und Paul List die Kiepenheuer-Gruppe gebildet, treuhänderisch verwaltet von der Hauptverwaltung Verlage im Ministerium für Kultur – ein ökonomischer Sonderfall, bei dem freilich der Einfluss der SED gewahrt bleibt. Seit 1979 wird die Kiepenheuer-Gruppe von Roland Links geleitet, der 1954–1978 bei Volk und Welt zuletzt als leitender Lektor tätig gewesen war. Dem neuen Verlagschef gelingt es mit Geschick und Beharrlichkeit, die Personen und Ressourcen der vereinigten Verlage zusammenzuführen und ein Verlagsprogramm zu entwickeln, das neben einem kulturgeschichtlichen Schwerpunkt auch Veröffentlichungen von in der DDR beargwöhnten Autoren wie Sigmund Freud und Franz Kafka (1982) durchzusetzen vermag, während seine Versuche, Nietzsche und Schopenhauer zu publizieren, am Widerstand der Zensoren scheitern. Dass nicht nur die SED-Kulturpolitik Schranken setzt, sondern auch Interessenkonflikte zwischen den DDR-Verlagen ausgetragen werden, illustriert die Kontroverse zwischen Reclam und Kiepenheuer um die Edition einer „Kamasutram“-Ausgabe, die ein Briefwechsel zwischen den rivalisierenden Verlagen dokumentiert, den der Illustrator Lothar Reher zur Verfügung gestellt hat.

Zu den berührenden Texten des Sammelbandes zählt der Beitrag von Ernst-Peter Wieckenberg über die „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“, die der Cheflektor von C. H. Beck gemeinsam mit Roland Links 1981 vereinbart hat. Sie wurde als gemeinsames Projekt konzipiert, in Leipzig hergestellt und von beiden Verlagen in ihrem jeweiligen Währungsgebiet vertrieben. Wieckenberg schildert eindrucksvoll die Atmosphäre dieser Zusammenarbeit, hebt die Akribie des Leipziger Lektorats hervor, berichtet von den produktionstechnischen Problemen und rühmt die List seines Partners. Er porträtiert Roland Links treffend, wenn er ihn als einen Verleger beschreibt, der, Jean Cocteau zitierend, wissen wollte, „bis wohin man zu weit gehen könne“ (330) und würdigt seine ostdeutschen Kollegen mit dem Resümee, „dass unser Respekt vor der intellektuellen Leistung und der moralischen Anstrengung vieler Kollegen in der DDR im Laufe der Jahre wuchs. Und ich wage die Behauptung, dass die Entfremdung zwischen den kulturellen Eliten der DDR und der Bundesrepublik noch größer gewesen wäre, wenn es solche Kontakte vor 1989 nicht gegeben hätte.“ (338)

Kurzum: „100 Jahre Kiepenheuer-Verlage“ ist ein rundum gelungenes Buch, ein spannendes Kapitel aus der deutschen Kulturgeschichte und ein wirkliches Lesevergnügen.

„Ja-Sager oder Nein-Sager“

Ein interessantes Kapitel der deutschen Literaturgeschichte betrifft die Kontakte zwischen den Schriftstellern aus den beiden antagonistischen Staaten. Der von Jens Thiel herausgegebene Band „Ja-Sager oder Nein-Sager“ dokumentiert ein „Lehrstück aus dem Kalten Kulturkrieg“ (7), „von Abstoßung und Annäherung, von Konfrontation und Kooperation“ (23) gekennzeichnet. Es ist ein Drama in zwei Akten, das hier in einer kenntnisreichen Einleitung des Herausgebers vorgestellt und in seinem Ablauf und seiner Rezeptionsgeschichte ausführlich dokumentiert wird. Es beginnt mit einer Blamage für die freiheitliche Demokratie, die mit einem listigen Unternehmen des in der DDR residierenden Pen-Zentrums Ost und West „tolpatschig“ wie ein „Elefant im PEN-Club“ umgeht – so konstatiert die „FAZ“ süffisant das Ende einer gescheiterten Westexpedition.

