Die Botschaft der sakralen Musik

Die Botschaft der  sakralen Musik

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Die Botschaft der  sakralen Musik

Als Papst Leo III. am Weihnachtsfest des Jahres 800 Karl den Großen in der Petersbasilika zum römischen Kaiser krönte, wurde die Zeremonie von sakralen Gesängen begleitet. Vielleicht erklang bei diesem denkwürdigen Ereignis, das den nach Rom gereisten König der Franken durch die unerwartete Handlung eines machtpolitisch gefährdeten Papstes überraschte, als feierlicher Einzugsgesang zur Meßfeier der Introitus Lux fulgebit. Er preist Christus u.a. als „Fürst des Friedens“, so wie die Römer – nach dem Bericht seines Biographen Einhard – Karl mit den Worten huldigten: „Dem erhabenen Kaiser, dem von Gott gekrönten großen und friedebringenden Kaiser der Römer, Leben und Sieg!“

Gregorianik
Die erste Periode der abendländischen sakralen Musik reicht bis in die Zeit zurück, als die Christen 313 nach dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins, das die Gleichstellung des Christentums mit der antiken Religion verfügte, die Katakomben verlassen konnten und bald darauf die ersten Basiliken – nicht selten auf römischen Tempelfundamenten – errichtet wurden. Liturgische Gesänge sind bereits um die Mitte des 4. Jahrhunderts unter dem Einfluß der griechisch-byzantinischen, jüdischen und orientalischen Musiktradition in Mailand entstanden, wo in der Zeit von 374 bis 397 der vermutlich in Trier geborene Bischof Ambrosius wirkte. Als „Vater des strophischen Kirchenliedes“ hat er selbst verschiedene Hymnen gedichtet, die den Wesensgehalt der christlichen Heilslehre auf poetische Weise zum Ausdruck bringen.

Liturgische Gesänge erklangen im Gottesdienst und seit dem 6. Jahrhundert auch in den Ritualen der klösterlichen Gemeinschaften (dem „Stundengebet“) in Form von einstimmigen Vertonungen religiöser Texte, als Psalmodien (deklamatorisch gesungene Psalmverse im Anschluß an die jüdische Tradition), vorgetragen im Wechsel zwischen Vorsänger und Chor (Responsorium) oder als Wechselgesang zwischen zwei Chören (Antiphon). Während für viele hundert altgregorianische Antiphonen nur etwa 40 verschiedene Melodien überliefert sind, also eine häufige Wiederholung musikalischer Grundmuster diese Ausdrucksform bestimmt hat, sind die Responsorien durch eine reichhaltigere melodische Differenzierung und musikalische Expressivität gekennzeichnet. Ein markantes Beispiel liefert dafür der Alleluja-Vers, der schon in der Osterliturgie der frühen Kirche besonders kunstvoll gestaltet wurde.

Für die Entwicklung der Kirchenmusik hatte der 529 von Benedikt von Nursia gegründete Orden der Benediktiner eine große Bedeutung. In seiner für das Kloster Monte Cassino verfaßten Ordensregel hat Benedikt erstmals Grundsätze für die Ordnung der Meßfeier und ihre musikalische Gestaltung festgelegt. Zwei Jahrhunderte nach Ambrosius von Mailand nahm der Benediktiner-Papst Gregor I. (590 – 604) starken Einfluß auf die Entwicklung des liturgischen Gesangs. Zwar trifft die von frühen Chronisten verbreitete Behauptung nicht zu, daß er selbst komponiert habe, doch hat er die Sammlung und Ordnung der frühen sakralen Gesänge initiiert und die Voraussetzungen für ihre einheitliche Darbietung im (West-)Römischen Reich geschaffen. Da es bis zum 9. Jahrhundert keine schriftliche Aufzeichnung der Musik gegeben hat, konnte sie vor dieser Zeit nur mündlich tradiert werden. Papst Gregor reorganisierte  die für diese Auf-gabe bestimmten Sängergemeinschaften (Schola cantorum), die die römischen Liturgiegesänge in den anderen Regionen des Reiches verbreiten sollten. So wurde er zum Namenspatron der „Gregorianik“ – einer musikalischen Epoche, die bis zum Ende des 11. Jahrhunderts reichte. An der Durchsetzung der Vorherrschaft des gregorianischen Gesangs war schließlich auch noch Karl der Große beteiligt, der selbst  nach Mailand reiste, um die aus der byzantinisch-oströmischen Tradition hervorgegangenen „ambrosianischen Gesänge“ aus dem geltenden Kanon der Kirchenmusik zu entfernen.

