DDR-Forschung in Multiperspektive

DDR-Forschung in Multiperspektive

Text als Word-Dokument downloaden: Huettmann.doc

 

DDR-Forschung in Multiperspektive

Rüdiger Thomas, Bergisch Gladbach

 

Jens Hüttmann: DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der  bundesdeutschen DDR-Forschung. Berlin: Metropol  Verlag 2008, 472 S., 24.

 

Jens Hüttmann hat mit seinem Buch „DDR-Geschichte und ihre Forscher“, das aus einer Dissertation bei Alf Lüdtke (Universität Erfurt) hervorgegangen ist, einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, die Sicht auf die DDR-Forschung vor und nach dem Ende der DDR zu entemotionalisieren. Es ist ein nicht zu überschätzender Vorzug, dass der Autor selbst kein DDR-Forscher gewesen ist und daher aus der Distanz des Unbeteiligten auf die Entwicklung eines stets umstrittenen Forschungsfeldes blicken kann, dessen Geschichte einen Zeitraum von nahezu 60 Jahren umfasst. Dabei hat Hüttmann auch forschungsstrategisch einen neuen Weg beschritten, der seine Untersuchung deutlich über den frühen, 1991 publizierten Überblick von Heinz-Peter Hamacher („DDR-Forschung und Politikberatung 1949 – 1990“) hinausführt. Er hat insgesamt 24 Personen, renommierte Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen, den zuständigen Beamten für die Wissenschaftsförderung im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Peter Dietrich) sowie  Mark Naimark von der Stanford University auf der Grundlage eines Leitfadens befragt, um ihre „lebensgeschichtliche Betroffenheit“ (43) in seine Darstellung als relevanten Erklärungsfaktor einzubeziehen. Außerdem hat er Fragen zu ihrem eigenen Forschungsverständnis, zur Ein-schätzung der DDR-Forschung vor 1989 und zur Entwicklung seit der deutschen Vereinigung gestellt (402 – 403). Diese Aussagen werden in seinem Werk als hermeneutisches Hilfsmittel herangezogen, ohne dass sich der Autor ihre Einschätzungen stets zueigen machen würde. Eine Stärke des Buches ist über-haupt, dass Hüttmann jeden anmaßenden Ton vermeidet und sein Erkenntnisinteresse zuallererst darauf gerichtet ist, Positionen der DDR-Forschung in ihrem Entwicklungsverlauf sich selbst und den Lesern verständlich zu machen.

Hüttmann gliedert seine Darstellung in drei Zeitabschnitte: Unter dem Rubrum „Von der SBZ- zur DDR-Forschung“ behandelt er den Zeitraum von 1945 bis 1967. Die „alte“ DDR-Forschung umgreift in der Sichtweise des Autors eine Periode von mehr als 30 Jahren: „Zwischen Krise, Verwissenschaftlichung und Sonderdisziplin (1957 – 1990)“. Schließlich scheut Hüttmann nicht das reizvolle Risiko, die Jahre seit 1990 im Wahrnehmungshorizont „Kritik, Forschungsboom und ‚neue’ Verwissenschaftlichung“ in seine Forschungsbilanz einzubeziehen.

Das Kapitel, in dem die Gründerjahre der DDR-Forschung erörtert werden, ist dem Autor am besten gelungen. Die lebensgeschichtliche Perspektive kommt in aufschlussreichen Kurzporträts führender Protagonisten der Forschung (wie Ferdinand Friedensburg, Bruno Gleitze, Otto Stammer, Ernst Richert, Max Gustav Lange), besonders eindrucksvoll in dem informationsgesättigten differenzierenden Text über Karl C. Thalheim (73 – 81) zur Geltung. Auch im Fokus der Institutions- und Organisationsgeschichte gelingt Hüttmann eine klare Strukturierung der Information. Außerdem eröffnet er interessante neue Einblicke in die Entwicklung der DDR-Forschung am Berliner Institut für politische Wissenschaft (IfpW). Max Gustav Lange, Ernst Richert und Otto Stammer hatten sich in einer Arbeitsgruppe zusammengefunden, die eine Grundlagenstudie „Das Problem der neuen Intelligenz in der sowjetischen Besatzungszone“ formulierte, in der sie schon im August 1953 gegen das statische Totalitarismusmodell von Carl Joachim Friedrich kommunistische Herrschaftssysteme als „historisch-dynamische Gebilde“ (135) auffassten. In einigen grundlegenden Arbeiten von Otto Stammer und insbesondere in Ernst Richerts Hauptwerk  „Macht ohne Mandat“(1958) sind die konzeptionellen Ansätze expliziert, die Peter Christian Ludz seit 1964 umfassend konkretisiert hat und die in seinem Buch „Parteielite im Wandel“(1967) kulminieren. „Methodisch war nun vorgesehen, die DDR sowohl ‚immanent’ als auch kritisch zu untersuchen, das heißt, sie teilweise unter den Bedingungen ihrer Ideale und analytischen Kategorien zu sehen.“(153) Der Abschnitt über das IfpW zeichnet konzise und überzeugend den Weg nach, der für die DDR-Forschung in den siebziger Jahren wichtige neue Impulse vermittelt hat.

Das Kapitel über die „Blütezeit“ der DDR-Forschung bis 1990 macht noch einmal den engen Zusammenhang bewusst, der zwischen der neuen Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition und dem Vorrang neuer sozialwissenschaftlicher Forschungskonzepte unter dem maßgeblichen Einfluss von Ludz bestand.

Über die Bedeutung und die Forschungsleistungen von Ludz, seine wissenschaftstheoretische Position eines kritischen Rationalismus und seine Forderung nach einer empirischen Analyse der DDR im Bezugsfeld einer auch immanenten Betrachtung der DDR, die proklamierte Ziele und Systemperformanz in ihrem Widerspruch zu fassen sucht, ist schon so viel geschrieben und gestritten worden, dass hier ein Hinweis genügen soll. Hüttmann interpretiert „Parteielite im Wandel“ geradezu kontrastierend zu den gängigen Deutungen: Ludz habe die in seinem Buch elaborierte Hypothese von einem Vordringen des Expertenwissens gegenüber der dogmatischen Führungselite selbst falsifiziert: „Das entscheidende Ergebnis (…) sei, dass sich das System in seiner ‚totalitären Struktur’ zum ‚konsultativen Autoritarismus’ verändert habe – die Grund-struktur aber sei erhalten geblieben!“ (206). Ludz hat die Entwicklungstendenzen in der DDR – wie eine Relektüre zeigt – in der Tat  vorsichtiger eingeschätzt als ihm zumeist unterstellt wird: „Die Frage, wie – und ob überhaupt – der Konflikt zwischen der Autorität der politischen Entscheidungselite und der funktionalen Autorität der Parteifachleute schließlich aus-getragen wird, ist heute noch nicht zu beantworten.“ (Ludz, a. a. O., S. 152) Diese Formulierung deckt zwar nicht in toto das Urteil Hüttmanns, doch rückt sie neu ins Bewusstsein, wie vergröbernd manche Auseinandersetzungen in abwertender Absicht geführt worden sind, ohne die Forschungsergebnisse genau zu erfassen.