Thiel rekapituliert knapp die Vorgeschichte: Nachdem es Ende 1948 Erich Kästner und Johannes R. Becher gelungen war, die Aufnahme eines PEN-Zentrums Deutschland in den 1921 gegründeten internationalen Schriftstellerverband PEN zu erreichen, kam es 1951 zu seiner Spaltung. Als in Darmstadt 1951 desillusioniert ein separates Deutsches PEN-Zentrum Bundesrepublik entstanden war, verfolgte die DDR mit dem von ihr gesteuerten PEN-Zentrum Ost und West, dem nur noch wenige westdeutsche Schriftsteller (darunter Johannes Tralow als Präsident bis 1960) angehörten, eine eigene kulturpolitische Strategie. Obwohl sie zuvor beschlossen hatte, ihre Kongresse in Berlin abzuhalten, wurde die XII. Generalversammlung des PEN-Zentrums Ost und West für den 7.–9. Dezember 1960 kurzfristig nach Hamburg einberufen. Die Durchführung der geplanten Veranstaltung endete, bevor sie beginnen konnte, in einem Eklat, als die ursprünglich zugesagten Veranstaltungsräume, vorwiegend in der Hamburger Universität, kurzfristig verweigert wurden und der Polizeipräsident eine Pressekonferenz abrupt beenden ließ. „Die Zeit“ reagierte auf dieses politisch motivierte Verbot gegen eine vom Amt für Verfassungsschutz als „kommunistische Tarnorganisation“ eingestufte Vereinigung mit einem Artikel „Die roten Dichter und Hamburgs Polizei“, in dem sie den buchstäblich aus Hamburg hinausgeworfenen ostdeutschen PEN-Akteuren anbot, die geplante Veranstaltung auf eigene Kosten und in ihren Redaktionsräumen durchzuführen. Dass der Herausgeber der „Zeit“, Gerd Bucerius, der damals zugleich Bundestagsabgeordneter der CDU war, im RIAS wenige Tage später seine Ablehnung äußerte, sich „hinter eine Maginotlinie des Geistes zurückzuziehen“ (Dok. 52, 151), war eine unzweideutige Antwort auf die Schelte der Presseabteilung der CDU/CSU-Fraktion, die gegen das „Zeit“-Angebot vom 16. Dezember noch am gleichen Tag entrüstet protestiert und konstatiert hatte, die Redaktion hätte ihre Einladung besser „an jene schriftsteller gerichtet, die aus der zone nach berlin und westdeutschland flüchten mussten (…).“ (Dok. 42, 138)

Das von der „Zeit“ angebotene „Hamburger Streitgespräch“ fand am 7. und 8. April 1961 in der Hamburger Universität statt. Zwar wurden die ursprünglich vorgesehenen Themen aufgenommen, doch wurde aus der intern geplanten Veranstaltung nun ein wirklicher Ost-West-Dialog. Der Ablauf sollte festgelegten Spielregeln folgen. Ost- und Westdeutsche sollten unter abwechselnder Moderation auf zwei Podien, für die von jeder Seite drei Teilnehmer bestimmt wurden, gemeinsam diskutieren. Dafür war einige Prominenz aufgeboten: darunter aus der DDR Arnold Zweig, der ostdeutsche PEN-Präsident, Wieland Herzfelde, Stephan Hermlin, Peter Hacks und Hans Mayer, aus der Bundesrepublik Siegfried Lenz, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Marcel Reich-Ranicki und Martin Beheim-Schwarzbach. „Tolstoj, die Krise der Kunst und wir“ bildete den herantastenden Auftakt, das zweite Podium „Der Schriftsteller in Ost und West“ erwies sich als der brisante Höhepunkt, vom Feuilletonchef der „Zeit“, Rudolf Walter Leonhardt moderiert, der abschließend von einem „Pulttrauma“ sprechen sollte. In einem lebhaften Streitgespräch, das vor allem durch Reich-Ranicki geprägt war, wurden grundlegende Konflikte offengelegt, ohne dass es zu einem Eklat gekommen wäre.

Martin Beheim-Schwarzbach, der dieses Podium einleitete, verdanken wir den Buchtitel, als er feststellte: „Ein Problem, das in Anwesenheit von Kollegen und Gästen aus dem ach so fernen Osten naheliegt zu behandeln, ist natürlich das Problem der littérature engagée oder non-engagée, was man mit seinen mehrfachen Verzweigungen auch noch mit anderen Namen bezeichnen kann, etwa der zweckgebundenen und der zweckfreien Literatur oder auch des Konformismus und des Nonkonformismus, oder, wie einige es auch ausdrücken, der Ja-Sager und Nein-Sager“. (Dok. 83, 251)