Die Frühzeit der sakralen Musik ist heute auf zahlreichen Tonaufnahmen dokumentiert, doch müssen wir uns dabei bewußt sein, daß sie über einen Zeitraum von 500 Jahren nur durch mündliche Überlieferung bewahrt worden ist. Um das Jahr 600 konstatiert Isidor von Sevilla, Verfasser eines Universalhandbuchs, daß „Musik vergeht, sofern sie nicht vom Gedächtnis bewahrt wird, denn aufschreiben kann man sie nicht“. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie zumindest bis zum Ende des 9. Jahrhunderts ohne jede Instrumentalbegleitung praktiziert wurde, weil die Instrumentalmusik dem profanen Leben – etwa bei den römischen Circusspielen, bei Triumphzügen oder privaten Festen – Glanz verleihen sollte und damit als Ausdruck des Heidentums empfunden wurde. Erst mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit und in der Zeit der Gotik entwickelt und differenziert sich das Spektrum an Zupf-, Streich- und Blasinstrumenten. Kirchenorgeln gab es in einfacher Form bereits im 9. Jahrhundert u.a. in Aachen und Straßburg, im 10. Jahrhundert in Köln, Rom, Canterbury und Winchester, doch sind die großen Orgeln mit Registern und Pedal erst seit dem 14. Jahrhundert in Gebrauch (Florenz, Santa Maria Novella, 1379) und finden danach rasche Verbreitung.

Große Bedeutung für die Musikgeschichte hat die erste überlieferte Form der Aufzeichnung von liturgischen Gesängen, die mit der Entstehung der sogenannten Neumenschrift in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts verbunden ist. Sie geht aus den Handzeichen des Chorleiters (neuma ist der griechische Ausdruck für Wink, Gebärde) hervor. Die Neumen markieren nur die relative Höhe und Tiefe der Töne ohne Notenlinien und geben außerdem Hinweise auf die melodisch und rhythmisch differenzierte Vortragsart. Erst Guido von Arezzo (992 -1050) hat eine Notation eingeführt, die Neumen auf vier farblich verschiedenen Linien im Terzabstand darstellt. Sie wurde zum Vorläufer der quadratischen Notenschrift (der sogenannten Mensuralnotation), mit der nach der Tonhöhe nun auch die Tondauer exakt festgelegt werden konnte. Die Mensuralnotation wird Ausgangspunkt für die Entwicklung der am Umfang der Oktave orientierten gerundeten Notenschrift auf fünf Linien, die erst im Barock in der bis heute praktizierten Form voll ausgebildet ist und von Johann Sebastian Bach in seinem „Wohltemperierten Klavier“ in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten klanglich ausgeschritten wird.
Aus der Gregorianik wurden drei Musikbeispiele ausgewählt. Der Hymnus creator alme siderum (CD 1/1) stammt aus dem 10. Jahrhundert. Er ist durch eine getragene, liedhafte Melodik (den sogenannten Chorus planus) gekennzeichnet, in der die christliche Heilsbotschaft zusammengefaßt wird. Der eingangs erwähnte Introitus Lux fulgebit (CD 2/2) eröffnet die Meßfeier am Weihnachtsmorgen. Der Ruf Ecce lignum crucis (CD 1/4) ist Ausdruck der Kreuzverehrung, die den Höhepunkt der Kar-freitagsliturgie darstellt, in der es keine Eucharistiefeier gibt. Er wird dreimal angestimmt, jeweils einen Ton höher intoniert. Die aufsteigende Linie  weist schon auf die Verheißung der Erlösung voraus.

Gotik
Während die großen Anreger der sakralen Musik aus dem ersten Jahrtausend in den Annalen der Geschichte verzeichnet sind, blieben die Komponisten namenlos und treten erst im 12. Jahrhundert als Persönlichkeiten mit eigenem Profil in Erscheinung. An der Schwelle dieser Entwicklung, die zur mehrstimmigen Musik führt, steht eine Frau, die erst seit etwa 40 Jahren auch als Musikerin gewürdigt worden ist: Hildegard von Bingen (1098 -1179) – ein universeller Geist, der auf vielen Gebieten aus dem oft rätselvollen Dunkel des frühen Mittelalters in das Licht einer neuen Zeit tritt. Ihr außergewöhnliches Leben wird seit früher Kindheit durch Visionen geprägt. Schon mit acht Jahren lebt sie in einer Klause neben dem Benediktinerkloster auf dem  Disibodenberg an der Nahe und wird nach dem Tod ihrer geistigen Mentorin Jutta von Spanheim Äbtissin, seit 1150 im neu gegründeten Kloster Rupertsberg. Dort geht sie in vieler Hinsicht eigene Wege und hat sogar den Mut, öffentlich auf Marktplätzen zu predigen – in dieser Zeit ein unerhörter Vorgang. Obwohl sie sich als Mystikerin, Dichterin und Verfasserin naturheilkundlicher Schriften hohes Ansehen und eine weit verbreitete Bewunderung erworben hat, wurde sie wegen ihrer selbstbewußen Eigen-willigkeit von der Kirche nach einem langwierigen Prozeß nicht heiliggesprochen.