Der Autor war allerdings nicht gut beraten, die DDR-Forschung der siebziger und achtziger Jahre in einem Kapitel zusammenzubinden. In seiner Darstellung bleiben die achtziger Jahre nahezu vollständig ausgeblendet. Der Hinweis auf die Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung (die bereits im April 1978 erfolgte) oder die Erwähnung der „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“, die 1987 unter Leitung von Karl C. Thalheim vorgelegt wurden, erscheinen eher als Stichworte, während die siebziger Jahre eingehend reflektiert werden. Dadurch bleibt eine erhebliche Lücke in der Darstellung. Sie hat ihren Hauptgrund vermutlich im methodischen Ansatz von Hüttmann, der seine Darstellung um die zentralen Protagonisten der DDR-Forschung fokussiert.

In den achtziger Jahren hat die Forschung keine vergleichbar einflussreichen neuen Persönlichkeiten hervorgebracht wie in den Jahrzehnten zuvor. Karl Wilhelm Fricke, dem wir alle wichtigen Studien zur Staatssicherheit sowie zu Widerstand und politischer Verfolgung in der DDR verdanken, galt als jour-nalistischer Außenseiter, dem die Zunft der DDR-Forscher das heikle Thema von Repression und Unterdrückung in der SED-Diktatur seit Ende der sechziger Jahre überlassen hat. Hermann Webers große Verdienste bei der Erforschung der DDR-Geschichte reichen in die siebziger Jahre zurück und finden in dem von ihm 1981 gegründeten und geleiteten Mannheimer „Arbeitsbereich Geschichte und Politik der DDR“ in erster Linie eine Fortsetzung und Erweiterung in der Planung neuer groß dimensionierter Forschungsvorhaben. Hartmut Zimmermann war die letzte Autorität, die nach dem Weggang von Ludz aus Berlin nach Bielefeld und München am ZI 6 noch eine inspirierende Bedeutung für die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung hatte, aus der sich Sigrid Meuschel mit ihrer Studie „Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR“ (die dann erst 1992 erschienen ist) besonders profilieren konnte. Zim-mermann hat noch im Mai 1989 gemeinsam mit Werner Weidenfeld das von der Bundeszentrale für politische Bildung initiierte „Deutschland Handbuch“ herausgegeben, das ein neues Konzept des deutsch-deutschen Systemvergleichs erprobte. Es ist ebenso wenig erwähnt wie die wichtigen Studien zum Bildungssystem der DDR, die Oskar Anweiler vor-gelegt und in seinem Bochumer Institut angeregt hat. Auch fehlen die zahlreichen wichtigen Beträge zur Gesellschaftsgeschichte und zur Soziologie der DDR (erwähnt seien fragmentarisch Walter Jaide und Barbara Hille mit ihren Jugendstudien, Gisela Helwig mit ihren Beiträgen zur Situation der Frauen, Dieter Voigt zur Entwicklung der Sozialstruktur). Das gilt ebenso für die Kulturgeschichte (um nur auf Irma Hanke und Antonia Grunenberg zu verweisen).

Die Einbeziehung dieser Forschungsleistungen aus den achtziger Jahren hätte insbesondere die fortschreitende Pluralisierung der Forschungskonzepte und die Substanziierung der Forschungsresultate im Bereich der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung aufgezeigt. Sie verdeutlichen, dass euphe-mistische Erwartungen an grundlegende Veränderungen in der DDR, die seit Mitte der sechziger Jahre durch konvergenztheoretische Deutungsmuster in der DDR-Forschung nachweisbar sind, einer deutlichen Ernüchterung – bei den gleichen Autoren – gewichen sind. Die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung hat in dieser Endphase der DDR Krisensymptome erkannt und benannt: den fortschreitenden Entfremdungs-prozess zwischen Führung und Gesellschaft, die wachsende Entfernung der jungen Generation vom „Modell DDR“, die Zunahme der Desillusionierung über den „real existierenden Sozialismus“. So bleibt in Jens Hüttmanns Buch eine empfind-liche Lücke, die durch eine gesonderte Studie möglichst bald geschlossen werden sollte.

Das Kapitel über die DDR-Forschung nach 1990 konnte verständlicherweise nur einen resümierenden Charakter haben. Seit der deutschen Vereinigung hat es eine kaum überschaubare Zahl von Konferenzen und Fachtagungen gegeben, die sich der kritischen Aufarbeitung der alten DDR-Forschung gewidmet haben und neue Forschungsergebnisse auf einer umfassenden Quellenbasis vorstellen konnten. Schließlich enthalten die Materialien der beiden Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung und Überwindung der Folgen der SED-Diktatur viele Expertisen, die wichtige Forschungsergebnisse zusammenfassen. In den neunziger Jahren sind neue Forschungszentren entstanden, von denen Hüttmann als „kurze Skizze“(339) das Zentrum für Zeithistorische Forschungen, das Militärgeschichtliche Forschungsamt, das Hannah-Arendt-Institut und die neu gegründete Außenstelle Berlin des Münchner Instituts für Zeitgeschichte erwähnt, ohne auf ihre oft bemerkenswerten Forschungsergebnisse einzugehen.

Hingegen wird der Forschungsverbund SED-Staat, der sich 1992 an der FU Berlin etabliert hat, nicht nur in der Revue neuer Forschungsinstitutionen präsentiert. Vielmehr rücken seine Initiatoren und konzeptionellen Vordenker Klaus Schroeder und Jochen Staadt, zu denen wenig später auch Manfred Wilke stößt, in den Mittelpunkt einer vergleichsweise detaillierten kritischen Betrachtung, die weniger auf ihre eigenen relevanten Beiträge zur DDR-Forschung ausgerichtet ist als auf ihre Fundamentalkritik an der alten sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung vor 1990. Diese Schwerpunkt-setzung Hüttmanns ist nur bedingt nachvollziehbar und wohl vornehmlich aus der Dramaturgie seines Buches zu erklären. Unter den Kritikern der alten DDR-Forschung gab es ja durchaus höchst differenzierte Analysen, beispielsweise von Eckhart Jesse oder Günther Heydemann. Die überspitzten Attacken von Schroeder und Staadt haben Hüttmann offenbar besonders gereizt, seine eigene Lust an der polemischen Auseinandersetzung zu erproben. Dass er dabei die Verdikte der beiden Fundamentalkritiker über weite Teile der alten DDR-Forschung in ihrem Gehalt zu unterminieren weiß, bietet eine zuweilen erfrischende Lektüre, doch fragt man sich, ob damit nicht eine übertriebene Bedeutungszuweisung verbunden ist.

Doch diese Einschränkungen ändern nichts an dem Gesamteindruck: Hüttmanns Studie ist ein wichtiger Impuls für eine neue Sicht auf die Geschichte der DDR-Forschung, eine Heraus-forderung für eine Spurensuche nach ihren fortwirkenden Erträgen aus der Vergangenheit und ein Anstoß, die Aufgaben einer künftigen gesamtdeutschen Historiographie zu überdenken, in der die DDR nicht nur als bloße Fußnote erscheint, sondern als gelebte Generationengeschichte.