Weniger zurückhaltend formulierte Reich-Ranicki seine Kritik an der DDR-Kulturpolitik, als er – mit vielen Beispielen untermauert und an die Zensurpraxis erinnernd – lapidar feststellte: „Ich glaube, daß die Weltliteraur des 20. Jahrhunderts praktisch in der Deutschen Demokratischen Republik unterdrückt, ignoriert, teilweise bekämpft, teilweise totgeschwiegen wird.“ (Dok. 83, 264). Es ist eine ironische Pointe, dass Hans Mayer, der zwei Jahre später in die Bundesrepublik übersiedelt, gegen diese furiose Attacke eine Verteidigung des ostdeutschen PEN versucht, indem er diesen vom Regierungshandeln trennt und seine persönlichen Aktivitäten hervorhebt, die literarische Kommunikation zwischen den beiden Deutschländern aufrechtzuerhalten: „[Walter] Jens, Enzensberger und Ingeborg Bachmann sind im vorigen Jahr mit Peter Huchel und Hermlin bei unseren Studenten gewesen. Es ist noch nicht vier Wochen her, daß Günter Grass auf meine Einladung in Leipzig gewesen ist und aus der ‚Blechtrommel‘ und den Gedichten vorgelesen hat. Werke also, die durchaus, wenn Sie so wollen, in einem offiziellen Sinn als dekadent, als antihumanistisch bezeichnet werden.“ (Dok. 83, 271)

Als Mayer die von Reich-Ranicki kritisierte Blockierung von Autoren weltliterarischer Bedeutung in der DDR vornehmlich als Devisenproblem erklärte, konnte er freilich nur Gelächter ernten, zumal darunter auch wichtige sowjetische und polnische Autoren waren. Hier zeigte sich, dass öffentliche Streitgespräche an Grenzen stoßen mussten, wo der Konflikt zwischen intellektueller Erkenntnis und politischer Loyalität nicht mehr auflösbar schien. Pikant ist ein Nachspiel: Wie Hermann Kant die Debatte empfunden hat, verrät ein (erstmals 1995 von Karl Corino in „Die Akte Kant“ veröffentlichter) Treffbericht Hermann Kants über das Hamburger Streitgespräch vom 25. April 1961 (das die Schreibfehler eines ignoranten Stasi-Mitarbeiters beibehält): „Bei der zweiten Veranstaltung fing der Pole REICH-RANITZKI sofort die Diskussion mit dem Problem HARICH und dem Nichterscheinen bestimmter Bücher in der DDR an. Am stärksten wurde er von dem Leipziger Literaturprofessor MEYER angegriffen und geschickt gekontert. MEYER, der bei uns sonst eine schwankende Haltung einnimmt und mitunter aggressiv gegen unsere Linie auftritt, vertrat dort sehr konsequent unsere Auffassungen. Da man die sonstige Haltung von MEYER in Westdeutschland gut kennt, lösten seine Ausführungen Bewegung unter den Zuhörern aus und seine Diskussion kam, wie man in späteren Diskussionen feststellte, gut an.“ (Dok. 116, 384)

Das Protokoll des Hamburger Streitgesprächs hat „Die Zeit“ bereits im Mai 1961 unter dem Titel „Schriftsteller: Ja-Sager oder Nein-Sager?“ publiziert, ohne die Beiträge der Beteiligten freilich autorisieren zu lassen, was einige kritische Reaktionen (bei dem ostdeutschen Heinz Kamnitzer ebenso wie bei dem westdeutschen Hans Magnus Enzensberger) auslöste. Jens Thiel hat in seiner Dokumentation auf das Fragezeichen verzichtet, ohne diesen Unterschied zu erklären. Das von ihm herausgegebene Buch führt aber über die Protokollbroschüre weit hinaus, weil es durch die beigefügten Dokumente, die vom Herausgeber mit instruktiven Erläuterungen ergänzt wurden, die Umstände erhellt, in denen sich Dialogversuche im kulturellen Leben eines gespaltenen Landes vollzogen haben.