Von Hildegard sind 77 Gesänge und das vertonte Mysterienspiel „Ordo virtutum“ überliefert. Sie selbst hat ihre Musik als „Symphonie der himmlischen Offenbarung“ (symphonia harmoniae coelestium revelationum) charakterisiert. Die Seele erscheint ihr als Ausdruck der himmlischen Harmonie, aus der sie hervor-gegangen ist und  in die sie wieder eingehen wird. Ihr „Ordo virtutum“ schildert den Kampf der Tugenden mit dem Teufel um die menschliche Seele. In dieser Komposition, die 85 Gesänge (Antiphonen) umfaßt, stehen die begleitenden Instrumente für verschiedene Seelenzustände: Fiedeln grundieren ihre Klage-lieder, Harfen symbolisieren die erworbene Glückseligkeit und Flöten besingen ihre Gottesnähe. Dem Teufel dagegen wird jeder musikalische Ausdruck versagt. Hildegard hat keine musikalische Ausbildung erhalten, sie war nach eigenem Bekunden dies-bezüglich „ungebildet“ (indocta), ihre Kompositionen sprechen uns aber gerade durch die Intensität einer intuitiven Emotion und durch neuartige Klangeffekte an: Charakteristisch sind ein erweiterter Tonumfang (von zumeist eineinhalb, bei einer Komposition sogar zweieinhalb Oktaven), längere Melodiebögen, eine kühnere Tonsprache (mit Dur- und Moll-Modulationen) sowie eine akzentuierte Rhythmisierung. Die Wirkung ihrer Gesänge wird nicht zuletzt durch die Texte bestimmt, in denen sie der Jungfrau und Gottesmutter Maria eine zentrale Bedeutung verleiht. Die Antiphon O frondens virga (CD 1/2) verbindet die Worte virgo (Jungfrau) und virga (Reis, Pflanzentrieb) in einer naturmystischen Symbolik. (Die in der romanischen Kirche zu Knechtsteden entstandene Aufnahme ist mit einem einzigen Stereo-Kugelflächenmikrofon aufgenommen und nähert sich damit ursprünglichen Raumklangwirkungen an.)

Während die Musik Hildegards von Bingen noch aus der Tradition der einstimmigen Gregorianik gespeist wird, sind bereits aus der Mitte des 11. Jahrhunderts erste zweistimmige Kompositionen in England überliefert (aufgezeichnet im Winchester-Tropar). Es handelt sich dabei u.a. um Vertonungen des Kyrie und Gloria, die zum Ordinarium missae zählen, das den gleich-bleibenden Rahmen der katholischen Meßfeier bildet und aus den fünf Teilen Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei besteht. Das Kyrie, der Anruf Gottes um Erbarmen, ist dabei das einzige Element des Ordinariums in griechischer Sprache. Es ist bereits im 4. Jahrhundert in Antiochia und Jerusalem nachweisbar, die uns  geläufige Form von neun Anrufungen ist im 8. Jahrhundert entstanden. Das Gloria wurde in der frühchristlichen Zeit nur am Weihnachtsfest intoniert und war dem Bischof vorbehalten. Seine endgültige Fassung wurde im 9. Jahrhundert ausgebildet. Das Credo, ursprünglich als Taufbekenntnis gesprochen, kommt seit Anfang des 6. Jahrhunderts in der Liturgie des Orients vor, doch wird es erst 1014 in die römische Meßordnung integriert. Bereits um 120 ist das Sanctus nachweisbar, um das Jahr 400 wird es Bestandteil der Liturgie, während das Agnus Dei etwa 300 Jahre später in die Meßfeier eingefügt wird. Diese Entwicklung zeigt, daß sich die zentralen Komponenten der Liturgie in einem Zeitraum entwickelt haben, der etwa sieben Jahrhunderte umfaßt.

Die mehrstimmige sakrale Musik hat ihre ersten Höhepunkte in Frankreich erreicht und ist vor allem mit den Namen Perotinus (um 1155/65 – 1200/20) und Guillaume de Machaut (um 1300 -1377) verbunden. Perotinus Magnus ist der herausragende Vertreter der Schule von Notre Dame in Paris und der erste, von dem zwei vierstimmige Kompositionen zum Weihnachtsfest (Viderunt omnes) und zum Fest des hl. Stephanus (Sederunt principes) überliefert sind, die wahrscheinlich 1198/99 entstanden. In diesen beiden, der Gattung des Organum zugehörigen Quadrupla  sind drei variierende, lebhaft rhythmisierende Oberstimmen über eine als Cantus firmus geführte Choralmelodie gesetzt, wobei höchst modern anmutende, teils dissonante Klangeffekte entstehen, die minimalistische Komponisten der Gegenwart wie Steve Reich stark angezogen haben. Die Empfindungen der Gottesdienstbesucher in der Kathedrale von Notre Dame hat sich Heinrich Besseler vorzustellen versucht: „So wirkt das Organum, namentlich bei der seltenen, hochfeierlichen Vierstimmigkeit, als energievoll in sich schwingende Klangmasse, die den Kathedralraum wie ein rhythmisches Fluidum erfüllt, dem dunkelrötlich-violetten Licht gotischer Dome vergleichbar und in deren Wunderwelt zur Entzückung und Verzauberung der Herzen berufen.“  Außergewöhnlich ist die Länge dieser „avantgardistischen“ Musikstücke von zwölf  Minuten Dauer. (Sie sind in einer Aufnahme des Hilliard-Ensemble eindrucksvoll interpretiert worden.) Guillaume de Machaut, seit 1337 Kanonikus an der Kathedrale in Reims, hat fast ausschließlich weltliche Musik nach eigenen Dichtungen komponiert (die auch durch eine späte Liebesromanze inspiriert worden sind), doch ist er vor allem durch die erste vollständige Vertonung des Ordinariums in seiner „Messe de Nostre Dame“ berühmt geworden, die wahrscheinlich 1364 zur Krönung Karls  V. in Reims entstanden ist.