 

© Rüdiger Thomas

 

In: Deutschland Archiv, 42. Jg. (2009), H.1, S.147-150.

Wie sich die Bilder gleichen

Wie sich die Bilder gleichen

Text als Word-Dokument downloaden: 2011_Wie_sich_die_Bilder_gleichen.doc

 

Ein vergleichender Rückblick auf den deutsch-deutschen Literatur- und Bilderstreit

I.

Es ist notwendig, sich zu erinnern: Literatur und Kunst wurden in der Periode der deutschen Teilung als Brücken verstanden, auf denen sich die Deutschen intellektuell und kulturell  begegnen konnten. Zu den Paradoxien des deutschen Einigungsprozesses gehört die Beobachtung, dass der Streit über die Kultur in der DDR zum gleichen Zeitpunkt einsetzte, als die staatliche Einheit der Deutschen wieder erreicht war. Im Mittelpunkt des Interesses standen nicht mehr die Bücher und Kunstwerke aus der DDR, die seit Mitte der 1960er Jahre als verschlüsselte kritische Botschaften aus einem fremd gewordenen abgeschotteten Land aufmerksam und wohlwollend registriert worden waren, sondern debattiert wurde über die Kulturpolitik eines Überwachungsstaates und ihre disziplinierende Wirkung auf die Kulturproduzenten. Werden Kunst und Kultur, die in der DDR entstanden sind, vor allem als Politikum wahrgenommen, als Geschichte politischer Reglementierung und intellektueller oder künstlerischer Selbstpreisgabe, gerät die Frage nach der kulturellen Substanz, nach dem Beitrag der Schriftsteller und Bildkünstler aus der DDR zur deutschen Kultur, weitgehend aus dem Blickfeld. Was unter den widerspruchsvollen Bedingungen einer reglementierenden Kulturpolitik durch den Eigen-Sinn der Künstler als Akt der Selbst-Behauptung entstanden ist, wird auf diese Weise zum Bestandteil einer durch Zwangsherrschaft charakterisierten politischen Episode marginalisiert, bevor es als künstlerisches Zeugnis einer historischen Periode erkundet und in den Traditionsbestand der deutschen Kultur sowie als Teil der inter-nationalen Literatur und Kunst eingeordnet werden kann.

Diese Verengung und Verzerrung der Wahrnehmungsperspektive zeigt sich symptomatisch in zwei von Missverständnissen und Vorurteilen geprägten Prozessen fehlgeleiteter intellektueller Kommunikation, die ein Jahrzehnt nach dem Scheitern des Realsozialismus in der DDR die Kulturszenen im geistig noch unvereinten Deutschland erregten: dem „Literaturstreit“ und dem „Bilderstreit“. Den Verlauf dieser beiden häufig ebenso emotional wie heftig ausgetragenen Kontroversen in ihren Einzelheiten ereignisgeschichtlich und diskursanalytisch zu rekapitulieren, erscheint aus gegenwärtiger Sicht kaum noch erforderlich, hat sich doch die eigentümliche Mischung aus Selbstgerechtigkeit und Larmoyanz, mit der die Protagonisten seinerzeit zielsicher aneinander vorbeigeredet haben, weitgehend verflüchtigt und ist einem Zustand gewichen, der sich als erschöpftes Desinteresse kennzeichnen lässt. Noch immer erscheint allerdings der Versuch reizvoll, die Argumentationsfiguren und Denkmuster der beiden Kontroversen aufzudecken. So könnte deutlich werden, worin das „Unabgegoltene“ (Ernst Bloch) dieser ersten Periode eines fehlgeschlagenen deutsch-deutschen Kulturdialogs liegt. In einer solchen Perspektive ließe sich aus dem Misslingen einer frühen kulturellen Annäherung ein Impuls gewinnen, die Entwicklung der Kultur im geteilten Deutschland in einem neuen Anlauf als Projekt einer gesamtdeutschen Kulturgeschichte zu sondieren.

II.

Der „Literaturstreit“ wurde durch Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ ausgelöst, die am 5. Juni 1990 veröffentlicht wurde und mit der skeptischen Selbstermunterung beginnt: „Nur keine Angst.“ Es ist ein Text, der die persönlichen Erfahrungen der Autorin mit dem Überwachungsstaat reflektiert. Er handelt von Angst und Ohnmacht, der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Solidarität, von zaghafter Zuversicht auf eine menschliche Zukunft und von der Schwierigkeit, in den Bedrückungen und Alpträumen der eigenen Existenz eine authentische Sprache, einen „wahren Text“ zu finden. Da wird kein heroisches Selbstbild gezeichnet, eigene Schwäche und Selbstzweifel werden vielmehr deutlich benannt. Als heimliche Heldin erscheint eine unbekannte junge Frau (der Schriftstellerin Gabriele Stötzer-Kachold nachempfunden), ein Mensch, „der litt, ohne sich wehren zu können, und überlebte, indem er Gedichte schrieb“, und dabei einen „wahren Text“ gefunden hat, um den sich die Protagonistin der Erzählung vergeblich bemüht.

Christa Wolf gelingt es mit dieser Erzählung, die beklemmende Atmosphäre zu schildern, in der sich Künstler in der DDR bewegt haben. Ihr Text ist ein eindringliches Psychogramm des Überwachungsstaates, eine psychologische Studie über Angst und Selbstbehauptung in der SED-Diktatur. So hätte er eine wichtige Grundlage bieten können, um die Existenzbedingungen von Menschen in der DDR besser zu verstehen. Doch es kam anders: Christa Wolf wurde bereits unmittelbar vor Auslieferung des Buches in der „Zeit“ und in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zur Zielscheibe einer heftigen Kritik, die sich vorrangig auf ihre politische Haltung als „öffentliche Person“ (Ulrich Greiner) in der DDR bezog und dabei auf irritierende Weise Leben und Werk der Autorin, moralische und ästhetische Werturteile miteinander vermischte.[1]

