Die Angst vor der Moderne

Die Angst vor der Moderne

Text als Word-Dokument downloaden: Scherstjanoi.doc

 

Die Angst vor der Moderne

Rüdiger Thomas Bergisch Gladbach

 

Elke Scherstjanoi (Hrsg.): Zwei Staaten, zwei Literaturen? Das Internationale Kolloquium des Schriftstellerverbandes in der DDR, Dezember 1964, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ,Band 96, R. Oldenbourg Verlag, München 2008, 211 S., 24,80

 

„Es ist wahr, dass wir im Augenblick eine Isolierung fürchten müssen. Die deutschen Schriftsteller werden im Ausland sehr leicht des Dogmatismus verdächtigt.“ (23) So umschreibt die Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV), Anna Seghers, am 24. September 1964 in einer Sitzung der Partei-gruppe des DSV-Vorstands die kulturpolitische Situation, der sich die Autoren in der DDR ausgesetzt sehen. Kritisiert von ihren Kollegen aus den sozialistischen Nachbarstaaten und verunsichert in der Konkurrenzsituation mit der auch im Osten weit erfolgreicheren westdeutschen Literatur, suchen sie nach einem Ausweg aus jener Isolierung, die sie vor allem auf der Kafka-Konferenz in Liblice im Mai 1963 besonders deutlich erfahren mussten. Die in den Jahren 1963 und 1964 nach der jähen Unterbrechung durch den Mauerbau wieder aufgenommenen Gespräche und Begegnungen mit westdeutschen Schriftstellern zeigten ebenso die Verunsicherung, die sich bei den ostdeutschen Autoren ausgebreitet hatte, obwohl sich in den Verlagen der Bundesrepublik nach Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ ein zunehmendes Interesse an literarischen Werken aus der DDR abzuzeichnen begann.

Elke Scherstjanoi hat jetzt eine sorgfältig edierte Dokumentation des Internationalen Kolloquiums des DSV vorgelegt, das vom 1. bis 5. Dezember unter dem Titel „Die Existenz zweier deutscher Staaten und die Lage in der Literatur“ im (Ost-) Berliner Haus des Lehrers stattfand. Der Band enthält neben dem Protokoll des Kolloquiums vier Papiere aus der Vorbereitungsphase sowie Berichte über die Veranstaltung, die verschiedene interne Sichtweisen aus der DDR und eine sowjetische Einschätzung präsentieren. Die Herausgeberin schildert in ihrer kenntnisreichen, auch die politischen Kontexte einbeziehenden Einleitung die „Orientierungsnot“ (23) der Kulturfunktionäre und Verbandsvertreter aus der DDR gegenüber der westdeutschen Literatur und verweist zugleich auf die Bemühungen, den Partnern in den sozialistischen Ländern die Situation der Literatur in Deutschland nach ihren eigenen Deutungsmustern zu interpretieren. Ulbrichts Projekt einer „sozialistischen Nationalkultur“, zuerst auf der Bitterfelder Konferenz 1959 emphatisch proklamiert, sollte die prospektive Überlegenheit der Literatur aus der DDR den ausländischen Gästen wortreich vermitteln.

Doch es kam anders: Schon eingangs verwies der polnische Schriftsteller und Übersetzer Egon Naganowski auf das entscheidende Manko der Literatur aus der DDR: Es fehle ihr wegen der Ablehnung von Schriftstellern wie Joyce, Proust, Kafka oder Musil „ein literarischer, ästhetischer Faktor“ (74), der moderne Werke auszeichne. An dem Kolloquium nahmen 17 zumeist weniger prominente Gäste aus  dem sozialistischen Ausland teil, 4 aus der Sowjetunion (darunter Juri Trifonow), je drei aus Polen, der CSSR und Rumänien, zwei aus Ungarn und Jugoslawien. Aus der Bundesrepublik war lediglich der KPD-Funktionär Oskar Neumann, ZK-Mitglied der damals noch verbotenen Partei, anwesend, der auf Grund eines einschlägigen Aufsatzes, der im August 1964 in der „Einheit“ publiziert worden war, bei den SED-Kulturfunktionären als Kenner der westdeutschen Literatur galt. In seinem Einleitungsreferat hatte Hans Koch, 1. Sekretär des DSV, noch explizit das Thema des Kolloquiums kommentiert und dabei vor allem die Gegensätze betont: „Wir haben in Westdeutschland die Tatsache zu verzeichnen, dass die Literatur, die durch Namen von Böll bis Grass, von Enzensberger, Martin Walser und so weiter gekennzeichnet ist (…), dass sie in Westdeutschland fünf Prozent der lesefähigenBevölkerung erreicht (…), während es eine andere Literatur gibt, die wirklich 90 bis 95 Prozent der lesefähigen Bevölkerung  erreicht, eine Literatur, die gekenn-zeichnet ist beispielsweise durch Schundhefte.“ (69)

Auf solche platten Einschätzungen mochten sich die Teil-nehmer des Kolloquiums nicht einlassen. Sie fragten stattdessen nach den Umständen der Absetzung Peter Huchels als Chefredakteur von „Sinn und Form“ (so vor allem der Tscheche Ludvík Kundera) und immer wieder nach den zahllosen Werken der Weltliteratur, die in der DDR wegen „Modernismus und „Abstraktionismus“, die als neue Propaganda-Chiffren die alten Vorwürfe des Formalismus“ und der „Dekadenz“ abgelöst hatten, nicht publiziert werden durften. Diese Publikationspraxis kritisierten allerdings nicht nur viele der Gäste, sondern auch Stephan Hermlin in einem engagierten Plädoyer für die künst-lerische Moderne. (141-145) Die Teilnehmer aus der DDR waren sorgfältig ausgewählt, sodass mit ähnlich kritischen Bemerkungen wie sie der polnische Gast Naganowski geäußert hatte,  aus dem eigenen Verband nicht gerechnet werden mus-ste. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Stefan Heym, der erst aus der Presse von der Veranstaltung erfahren hatte, lud sich daraufhin – von dem slowakischen Schriftsteller Juraj Spitzer, Chefredakteur der Zeitschrift „Kulturelles Leben“ mitgebracht – selbst ein und erregte mit seinem eigenen Beitrag Aufsehen. Er hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für eine rückhaltlose, offene Diskussion, „um den Leib des Sozialismus von den Rost- und Blutflecken der Stalin-Ära und dem Schimmelpilz der Bürokratie zu säubern.“ (125) Dass Heym einen wunden Punkt berührt hatte, ließ die prompte Replik von Klaus Gysi, seinerzeit Leiter des Aufbau-Verlages, erkennen, der sich gegen eine solche Sichtweise in „historischen Totalen“ wendete, gleichzeitig aber Heym  konzedierte: „Es ist also richtig, dass wir keine rechten Diskussionen haben, weil der Rotstift des Zensors die echten verhindert, und wir haben infolgedessen nur unechte.“ (126) Daran sollte sich wenig ändern und Gysi behielt auf makabre Weise recht. Genau ein Jahr nach diesem Kolloquium fand das „Kahlschlagplenum“ statt.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Deutschland Archiv, 41. Jg. (2008), H. 5, S. 929-930.

Schreibe einen Kommentar