Obwohl die mehrstimmige Kompositionstechnik Perotinus und Machaut vordergründig verbindet, liegt zwischen beiden eine markante Zäsur der Musikgeschichte, der Philipp de Vitry mit seiner Schrift „Ars nova“ (um 1320) einen Namen gegeben hat. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts haben Komponisten, unterstützt durch eine ständig verfeinerte Notenschrift,  immer komplexere Formen der Polyphonie entwickelt, die sich durch rhythmische Raffinesse (subtilitas) sowie melodischen und harmonischen Wohlklang (dulcedo) auszeichnen und ein uns heute wesentlich vertrauteres Klangbild vermitteln als es die archaisch aufgerauhten Strukturen der „Ars antiqua“ eines Perotinus vermögen.

In der Tradition von Machaut erscheint Guillaume Dufay (um 1400 -1474) als ein Kulminationspunkt der „Ars nova“ in der Übergangsperiode zwischen Gotik und Renaissance, am Beginn der eigentlich neuzeitlichen Musik. Dufay hat entscheidende Jahre seines Lebens in Cambrai, dem Zentrum des Herzogtums Burgund, verbracht und war zugleich der erste musikalische Globetrotter, den sein Weg von Rimini und Pesaro über Tournai und Savoyen nach Rom, Bologna und Florenz führte, wo er 1436 zur Einweihung des Florentiner Domes eine Festmotette komponierte. Seine vierstimmige Messe L’homme armé (um 1460), aus der wir das Kyrie (CD 1/ 3)  vorstellen, führt die französische und flämische Musiktradition mit italienischen und englischen Anregungen (insbesondere von John Dunstable) zu einer klangmächtigen Synthese. Sie gehört zum Typ der bis ins 17. Jahrhundert weit  verbreiteten sogenannten „Parodiemessen“, in denen ein populäres weltliches Lied als Cantus firmus verwendet wird und nicht mehr – wie noch bei Machaut – ein gregorianischer Choral. Der Text, das Lob auf einen bewaffneten Helden, könnte sich auf Karl den Kühnen bezogen haben, der nicht nur als Feldherr, sondern auch als Förderer der Tonkunst galt. Die Komposition hat vier Schichten: Während die beiden Ober-stimmen die Melodie entfalten, markiert der Tenor als Rückgrat der Komposition den Cantus firmus und der Baß dient als tragendes Fundament. Dufay, von dem etwa 200 Werke (darunter acht Messen) überliefert sind, zählt zu den ersten Komponisten, die schon zu Lebzeiten internationalen Ruhm erlangten. In seinem Standardwerk zur „Musik des Mittelalters und der Renaissance“ (1931) resümiert Heinrich Besseler, „daß in der unsagbaren Ruhe und Schönheit der Musik Dufays die Stimme der Gotik sich aussingt“ – und schon den Klang der Frührenaissance hören läßt.

Renaissance
Als früher Meister der Renaissance-Musik, an Dufay anknüpfend, kann Josquin Desprez (um 1440 – 1521) gelten, der ebenfalls in der Gegend um Cambrai geboren ist und seine musikalische Karriere in Mailand begann, bevor er in die päpstliche Sängerkapelle berufen wurde, der er mindestens bis 1494 angehörte. Bezeichnend für seinen damals bereits erworbenen Ruhm ist eine Anekdote, die seiner Anstellung als Leiter der Hofkapelle in Ferrara 1503 vorausging. Als Fürst Ercole I d’Este einen neuen Kapellmeister suchte, gab ihm ein Agent folgenden Bericht, in dem er zwei der renommiertesten Kandidaten mitein-ander verglich: „(Heinrich) Isaac kommt besser mit seinen Kollegen aus und ihm geht das Komponieren neuer Werke schneller von der Hand. Josquin ist  zugegebenermaßen der bessere Komponist, doch er komponiert nur, wenn es ihm paßt (…) und er fordert ein Gehalt von 200 Dukaten, während Isaac mit 120 zufrieden ist.“ Die Geschichte zeigt, daß sich Kunstverstand und Geschäftssinn nicht ausschließen und illustriert gleichzeitig das Prestige, das sich prominente Musiker inzwischen erwerben konnten. Josquin Desprez bildet eine neue musikalische Affektsprache aus, die das Verhältnis von Wort und Ton verschmilzt: Die  Melodie soll den Sinn des Textes akzentuieren und seine Wirkung effektvoll verstärken, wie das in unsere Musikauswahl aufgenommene Ave Maria (CD 2/4) veranschaulicht. Berühmt geworden sind auch die Echowirkungen, die Josquin in verschiedenen Kompositionen (wie Qui habitat) meisterhaft inszeniert und seine erschütternden  Dissonanzen in dem Lamento Absalon fili mi. Cosimo Bartoli hat ihn 50 Jahre nach seinem Tod als „Wunder der Natur“ bezeichnet und seine Kunst mit der Architektur, Malerei und Skulptur von Michelangelo verglichen. Martin Luther hat seine Bewunderung in die Worte gefaßt: „Josquin ist Meister der Noten, die das ausdrücken müssen, was er befiehlt, während andere Komponisten das tun müssen, was die Noten vorschreiben.“