Wenige Monate nach dem Beginn dieses „Literaturstreites“ gab Georg Baselitz den Anstoß für einen heftigen „Bilderstreit“, als er ebenfalls im Juni 1990 in einem ausführlichen Interview mit der Kunstzeitschrift „art“ grundsätzlich bestritt, dass es in der DDR überhaupt bildende Künstler gegeben habe, „alle sind weggegangen“. Als Axel Hecht, der 1982 gemeinsam mit Dieter Brusberg eine viel beachtete Ausstellung von Malerei und Grafik aus der DDR unter dem Titel >Zeitvergleich< in der Bundesrepublik organisiert hatte, Baselitz fragte: „Sind Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer etwa keine Künstler?“, lautete die entschiedene Antwort: „Keine Künstler, keine Maler. Keiner von denen hat je ein Bild gemalt. Die haben an Wieder-herstellungen gearbeitet, an Rekonstruktionen, aber nichts erfunden. Das ist ja alles ganz langweilig. Das sind Interpreten, die ein Programm des Systems in der DDR ausgefüllt haben. Die Künstler sind zu Protagonisten der Ideologie verkommen. Sie haben sich in den Dienst der ‚guten Sache’ gestellt. Auf dem addierten, dem sogenannten historisch richtigen Weg haben sie die Phantasie, die Liebe, die Verrücktheit verraten.“[2] Nachdem sich Baselitz, offenbar immer noch entrüstet über den exklusiven Auftritt von vier Malern und zwei Bildhauern aus der DDR auf der documenta 6 (1977), auch noch hinreißen ließ, die Künstler aus der DDR pauschal als „Arschlöcher“ zu titulieren, war die öffentliche Aufregung groß. Doch seine eher beiläufigen Äußerungen, die zudem die Existenz einer unabhängigen Kunstszene in der DDR ignorierten, waren nicht als Sprach-Happening gemeint, sondern  der späte Reflex auf eine persönliche Erfahrung, die den Maler Georg Kern, der aus (Deutsch-)Baselitz stammt und 1957 von der Kunsthochschule Berlin-Weißensee exmatrikuliert worden war, nach West-Berlin übersiedeln ließ, wo sich seine Kunst frei entfalten konnte, wo er – ähnlich wie Gotthard Graubner, Gerhard Richter oder Günther Uecker – internationale Bedeutung erlangte. Liest man die Äußerungen von Baselitz genau, so formuliert er einen doppelten Vorwurf. Es ist nicht nur die Indienstnahme für ideologische Zwecke, die er den ostdeutschen Künstlern entgegenhält, sondern auch ihr ästhetischer Antimodernismus, der sich in den Worten „Wiederherstellung“ und „Rekonstruktion“ ausdrückt. Hier zeigt sich ein zentrales Problem, das die Kunstdebatten des folgenden Jahrzehnts immer wieder beeinflussen wird: die Entgegensetzung von Tradition (oder „Erbeaneignung“, wie es in der DDR hieß) und dem Avantgarde-Pathos einer „Westkunst“, das seine Impulse aus dem freien kreativen Experiment ableitet und sich insoweit als autonome Kunst versteht.

III.

Die Umstände der Veröffentlichung ihrer Erzählung „Was bleibt“ haben zu den Irritationen über Christa Wolf sicher beigetragen. Sie hat den bereits 1979 entstandenen Schubladen-Text nach eigenem Bekunden im November 1989 hervorgeholt und damit für die Publikation einen Zeitpunkt gewählt, der den Verdacht nahe legte, es ginge ihr nach dem Kollaps des SED-Staates um eine Selbstrechtfertigung ohne Risiko. Dass die Erzählung in Struktur und Gehalt unangetastet geblieben ist, lediglich eine stilistische Überarbeitung erfolgte, hat sie durch eine miss-verständliche Datierung nicht hinreichend erkennen lassen. Allerdings wäre die zur moralisierenden Polemik zugespitzte Kritik an einer Autorin, die anders etwa als Hermann Kant, die Diskrepanz zwischen der kommunistischen Utopie und dem „real existierenden Sozialismus“ der DDR deutlich zur Sprache gebracht hat, kaum zu erklären, hätte Marcel Reich-Ranicki nicht schon 1987 vor dem Kollaps des SED-Staates ein Exempel an der prominentesten Schriftstellerin aus der DDR statuieren wollen. Er nimmt das Verdikt von Baselitz strukturell vorweg: Wer bleibt, kann kein Künstler sein. Sein F.A.Z.-Artikel „Macht Verfolgung kreativ?“ ist ein markantes Lehrstück über den Wandel von der Literaturkritik zur moralpolitischen Gesinnungskritik – symptomatisch für die Verzerrung der Wahrnehmungsperspektive im Umgang mit der Kultur-geschichte der DDR, die sich nach 1989 beobachten lässt.

Marcel Reich-Ranicki hatte sich schon kurz nach seiner Übersiedlung aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland 1958 mit der Literatur, die in der DDR entstanden ist, publizistisch auseinandergesetzt und dabei, vor allem in einem 1964 in der „Zeit“ erschienenen Artikel, auch auf ihre politischen Konditionierungen sowie die prekären künstlerischen Risiken der „Selbstzensur“ hingewiesen. In dieser Hinsicht erscheint sein Plädoyer, die Werke von Schriftstellern aus der DDR „Ohne Rabatt“ zu beurteilen, durchaus konsequent. Doch zeigt sich, dass sein Urteil bei Autoren aus der DDR zwischen literaturkritischer Würdigung und gesinnungspolitischer Wertung eigentümlich changiert. Christa Wolfs Erzählung „Nachdenken über Christa T.“ wird 1969 von Reich-Ranicki als ein Novum in der ostdeutschen Literatur nachdrücklich gewürdigt. Stilkritisch konstatiert er  anerkennend: „Ja, Christa Wolf hat sich tüchtig umgesehen in der neueren deutschen Prosa, und sie hat von ihnen allen, von Johnson, Böll und Frisch und vielleicht auch noch von Grass und Hildesheimer manches gelernt. Doch ist nichts mehr von der rührenden Unbeholfenheit aus dem Geteilten Himmel zu spüren – über die Techniken und Ausdrucksmittel, die Christa Wolf offenbar von westlichen Autoren übernommen hat, verfügt sie jetzt sehr sicher und ganz natürlich.“ Und im Hinblick auf den Gehalt der Geschichte zeigt sich Reich-Ranicki von der geistigen Unabhängigkeit beeindruckt, die Christa Wolf in der Auseinandersetzung mit den Widersprüchen einer Gesellschaft offenbart, in der sie – trotz mancher traumatischer Erfahrungen seit dem „Kahlschlagplenum“ des ZK der SED im Dezember 1965 – weiter ausharrt: „Diesem Roman, der die dialektische Wechselbeziehung zwischen dem Einzelnen und der Gesell-schaftsordnung andeutet und umspielt, der so behutsam wie unmissverständlich die Frage nach der Selbstverwirklichung der Persönlichkeit in jener Welt stellt, die sich sozialistisch nennt, der sich nicht scheut, auch und vor allem die Selbst-entfremdung des Individuums zu zeigen, (…) fehlt auch die Spur von der fröhlich-optimistischen Perspektive, die die Kulturfunktionäre ihren Schriftstellern abzuverlangen suchen.“[3] Der Büchner-Preis 1980 zeichnet ein Werk aus, das mit der romantischen Elegie „Kein Ort. Nirgends“ (1979) und dem doppelten „Kassandra“-Projekt (1983) von der westdeutschen Literaturkritik weithin anerkannte neue Kulminationspunkte findet.