Es ist eine gute Entscheidung, die Dokumentation mit Statements abzuschließen, die wenige Wochen nach der Hamburger Begegnung auf dem V. Schriftstellerkongress in Ost-Berlin formuliert worden sind (Dok. 121, 401ff). Hier setzte sich Hermann Kant, der zu diesem Zeitpunkt noch kein eigenes Buch veröffentlicht hatte, als beflissener Literaturfunktionär in Szene, der in dünkelhafter Manier über die Literatur aus der Bundesrepublik urteilte: „Der Zirkel, mit dem viele westdeutsche Schriftsteller ihren Standpunkt umgreifen, ist nicht sehr weit geöffnet. Die soziale Fläche, die in ihrem Werk erscheint, wirkt oft außerordentlich beschränkt.“ Auch auf die eingeladenen Gäste Martin Walser und Günter Grass nahm Kant wenig Rücksicht. Zwar konzedierte er den beiden prominenten westdeutschen Autoren, daß es ihnen „ganz offensichtlich weder an Talent noch am langen Atem des Epikers gebricht“, doch wandte er gegen die „Blechtrommel“ ein: „Mit den Augen eines physischen und psychischen Monstrums läßt sich nichts anderes sehen, als das, was Oskar Matzerath sah und wie er es sah.“ Leider zitiert Thiel diese Passage nicht, weil er sich auf Kants Kommentar zum Hamburger Streitgespräch beschränkt. Günter Grass reagierte auf Kant in der gebotenen Schärfe, die auch als nachgetragene Ergänzung zu dem Hamburger Streitgespräch angesehen werden kann: Kant hatte den abwesenden Enzensberger heftig angegriffen, der vor einem „Bürgerkrieg“ gewarnt hatte. Grass protestierte entschieden, indem er Kants Attacke „sehr demagogisch“ nannte: „Was fehlt diesem Staat nach meiner Meinung? Ein Lyriker wie Enzensberger dürfte hier gar nicht den Mund aufmachen, wenn er Bürger der DDR wäre. (…) Lassen Sie Taten sehen! Geben Sie den Schriftstellern die Freiheit des Wortes!“ (Dok. 121, 404)

Wenige Monate später wurde die Mauer in Berlin errichtet. Eine kulturelle Eiszeit war die Folge, und Günter Grass war nicht der Einzige, der den ostdeutschen Autoren öffentlich vorhielt, den Mauerbau zumindest stillschweigend zu dulden, denn: „Wer schweigt, wird schuldig“. Offizielle Kontakte zwischen den Schriftstellern waren unter diesen Bedingungen vorerst abgebrochen. Als sich Ende Januar 1963 Autoren der Gruppe 47 mit einigen Schriftstellern aus der DDR in der Evangelischen Akademie Weißensee trafen, geschah dies – unautorisiert und improvisiert – sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Erst im Mai 1964 glückte ein neuer politisch sanktionierter Dialogversuch, als es Hans Werner Richter gelang, in seiner vom SFB und NDR ausgestrahlten Sendung „Berlin X-Allee“ ein gesamtdeutsches Autorengespräch zu arrangieren, an dem Hermann Kant, Max Walter Schulz und Paul Wiens aus der DDR sowie Günter Grass, Uwe Johnson und Heinz von Cramer teilnahmen. Da wurde – von Johnson angestoßen – über die Frage reflektiert, ob es noch eine gemeinsame Sprache in der Literatur gäbe und Grenzen für die „ästhetische Freiheit“ verordnet werden dürften, was Grass vehement verneinte. Es wurden Pläne geschmiedet für Autorenlesungen im jeweils anderen Staat, aber am Ende stand doch die Desillusionierung: Es wurde erneut deutlich, dass die Schriftsteller den poltischen Fundamentalkonflikt zwischen beiden Staaten nicht überbrücken konnten, als Günter Grass an die aktuellen Schikanen gegen Robert Havemann erinnerte. Trotz manch gutgemeinter Absichtserklärungen hat dieses öffentliche Gespräch keine Fortsetzung gefunden.

Und wo die Leser den Autoren nicht persönlich begegnen konnten, haben sie Wege gefunden, sich auf mitunter abenteuerliche Weise zumindest deren Bücher zu verschaffen. Das wird beklemmend oder anekdotisch in dem lesenswerten Sammelband „Heimliche Leser in der DDR“ berichtet.[2] Dies alles sind deutsche Literatur-Geschichten, die eine gesamtdeutsche Literaturgeschichte nicht vergessen darf. Vor allem aus diesem Grund verdienen die beiden hier vorgestellten Bücher viele neugierige Leser. Sie werden mit der Lust der Erkenntnis reich belohnt.

 Fußnoten

1  Vgl. dazu auch Reiner Merker, „… und stets Künder seiner Zeit zu sein“? Neuausrichtung und Behauptung des Gustav Kiepenheuer Verlags zu Beginn der 50er-Jahre in der DDR, in der vorliegenden Ausgabe.

2  Siegfried Lokatis/Ingrid Sonntag (Hg.), Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008 (rezensiert in: DA 42 (2009)1, S.182f).

In: http://www.bpb.de/themen/Q13BYP,0,0,LiteraturGeschichten.html).

Wiederabdruck in: Deutschland Archiv 44(2011)2, S. 295-300.

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