Die durch Martin Luthers Thesen-Proklamation 1517 in Wittenberg eingeleitete Reformation hat nicht nur die weströmische Kircheneinheit gesprengt, sondern auch die Entwicklung der Kirchenmusik als Medium zur Verkündigung des göttlichen Wortes nachhaltig beeinflußt. Das gegenreformatorische Konzil von Trient, das in drei Tagungsperioden zwischen 1545 und 1563 stattfand und die zentralen Dogmen der katholischen Kirche bekräftigte, beschäftigte sich auch mit der sakralen Musik, über deren Gestaltung ein heftiger Streit entbrannt war. Antimodernisten verteidigten den traditionellen Stil (modesta gravitas) gegenüber der expressiv-bewegten Figuralmusik einer „ausgelassenen Mutwilligkeit“ (lascivia) und forderten, diese aus den Kirchen zu verbannen.
Um diesen Streit zu entscheiden, wurde Giovanni Pierluigi Palestrina (1525 – 1594) durch das Konzil beauftragt, drei Messen zu komponieren. Sie wurden bei ihrer Aufführung am 19.Juni 1565 so begeistert aufgenommen, daß Palestrina als „Retter“ der kirchlichen polyphonen Vokalmusik gelten kann. Sein Stil ist durch eine transparente Vielstimmigkeit charakterisiert, die der konzi-liaren Forderung entspricht, daß jedes gesungene Wort verständlich sein müsse, wie das Sanctus (CD 1/12) aus der Missa sine nomine in erhabener Klangschönheit spüren läßt. Palestrina war 1551 nach Rom gekommen, wo er 1571 Kapellmeister an San Pietro wurde. Von ihm sind fast 1000 Werke – darunter mehr als 100 Messen –   überliefert, von denen die Missa Papae Marcelli schon bald einen legendären Ruf erlangte. Seine hohe Wertschätzung als „Fürst der Musik“ wird dadurch eindrucksvoll unterstrichen, daß er 1594 im Petersdom begraben wurde.

Im gleichen Jahr starb auch der im flandrischen Hennegau geborene Orlando di Lasso (1532 – 1594), der neben Palestrina als bedeutendster Komponist der Hochrenaissance gelten kann. Wie Palestrina kam er 1551 nach Rom, das er bereits nach vier Jahren wieder verließ, um 1556 an die herzogliche Hofkapelle in München zu gehen. In diesem europaweit berühmten Ensemble, das zeitweise mehr als 60 Mitglieder umfaßte, übernahm er sechs Jahre später das Amt des Kapellmeisters, das er bis zu seinem Tod mehr als 30 Jahre ausübte. Im Unterschied zu Palestrina hat Orlando di Lasso  gleichermaßen geistliche wie weltliche Werke in verschiedenen Sprachen komponiert. Von Kaiser Maximilian II. 1570 in den Adelsstand erhoben, war er der bestbezahlte Kompo-nist seiner Zeit und soll die meisten Noten der Weltgeschichte geschrieben haben, darunter 60 Messen und 100 Magnificats. Orlando di Lasso hatte die alte Kompositionstechnik verlassen, eine vorhandene Melodie  als Grundlage einer Komposition zu benutzen. In seiner polyphonen Musik sind alle Stimmen frei erfunden. Der Vortrag seiner Kapelle wird von Zeitzeugen als „geflüsterter Klang“ beschrieben, wodurch die subtile Aus-gestaltung seiner Kompositionen vermutlich ihre besondere Wirkung entfalten konnte.
Das Magnificat, der Lobgesang auf die Verkündigung der Menschwerdung Christi durch die „Gottesgebärerin“ (wie Maria seit dem Konzil von Ephesos 431 genannt wurde), bildet seit dem hl. Benedikt den Höhepunkt der Vesper im Stundengebet der Mönche und Ordensfrauen. Seit dem 15. Jahrhundert erlangt es auch in der mehrstimmigen Musik eine herausragende Bedeutung. Wir haben die sechsstimmige A-capella-Komposition von Orlando di Lasso (CD 1/10) dem reich instrumentierten doppelchörigen Magnificat von Giovanni Gabrieli (CD 1/11) direkt gegenübergestellt, um den markanten Stilwandel zu verdeutlichen, der zwischen den Meisterwerken der Spätrenaissance und den ersten Glanzlichtern des Frühbarock besteht.