Reich-Ranicki hat jedoch in den 1980er Jahren seine Rolle gewechselt: Vom einfühlsamen, scharfsinnigen literaturkritischen Interpreten hat er sich in einen politischen Polemiker gegen die Person Christa Wolf verwandelt. Den konkreten Anlass gibt ihm die Laudatio, die sie 1987 in Frankfurt auf den von ihr als Preisrichterin an Thomas Brasch verliehenen Kleist-Preis gehalten hat.[4] Bei nüchterner Betrachtung muss die Auswahl des Preisträgers als mutiges Votum gelten, denn der Autor – zeitweilig inhaftiert – sah sich „gezwungen, freiwillig von Ost- nach Westdeutschland zu gehen“ (Hans Joachim Schädlich). Doch Reich-Ranicki entrüstet sich über die Trauer, die Christa Wolf über den Weggang des Autors aus der DDR äußert. Diese gipfelt in der Feststellung: „Brasch, der sehenden Auges, aber damals bleibt ihm nichts anderes übrig, den Boden verläßt, der ihn  – sei es durch Engagement, Übereinstimmung, Mitarbeit, Anstrengung, Reibung, Widerspruch, Widerstand – kreativ gemacht hat.“ Damit ist ein wunder Punkt berührt: Trifft die Annahme zu, dass die eigentümliche Qualität literarischer Texte aus der DDR dem Erfahrungshintergrund einer wider-spruchsvollen Existenz in einem repressiven System zu verdanken oder zumindest geschuldet ist? Verliert ein Autor seinen Gegenstand, wenn er sein Land verlässt?

Über diese Frage kann man, sollte man streiten. Reich-Ranicki schließt jedoch kategorisch aus, dass Verfolgung kreativ macht und weckt damit unausgesprochen die Erinnerung an die Kontroversen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen Thomas Mann und den Repräsentanten der inneren Emigration ausgetragen wurden.[5] Christa Wolf greift in ihrer Rede ausdrücklich die Frage „Warum bleiben?“ auf und antwortet mit der Überzeugung, dass diese „hauptsächlich arbeitend“ zu beantworten sei, „denn nur die Produktion kann jene innere Freiheit hervorbringen, die den Zweifel über die Wahl des Lebens- und Arbeitsortes aufhebt“. Reich-Ranicki verkennt Christa Wolfs Preisrede, weil er nicht bemerkt, dass sie in diesen Passagen vornehmlich ihre eigene Situation reflektiert und dabei das Stichwort „innere Freiheit“ in die Debatte wirft, das den Gegensatz zwischen  „subjektiver Authentizität“ als Gestaltungsprinzip der Literatur und kulturpolitischer Reglementierung im literarischen Werk zu überwinden sucht. Und er missversteht die von ihm zitierte Feststellung Christa Wolfs: „Er war nicht der erste, der da saß, aber er war der erste, dem ich nicht mehr abraten konnte.“ Thomas Brasch hatte sich dem von Christa Wolf mitinitiierten Protest gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 angeschlossen und wenig später die DDR verlassen. Es war eine Situation, in der sich Christa Wolf eingestehen musste, dass niemand mehr überredet werden durfte und nicht mehr überzeugt werden konnte, in der DDR auszuharren, standzuhalten, der dies nicht für sich selbst entschieden hatte.[6] Diesen Kontext übersieht Reich-Ranicki ebenso, wie er Christa Wolf fälschlicherweise –  einer Behauptung von Hans Noll in der „Welt“ folgend –  unterstellt, ihre Unterschrift unter die Biermann-Petition nachträglich zurückgezogen zu haben[7] (wie es als einziger Erstunterzeichner der Bildhauer Fritz Cremer getan hat). Dass sich Thomas Brasch mit Christa Wolf solidarisierte und auch ihren von Reich-Ranicki beanstandeten kapitalismuskritischen Äußerungen ausdrücklich zustimmte, zeigt deutlich, wie sehr es Reich-Ranicki zu diesem Zeitpunkt an Einfühlungsvermögen in die widerspruchsvollen Bedingungen des Kulturraums DDR fehlen ließ.

In dieser Hinsicht sollten nach 1989 weitere Lektionen folgen. Ulrich Greiner macht den Anfang, rubriziert Christa Wolf als „Staatsdichterin“, „ebenso virtuos wie verlogen“, und fertigt „Was bleibt“ mit den Sätzen ab: “Hier begegnen wir der inneren Logik des Wolfschen Erzählens. Es ist die altbekannte machtgeschützte Innerlichkeit, die sich literarische Fluchtburgen baut.“[8] Es ehrt die „Zeit“, dass sie dieser furordurchtränkten Attacke einen abwägenden Text von Volker Hage gegenüberstellt, der die moralpolitische Entrüstung Greiners durch eine literaturhistorische Einordnung Christa Wolfs ergänzt: „Seit Ende der sechziger Jahre (seit „Nachdenken über Christa T.“) entstand ein großes, großartiges erzählerisches Mosaik (…), das auf stille, oft still verzweifelte Art mit den Verhältnissen in der DDR zu tun hat. Doch es wäre klein gedacht von diesem Werk der Christa Wolf, es hieße diesen Rang völlig zu unterschätzen, wollte man die Texte lediglich auf Einblicke ins Getriebe dieses Staates hin lesen. Zu lesen ist ihre Prosa vielmehr im Zusammenhang mit der internationalen Literatur unseres Jahrhunderts (…)“.[9]

Die beiden Texte verdeutlichen exemplarisch, worum es im „Literaturstreit“ eigentlich geht: um die Kontextualisierung von Kunst und Kultur in der DDR. Wer die Kultur in der DDR nur oder vorrangig in der moralpolitischen Dichotomie von Staatskultur und Gegenkultur (mit ihren zuweilen verschwimmenden Grenzen)  kategorisiert und deutet, verfehlt die Möglichkeit, ihre künstlerische Substanz interpretierend zu erfassen. Eine solche Sichtweise findet schließlich ihre absurde Pointe: Sie nimmt die Kategorien der SED-Kulturpolitik auf, indem sie lediglich deren Vorzeichen umkehrt. Aus Hages Beitrag lässt sich demgegenüber ableiten: Die Kultur, die in der DDR entstanden ist, kann ihren Wert nur erweisen, wenn sie – über den Kontext der gesamtdeutschen Kulturgeschichte hinaus – in die zeitgenössische internationale Literatur- und Kunstproduktion vergleichend eingeordnet wird, um gleichermaßen ihre historisch bedingte Besonderheit und ihre kunstspezifische Bedeutung erkennen zu können.

IV.

Frank Schirrmacher [10] und Ulrich Greiner haben dem „Literaturstreit“ seit Oktober 1990 eine neue Wendung gegeben, indem sie die „Gesinnungsästhetik“ als tertium comparationis für die ost- und westdeutsche Literatur befunden haben. Greiner konstatiert: „Diese Gesinnungsästhetik hat eine zutiefst deutsche Tradition. Sie wurzelt in der Verbindung von Idealismus und Oberlehrertum. (…)  Sie läßt der Kunst nicht ihr Eigenes, sondern sie verpflichtet sie (wahlweise) auf die bürgerliche Moral, auf den Klassenstandpunkt, auf humanitäre Ziele oder neuerdings auf die ökologische Apokalypse.“ Die retrospektiv postulierte ästhetische Atrophie wird in dieser Sichtweise durch das gleichzeitige Versagen der Literaturkritik verdeckt: „Es bestand die Übereinkunft, daß die deutschen Schriftsteller (die linken, die engagierten, die kritischen) das Gute gewollt, gesagt und geschrieben haben. Und die Literaturkritik ist dieser Übereinkunft gefolgt, indem sie nicht ästhetisch geurteilt hat, sondern moralisch und politisch.“[11 Solche Formulierungen verweisen auf einen Aspekt der Kontroverse, der durch einen Generationenkonflikt beeinflusst wird, in dem sich nicht zuletzt die Disparität lebens-geschichtlicher Erfahrungen ausdrückt. Insbesondere Frank Schirrmacher (1959 geboren, also damals gerade 30Jahre alt) scheint durch den Antrieb bestimmt, einen Kulturdiskurs zu initiieren, der von einer  radikalen Neubesichtigung der Vergangenheit ausgeht. Der Protest gegen die Achtundsechziger wird kulturtheoretisch in den Befund der ästhetischen Insuffizienz ihrer literarischen Vorbilder umgemünzt, doch bleibt diese Mentalität einer Tabula rasa im Geflecht ihrer eigenen moralpolitischen Fixierungen auf eigentümliche Weise gefangen. Sie sieht sich der unausgesprochenen Frage ausgesetzt, ob politisch-gesellschaftliche Indifferenz das Fundament für ein fruchtbares ästhetisches Konzept darstellen kann.

Der Literaturstreit wurde schon nach wenigen Monaten durch erregte Debatten über die Zusammenarbeit von renommierten Schriftstellern – zu denen in einem frühen Stadium von 1959 bis 1962 die später argwöhnisch observierte Christa Wolf[12] ebenso zählte wie Heiner Müller[13 oder Monika Maron – und Repräsentanten der Gegenkultur aus der Prenzlauer- Berg-Szene (Sascha Anderson und Rainer Schedlinski) überlagert und fand seinen verbandspolitischen Ausdruck in den von seinem neuen Präsidenten Dieter Schlenstedt initiierten „Gesprächen zur Selbstaufklärung“ des Deutschen P.E.N.-Zentrums (Ost), in dem die ideologischen Grabenkämpfe so nachhaltig fortwirkten, dass die Mehrheit Friedrich Schorlemmer die Mitgliedschaft verwehrte. Bezeichnend ist ein Dialogfragment zwischen Hermann Kant und Friedrich Schorlemmer. Kant: „Lieber Her Schorlemmer, ich bitte Sie, ich fordere Sie auf, gucken Sie sich meine Bücher  an; ich sage noch einmal, das ist die Hauptsache bei einem Schriftsteller.“ Schorlemmer: „Ich gucke mir auch Ihre Opfer an.“[14]

Es verwundert nicht, dass die Zusammenführung der beiden deutschen PEN-Zentren ein schwieriger, langdauernder Prozess werden sollte. Der Streit um ihre Vereinigung hatte bereits auf dem Kieler Kongress im Mai 1990 begonnen, als Hans Joachim Schädlich vehement gegen die Mitgliedschaft von Klaus Höpcke protestierte, der seit 1973 als stellvertretender Minister für Kultur die literarische Zensurpraxis in der DDR zu verantworten hatte. Die Diskussion über die Verstrickung von Autoren und Verlegern aus der DDR in die Mechanismen des Überwachungsstaates führte zu anhaltenden Konfrontationen, die erst durch Joachim Walthers ernüchternde, ebenso material-reiche wie vorbildlich abgewogene Darstellung zum „Sicherungsbereich Literatur“ (1996) eine klärende Beruhigung finden sollten. Die Aufrechterhaltung der deutschen PEN-Spaltung, die 1951 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erfolgt war, wurde nicht nur im Ausland als absurd empfunden. Mehr als 60 Mitglieder des West-PEN protestierten gegen die abnorme Situ-ation, indem sie sich 1995 auch in den Ost-PEN aufnehmen ließen, darunter Marion Gräfin Dönhoff, Günter Grass, Walter Jens, Peter Rühmkorf, Klaus Staeck und Friedrich Schorlemmer, der dem PEN-Zentrum Bundesrepublik Deutsch-land seit 1991 angehörte und 1993 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden war. Es sollte noch langer Debatten bedürfen, bevor am 30. Oktober 1998 schließlich die Vereinigung gelang. Als versöhnliche Geste und aus Respekt vor seiner politischen Integrität, die er zuletzt mit seinem mutigen Protest gegen die Zensur auf dem X. Schrift-stellerkongress der DDR Ende November 1987 bewiesen hatte, wurde Christoph Hein zum ersten Präsidenten des vereinigten PEN-Zentrums Deutschland gewählt.

Rückblickend hat Katja Lange-Müller die DDR als „Rostzone“ ironisiert und damit einen Gedanken pointiert, den Reinhard Baumgart in einem bedenkenswerten Beitrag für Heinz Ludwig Arnolds renommiertes Periodikum „Text+Kritik“ 1992 elaboriert. Indem er die DDR  – ähnlich wie Heiner Müller[15] – als das „dunkle Idyll historischer Verspätung“ begreift, folgert er, es spreche nichts dafür, „daß sich nach dem Ende der DDR ausgerechnet in der Literatur erhalten wird, was sich auf allen anderen Gebieten in den Westen hinein auflöst.“[16] Damit wird ausgedrückt, dass die literarischen Werke, die in der Lebenszeit der DDR entstanden sind, in eine „postmortale Existenz“[17] getreten sind, und in dieser Perspektive hält Wolfgang Emmerich den „Schritt von der Mythologisierung zur Histo-risierung der DDR-Literatur“ für „unausweichlich“.[18] Doch was bedeutet die zutreffende kulturhistorische Beobachtung, dass die DDR-Kultur im Vergleich zur Westkunst überwiegend traditionsverhaftete ästhetische Konzepte bevorzugte? War sie damit in einer Periode, in der sich auch die Energien der westlichen Avantgarde in postmodernen Variationen erschöpft hatten, künstlerisch obsolet geworden, antiquiert oder randständig? Oder war die sich fortschreitend aus den Fesseln eines normierten sozialistischen Realismus lösende Ästhetik nicht der adäquate Ausdruck für eine Gesellschaft angehaltener Modernisierung? Auf welche Weise ästhetische Konzepte mit lebensweltlichen Erfahrungen verknüpft sind, ist eine zentrale Frage, die der „Literaturstreit“ wie auch der „Bilderstreit“ bisher beiseite gelassen haben.

V.