Barock
Giovanni Gabrieli (1555 – 1612) und mehr noch Claudio Monteverdi (1567 – 1643) stehen als einsame Größen am Anfang des Barockzeitalters. Ihre Musik hat bereits wesentliche Merkmale ausgebildet, die für die Barockmusik charakteristisch sind. Gabrielis mächtige Doppelchöre mit reicher Instrumentalbegleitung weisen ebenso auf die großen Chorwerke Händels voraus, wie sich in Monteverdis Kompositionen die Ursprünge von Oper, Kantate und Oratorium entdecken lassen. Die von Monteverdi zur Vollendung geführte Form der Monodie, eines instrumental begleiteten Sologesangs mit affektbetonter Deklamation, ist für den bedeutenden Musikwissenschaftler Hugo Riemann „Ausgangspunkt der gesamten modernen Musik“. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet dafür das mystisch-melismatische Duett O bone Jesu (CD 1/5), das die Einfühlung in die Leiden Christi mit der Bitte um Erlösung verbindet. Monteverdis Madrigalwerke haben einen völlig neuen expressiv-dramatischen Stil entwickelt, den er im Vergleich zu älteren Kompositionsweisen (prima prattica) als seconda prattica bezeichnet. Selbstbewußt spricht Monteverdi von der „Perfettione della Moderna Musica“.

In Venedig geboren, war Giovanni Gabrieli zunächst Schüler seines Onkels Andrea, bevor er sich 1575 für vier Jahre der Münchner Hofkapelle unter Orlando di Lasso anschließt. Seit 1584 Organist an San Marco wird Giovanni Gabrieli vor allem durch seine „Symphoniae sacrae“ berühmt, unter denen sich auch zahlreiche Magnificat-Vertonungen befinden. „In ungeheurer Hochspannung rauschen die visionären Chordialoge auf, die der Venezianer zwischen den Emporen und Galerien von S. Marco den Raum durchfluten läßt“ (Heinrich Besseler). Von ihm stammen auch etliche Instrumentalsätze, die zu den ältesten Stücken der Orchestermusik gezählt werden. Seine Sonata pian e forte  (CD 1/8) spielt eindrucksvoll mit den dynamischen Wirkungen wechselnder Lautstärke in der Musik.

Claudio Monteverdi, der bereits mit 15 Jahren seine erste Komposition veröffentlichte, kam nach seinen frühen Jahren in der Geigenbaumeisterstadt Cremona 1590 an den Hof der Gonzaga in Mantua, wo er zunächst vor allem durch seine meist fünfstimmig komponierten Madrigalzyklen berühmt wurde. Seine erste Oper „Orfeo“ wurde 1607 in Mantua aufgeführt, doch zog sich Monteverdi bereits im folgenden Jahr verbittert nach Cremona zurück, da ihm der Herzog die gebührende Anerkennung versagte. Dort entstand um 1610 seine bahnbrechende Vespro della Beata Vergine, in der er seine vielfältigen kompositorischen Ausdrucksmittel in vielen Variationen vereinigte. Wir haben aus seiner wohl berühmtesten sakralen Komposition die vor dem Magnificat eingefügte Sonata sopra Sancta Maria (CD 2/3) in unsere Musikauswahl aufgenommen. Es ist ein prunkvolles Instrumentalstück, in dem ein Chor elfmal litaneiartig die Fürbitte „Sancta Maria, ora pro nobis“ intoniert, die seit dem 10. Jahrhundert dem Ave Maria angefügt wird. Monteverdi wurde vermutlich unter dem Eindruck dieses Meisterwerks 1613 mit einhelliger Zustimmung zum Maestro di capella an San Marco ernannt. Diesem Amt ist er 30 Jahre, von aller Welt als bedeutendster Komponist seiner Zeit gepriesen, bis zu seinem Tod treu geblieben.

Es ist reizvoll, Seitenblicke auf die Musik zu richten, die in dieser Zeit neben den Werken der großen Meister entstanden ist. Jacobus Gallus (1550 – 1591), ein österreichischer Komponist slowenischer Herkunft, war Kapellschüler im Kloster Melk, später Mitglied der Wiener Hofkapelle und zuletzt Kantor in Prag. In seiner Motette zum 3. Adventsonntag Veni Domine (CD 2/6) ist der Einfluß der italienischen Vokalpolyphonie unverkennbar. Der Italiener Ludovico Casali (1575 – 1647) wurde vor allem durch seine achtstimmige Motette Gaudens gaudebo (CD 1/9) von 1611 bekannt, die dem am 8. Dezember gefeierten Hochfest gewidmet ist, nach dem Maria als einziger Mensch frei von der „Erbsünde“ (Adams und Evas) durch ihre Mutter Anna empfangen worden sei. Er verfaßte zudem ein Musiktraktat, in dem er die vier menschlichen Stimmlagen Tenor (Frühling), Sopran (Sommer), Alt (Herbst) und Baß (Winter) in origineller Form mit den vier Jahreszeiten verglich.

Die Echo-Fantasie (CD 1/6) von Hans Leo Hassler (1564 – 1612) gibt ein Beispiel für eine  Orgelkomposition am Ausgang des 16. Jahrhunderts. Hier dient die Orgel nicht mehr der musikalischen Begleitung, sondern demonstriert als autonomes Soloinstrument ihre originären Klangmöglichkeiten. Hassler war der erste bedeutende deutsche Musiker, der seine Ausbildung in Italien erhalten hatte, bevor er 1586 als Organist nach Augsburg berufen wurde. Vor allem durch Jan Pieterszoon Sweelinck (1562 – 1621) und 75 Jahre später durch Dietrich Buxtehude (1637 – 1707) rückte die Orgelmusik mit kunstvollen Kompositionen immer stärker in eine exponierte Stellung, die den Kirchenraum mit ihrem weitgefächerten Klangreichtum erfüllte, bevor sie im unauslotbaren Orgelwerk von Johann Sebastian Bach kulminiert.