Im „Bilderstreit“ rückten Institutionen und Expositionen in den Fokus kontroverser Debatten. Bereits im Sommer 1983 hatte der in der DDR mit einer hohen Staatsauszeichnung geehrte globale Kunstsammler Peter Ludwig das „Ludwig-Institut für Kunst aus der DDR“ in Oberhausen gegründet, in dessen Sammlungsbestand allerdings bedeutende Nonkonformisten wie Gerhard Altenbourg, Carlfriedrich Claus oder Strawalde zunächst fehlten. Kurz nach der Wende attackierte Ludwig das „Hausverbot für DDR-Kunst“ im  Kölner  Museum Ludwig, das sein Direktor Siegfried Gohr in Abgrenzung zu Oberhausen praktizierte. Ludwigs Intervention war allerdings schwer nachvollziehbar, hatte doch das Museum Ludwig in der Kölner Joseph-Haubrich-Kunsthalle am 30. September 1990 eine Ausstellung >Bilder aus Deutschland. Kunst der DDR aus der Sammlung Ludwig< eröffnet, die bereits seit 1988 projektiert war. Sie zeigte ein breites Spektrum künstlerischer Ausdrucksformen von Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus, Strawalde und Peter Herrmann, Eberhard Göschel und Max Uhlig, Peter Makolies und Hans Scheib bis zu den staatlich autorisierten documenta 6-Protagonisten Heisig, Mattheuer, Sitte und Tübke – eine erste umfassende Besichtigung der Vielfalt ostdeutscher Kunstszenen, die heute leider weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Es ist reizvoll, dass der diskursiv und facettenreich angelegte Katalog mit Beiträgen u. a. von Evelyn Weiss, der Ausstellungskuratorin, Karin Thomas, Eduard Beaucamp, Wieland Schmied und Christoph Tannert unterschiedlich akzentuierte Wahrnehmungen der Kunst aus der DDR präsentiert –  zu diesem Zeitpunkt ein außer-gewöhnlicher Sachverhalt. In ihrer Einführung schreibt Evelyn Weiss mit vorsichtiger Distanznahme: „Zweifellos vermitteln die Werke der Künstler aus der DDR den Bundesrepublikanern, die in einer Welt ohne Grenzen aufgewachsen sind, in einer westlichen Gesellschaft, deren internationale Züge austausch-bar sind, neue Eindrücke. (…) Das Eingeschlossensein in festen Grenzen bedingte in ganz anderer Art und Weise die Aufbewahrung und Weiterführung von Traditionen und Kunstformen, die hier programmatisch nach 1945 abgelehnt wurden. Die liebevolle Beschäftigung und das Studium der deutschen Kunsttradition von Liebermann, Kokoschka und Beckmann und vielen anderen, gehört genauso  zu diesem Komplex wie das Weitertradieren  einer bestimmten Art von kleinbürgerlichen Milieus.“[19] Als Kontrast lässt sich das vehemente Plädoyer für Kunst aus der DDR lesen, das Eduard Beaucamp formuliert: „Für die malerisch raffinierten Bildtechniken Heisigs, welche die Sprache der Expressionisten und Veristen weiterentwickelt haben, für den Manierismus und die zeichnerische Virtuosität  Tübkes, vor allem aber für sein apokalyptisches Bauern-kriegsdrama findet sich zur Zeit nichts Vergleichbares und  damit Ranggleiches im Westen. Diese Künstler setzen leuchtende Akzente in einer an Höhepunkten nicht eben reichen jüngeren Kunstgeschichte. (…) Diese Kunst ist stark und kri-tisch genug, auch die westliche Szene produktiv heraus-zufordern und zu bereichern.“[20]

Fast zeitgleich mit der Kölner Bilderschau eröffnen die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden im Albertinum am 7. Oktober 1990 die Ausstellung „Ausgebürgert. Kunst aus der DDR und dem Sowjetischen Sektor Berlins 1949 – 1989“. Der verdienstvolle neue Generaldirektor der Dresdner Museen, Werner Schmidt, hat dieses Projekt kurzfristig initiiert, das in erster Linie als Dokumentation eines Verlustes, der sich für den Westen vielfach als Bereicherung erweisen sollte, und auch als gut gemeinter Akt einer Rehabilitierung vergessener Künstler im Katalog insgesamt 665 Personen erfasst. Zur Konzeption dieser Ausstellung bemerkt Schmidt: „Natürlich sollten die wichtigsten Künstler hervortreten. Aber das Kriterium für die Bedeutung eines Autors konnte in diesem Zusammenhang nicht allein der künstlerische Rang sein. Historische, biographische und ikonographische Gesichtspunkte kamen hinzu. So wurden Werke, die Selbstbehauptung und Widerstand bezeugen, bevorzugt.“[21] Bemerkenswert sind einige Briefe von Künstlern, die Schmidt um einen Kommentar gebeten hatte. Gerhard Richter scheut sich zunächst mit „Allgemeinplätzen“ zu reagieren, „daß es also in Diktaturen keine Kunst, d. h. nicht einmal schlechte gibt“. Zum Ausstellungsvorhaben äußert er sich mit verhaltener Zustimmung: „Es kann sein, daß es keine gute Ausstellung wird; daß hier Werke zusammengetragen werden, die wenig miteinander zu tun haben und eine befremdliche Mixtur ergeben, die viel Mißverständnis hervorrufen wird. – Aber vielleicht wird gerade diese Unzulänglichkeit und auch eine Bescheidenheit ein Vorteil der Ausstellung sein.“[22] Bei Günther Uecker wird die Unsicherheit deutlich, über Kunst aus der DDR zu urteilen. In einem Interview mit der Zeitschrift „PAN“ stellt er zunächst kritisch fest: „DDR-Kunst hat den Charakter einer Historienmalerei, einer Kunst mit sehr viel kunsthistorischen Zitaten aus der Geschichte der deutschen Erinnerungen. Das ist für mich wie ein Verdauungsprozeß verschiedener Identitätsversuche, der dann zur geistigen Verstopfung führte, bestimmt von einer Schwere, die vielleicht deutsch-spezifisch ist. Vom Inhalt her ist diese Kunst einfach deutsch-provinziell, fruchtbar nur für die, die sich von ihr lösten.“ Unter dem Eindruck seiner Vorbereitung für eine Einzelausstellung in der Leipziger Galerie Eigen+Art Judy Lybkes schreibt er Schmidt am 12. September 1990: „Die Kunst, welche in der DDR entstand, ist von eigenem tragischen Schicksal geprägt, und ich finde es mehr und mehr anmaßend, vom Westen her darüber zu urteilen.“[23]

Nicht alle mochten dieser Empfehlung zur Zurückhaltung folgen, wie sich schon bald erweisen sollte. Nachdem die (West-Berliner) Akademie der Künste unter ihrem Präsidenten Walter Jens 1992 die satzungsmäßig zweifelhafte und politisch höchst fragwürdige en-bloc-Übernahme der verbliebenen Mitglieder der ehemaligen Akademie der Künste der DDR beschlossen hatte, führte ein heftiger Streit über diese Entscheidung zum Austritt von 18 prominenten Künstlern, darunter Horst Antes, Georg Baselitz, Gotthard Graubner, Rupprecht Geiger, Erich Hauser, Markus Lüpertz, Heinz Mack, Gerhard Richter und Bernard Schultze.[24] Nach schwierigen Diskussionen, an denen sich der Ost-Berliner Akademiepräsident Heiner Müller, der zunächst das unrealistische Projekt einer europäischen Akademie favorisierte, engagiert beteiligt hatte, konnte 1993 nach einer komplizierten administrativen Prozedur die Aka-demie der Künste Berlin-Brandenburg gegründet werden, die aus den einst rivalisierenden Akademien in Ost- und West-Berlin hervorgegangen ist. Die Akademie hat auch die wert-vollen Archivbestände, die in der Akademie der Künste der DDR vorhanden waren, übernommen, seit Januar 2001 werden dort außerdem die Archivalien des PEN-Zentrums DDR aufbewahrt.