Johann Hermann Schein (1586 – 1630) ist ein früher Repräsentant der protestantischen Kirchenmusik im Land der Reformation, seit 1616 wirkte er als Thomaskantor in Leipzig. Seine sechsstimmige Motette O Domine Jesu Christe (CD 1/7) aus dem Motetten-Zyklus „Cymbalum sionium“ erschien 1615 und enthielt Vertonungen lateinischer und deutscher Texte, die Schein häufig selbst verfaßt hatte. Schein war eng mit dem fast gleichaltrigen Heinrich Schütz (1585 – 1672) befreundet und schrieb wie dieser viele seiner Motetten noch auf lateinische Textvorlagen. Erst gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges begann Schütz, vorwiegend deutsche Texte zu vertonen, wobei das achtstimmige Deutsche Magnificat (1671) als Krönung seines Lebenswerkes gilt. Der italienische Einfluß auf diesen wohl bedeutendsten deutschen Komponisten vor Bach wird besonders aus dem Umstand deutlich, daß Schütz seine „Symphoniae sacrae“ 1629 in Venedig veröffentlichte.

Mit der Blütezeit des Barock, die um 1680 einsetzt, begibt sich der Musikliebhaber auf ein weitgehend vertrautes Feld. Werke von Arcangelo Corelli (1653 – 1713), der als Schöpfer des Concerto grosso gilt oder des Venezianers Tomaso Albinoni (1671 – 1751) sind ähnlich bekannt geworden wie die Kompositionen des in Venedig am  Ospedale della Pietà wirkenden,1703 zum Priester geweihten Antonio Vivaldi (1678 – 1741), der sich –   selbst ein bedeutender Violinist –  in allen musikalischen Genres einen hervorragenden Namen gemacht hat. Unter seinen kirchenmusikalischen Kompositionen wird besonders das Gloria in D-Dur (um 1713) noch häufig aufgeführt. Corelli und Albinoni sind vor allem durch ihre Instrumentalkonzerte hervorgetreten, in denen die langsamen Sätze häufig ein weihevolles weihnachtliches Empfinden ausdrücken (CD 2/5 und CD 2/9). Das gilt in ähnlicher Form auch für das Adagio aus einem Trompetenkonzert von Georg Philipp Telemann (1681- 1767) – seit 1721 Direktor der Kirchenmusik in Hamburg -, das durch das hell klingende Solo-instrument zudem festlichen Glanz verströmt (CD 2/11). Das Adagio aus einem Konzert für Trompete, Solovioline und Streicher (CD 2/1), das von einem Anonymus vermutlich im frühen 18. Jahrhundert komponiert wurde, erhält seinen besonderen Reiz durch die ungewöhnliche konzertante Verknüpfung zwischen den beiden Solostimmen. Von Ludwig Güttler in der Universitätsbibliothek Rostock entdeckt, verweist es auf italienische Einflüsse und erinnert in der vorliegenden Bearbeitung mit Auszierungen nach frühklassischer Art an die virtuose Tradition Vivaldis.

Der in Halle geborene Georg Friedrich Händel (1685 – 1759) wurde in seinem 75. Lebensjahr als englischer Staatsbürger in Westminster Abbey begraben – der berühmteste frühe Europäer in der Musikgeschichte.  Als Hofkapellmeister des englischen Königshauses unter Georg I., dem vormaligen Kurfürsten von Hannover, lebte Händel seit 1712 in London, wo er vor allem italienische Opern und prunkvolle Hofmusiken komponierte. In seinen frühen Jahren hat er vergleichsweise selten kirchenmusikalische Werke geschrieben, darunter zwei unter italienischem Einfluß entstandene Oratorien und eindrucksvolle Tedeums. Erst nach seinem endgültigen Scheitern als Opernunternehmer (1737) konzentriert sich Händel auf die Komposition geistlicher Musik, in der sein englisches Oratorium  Messiah, 1742 in Dublin uraufgeführt, einen herausragenden Platz einnimmt. Nach Art eines geistlichen Dramas ist es in drei Teile gegliedert: Ankündigung und Geburt Christi; Passion und Auferstehung; Verheißung der Wiederkunft des Herrn. Von der pastoralen Stimmung der Hirtenmusik (CD 2/7) über den melodischen Reichtum des Duetts He shall feed his flock (CD 2/8) bis zu den expressiven Klagen in den Passionsszenen reicht das Ausdrucksspektrum dieser Musik, sie kulminiert in den jubelnden Gesängen zum Lobpreis Gottes, die schon im ersten Chorensemble And the glory of the Lord (CD 2/12) machtvoll aufklingen.
Noch vor den beiden großen Passionsmusiken ist das Weihnachtsoratorium  das wohl populärste Werk von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750). Nach einem langwierigen Auswahlverfahren übernahm Bach im Mai 1723 das Amt des Thomaskantors in Leipzig, wohin er vom Köthener Hof überwechselte. Zur wöchentlichen Aufführung von Kirchenmusik verpflichtet, hat Bach den Hauptteil seines Kantatenwerks in Leipzig geschaffen, wo er 1734 sein Weihnachtsoratorium erstmals aufführte. Es besteht aus sechs durch die Grundtonart D-Dur eher lose verbundene Kantaten, die den Zeitraum von den drei Weihnachtstagen über Neujahr bis zum Dreikönigsfest umfassen. Bach hat das Werk vermutlich im November und Dezember 1734 nach einem Libretto von Picander komponiert, wobei umfangreiche Teile die neuen Texte mit früheren Kompositionen nach dem sogenannten „Parodieverfahren“ verbunden haben. Das gilt beispielsweise auch für den bekannten Eingangschor Jauchzet, frohlocket, der die Musik einer im gleichen Jahr entstandenen weltlichen Kantate (Tönet, ihr Pauken) übernimmt. Dagegen ist der Beginn der fünften Kantate zum Sonntag nach Neujahr Ehre sei dir, Gott (CD 2/10) eine Originalkomposition – ein mitreißendes Chorwerk für vier Stimmen in der höchsten Grundtonart A-Dur, in dem Bachs Kunst kontrapunktischer Verschränkung wirkungsvoll zur Geltung kommt, obwohl die Instrumentation nur zwei Oboen und Streicher verwendet und auf den Glanz des Trompetenklangs verzichtet.

Die Superlative, die Bachs Musik von Beethoven bis Schönberg gelten, sind seit ihrer Wiederentdeckung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch den Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, und die erste Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy (1829) nicht mehr verstummt. Zelter hat Bachs Messe in h-moll (gelegentlich auch als Hohe Messe bezeichnet)  als „das größte Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat“ gefeiert. Daß die bedeutendste Vertonung der katholischen Messe von einem protestantischen Komponisten stammt, ist auf den ersten Blick überraschend, läßt sich aber zum Teil durch biographische Gründe erklären. Infolge seiner Wahl zum polnischen König (1697) war August der Starke zum Katholizismus konvertiert, so daß seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Dresdens spätbarocker Hofkirche die katholische Messe zelebriert wurde. Da Bach mit seiner Alimentierung durch den Leipziger Stadtrat höchst unzufrieden war, suchte er seine materielle Lage durch den Erwerb des Titels eines sächsischen „Hofkapellmeisters“ zu verbessern. Mit dieser Absicht hat er am 27. Juli 1733, wenige Monate nach dem Tod Augusts des Starken, am kurfürstlichen Hof in Dresden ein neu komponiertes Kyrie und Gloria überreicht, doch blieb ihm der angestrebte Titel bis 1736 vorenthalten. Bach hat die h-moll-Messe erst in seinen letzten Lebensjahren vollendet, wobei er das zum Weihnachtsfest 1724 entstandene Sanctus (CD1/13)  in den Messe-Corpus einbeziehen konnte. Seine oft dargestellte anspielungsreiche Kunst musikalischer Wortauslegung wird hier deutlich erkennbar: Bach verweist in seiner Komposition zahlensymbolisch auf den dreimal wiederholten Sanctus-Ruf (und ebenso auf die Dreifaltigkeit Gottes), indem er Chor und Orchester in jeweils fünf dreistimmige Gruppen gliedert: Trompeten, Oboen, Streicherstimmen, hohe und tiefe Chorstimmen. Das „Pleni sunt coeli“ gestaltet er als vom Tenor begonnene Fuge, die in majestätischem Jubel ausklingt.

Die beiden CD-Zusammenstellungen sind weitgehend nach der Entstehungszeit der musikalischen Werke angeordnet und folgen gleichzeitig (vor allem in der CD 2)  einer musikdramaturgischen Konzeption, indem sie die vielfältigen Facetten der Musik in einem Zeitraum, der mehr als ein Jahrtausend umspannt, mit der sakra-len Architektur in Beziehung setzen.

Musik krönt die gebauten Visionen des Himmels, die uns die Klöster und Kathedralen sinnfällig vor Augen führen. Indem sich die Worte der Verheißung in Töne verwandeln und zu Melodien verschmelzen, erfüllt sich die Einheit von Raum und Zeit. Wenige Monate vor ihrem frühen Tod schreibt Ingeborg Bachmann im Juni 1973 an Hans Werner Henze: „Für mich ist Musik größer als alles, was es gibt an Ausdruck. Dort haben die Menschen das erreicht, was wir durch Worte und Bilder nicht erreichen können.“ Und der große marxistische Philosoph Ernst Bloch, der das „Prinzip Hoffnung“ zum Ausgangspunkt für die „konkrete Utopie“ einer humanen Welt erklärt hat, erkennt im Gespräch mit dem christlichen Existenzphilosophen Gabriel Marcel in der Musik das Geheimnis der Transzendenz: „Da ereignet sich Ewigkeit.“

© Rüdiger Thomas

In: Karin Thomas/Rüdiger Thomas (Hrsg.): Himmlische Harmonien. Heilige Räume und geistliche Musik (mit 2 CD). Köln 2005, S. 110-121.

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