Im Frühjahr 1994 löst die von Dieter Honisch veranlasste, bereits im Dezember 1993 zunächst unbemerkt vollzogene Neuhängung von Kunstwerken aus der DDR nach der Zusammenlegung der Bestände aus Ost- und Westberlin in der Neuen Nationalgalerie heftige Proteste von Kunstkritikern und jüngeren Künstlern aus der ehemaligen DDR aus. Sie wurden am schärfsten in einem von Christoph Tannert konzipierten Offenen Brief der „Initiative der Überlebenstrainer der Neuen Nationalgalerie zu Berlin“ artikuliert, den u.a. die Künstler Lutz Dammbeck, Hans-Hendrik Grimmling und Via Lewandowsky unterschrieben haben. Sie monieren nicht nur die Ausgrenzung von jüngeren, unangepassten Künstlern, sondern fordern auch die Entfernung von Bildern etablierter Maler wie Bernhard Heisig oder Willi Sitte, deren moralische Integrität sie ebenso bezweifeln wie sie die Qualität ihrer künstlerischen Arbeiten bestreiten. Ende Mai 1994 hat Klaus Werner, Direktor der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst, in einem F.A.Z.- Beitrag den Kern dieser Auseinandersetzung offen gelegt: Die „nicht ins Suchraster passenden Außenseiter“ habe man in der DDR isoliert. Dieses „System ungleicher Wertzuweisung und Förderung in der Kulturstrategie der DDR kann nicht weggesprochen werden, weil sich die Favoriten dem System – wie sie heute meinen – mehr oder weniger entzogen hatten.“[25] Werner kritisiert damit eine fragwürdige Museumspraxis, die sich auf das Vorhandene beschränkt und auf eine Neubewertung der unterdrückten inoffiziellen Kunst aus der DDR verzichtet. Sie produziert damit in der Tat schiefe Bilder. Und  es überzeugt wenig, wenn Konrad Klapheck mit Willi Sitte, Wolf Vostell mit Werner Tübke, Bernhard Heisig mit Antoni Tàpies in Beziehung gesetzt wird.  Mit Recht wendet sich Andreas Hüneke in der F.A.Z. gegen diesen misslungenen Versuch, die deutsch-deutsche Kunst „im Reißverschlußverfahren zu vereinigen“und zusätzlich wenig überzeugende internationale Bezüge zu suchen.[26] Doch bleibt ein kunstkritischer Diskurs weitgehend aus, weil interessengeleitete Pauschalverdikte eine differenzierte Wahrnehmung – wie sie die „Bilder aus Deutschland“ in Köln noch vier Jahre zuvor veranschaulicht hatten – blockiert haben.

Zwei Ausstellungen, die das Deutsche Historische Museum in Berlin realisiert hat, vermitteln  um die Mitte der 1990er Jahre signifikante Einblicke in das Spannungsfeld, das sich zwischen Auftragskunst und gegenkulturellen Aktivitäten in der DDR eröffnet: Monika Flacke hat 1995 mit ihrem Konzept, die Auftragskunst mit je einem signifikanten Beispiel pro Jahr zu präsentieren und in „Kontextanalyse“ (Andreas Ludwig) die Entstehungsgeschichte der gezeigten Exponate zu recherchieren, einerseits nachgewiesen, dass die Zusammenführung von kunsthistorischen Aspekten mit politik- und gesellschaftsgeschichtlichen Kontexten neue Perspektiven erschließt, sie hat auch gezeigt, dass nicht jedes aus einem politischen Auftrag entstandene Werk dem Verdikt ideologieverhafteter Propaganda unterliegt.[27] Die von Paul Kaiser und Claudia Petzold kuratierte Ausstellung >Boheme und Diktatur. Gruppen Konflikte Quartiere 1970 – 1989<, die vom 4. September bis 16. Dezember 1997 im Deutschen Historischen Museum präsentiert wurde, fokussierte ihren Blick auf das facettenreiche Spektrum gegenkultureller Initiativen, wobei das soziologische Erkennt-nisinteresse insbesondere auf Lebensstile und Produktionsbedingungen von Künstlern und Künstlergruppen gerichtet war, die sich listig und kreativ eigene Gestaltungsräume eroberten. Da die Ausstellungsmacher das soziologische Konzept der Gegenkultur in erster Linie als politisch ausgerichtet begreifen, schlagen sie für jene künstlerischen Bewegungen, die sich in der DDR jenseits der Staatskultur eingerichtet haben, den Begriff „Ergänzungskultur“ vor, womit freilich ihr Stellenwert stärker relativiert erscheint. Ihre Akteure werden als Boheme, als „eine intellektuelle Subkultur verstanden, die sich dem Kollektivdruck des DDR-Systems weitgehend entzog. Im Zentrum ihrer erlangten individualistischen Spielräume standen künstlerische und symbolische Aktivitäten, die sich vor allem in der Herausbildung eines zu den Passformen der ‚sozialistischen Persönlichkeit’ konträr verhaltenden Lebensstils manifestierten.“[28] So produktiv diese soziologische Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts ist, kann die Grenze einer solchen Sichtweise nicht übersehen werden. Die kunsthistorische Frage nach Rang und Bedeutung von Kunstwerken, die im Wirkungsfeld der inoffiziellen Kunstproduktion entstanden sind, wird damit allenfalls implizit angestoßen.

VI.

Nach diesen beiden originellen, durch neue Forschungs-aktivitäten fundierten Ausstellungsprojekten war am Ende der 1990er Jahre ein Rückfall in alte Gewohnheiten zu beobachten. Als im November 1997 Bernhard Heisig als einziger ostdeutscher Künstler neben Carlfriedrich Claus eingeladen wurde, an der künstlerischen Ausgestaltung des Reichstages mitzuwirken, entbrannte eine heftige, in Offenen Briefen ausgetragene Kontroverse, deren konträre Protagonisten der ostdeutsche Kunstkritiker und Kurator Christoph Tannert sowie der renommierte Leipziger Maler Hartwig Ebersbach waren. In dem von Tannert konzipierten Offenen Brief heißt es: „Ehe noch der produktive Streit in Gang kommen konnte, ehe überhaupt ein Sensorium für das Verhältnis von Kunst und politischer Kultur in diesen Repräsentationsgebäuden öffentlich entwickelt wurde, geschweige denn über die Asymmetrie im Ost-West-Gefüge bzw. zwischen staatstragender und nichtstaats-tragender Kunst der DDR gestritten werden konnte, erging, neben anderen, bereits auch eine Einladung an den Maler Bernhard Heisig. Die Ehrenrettung von Bernhard Heisig durch nachträgliche Würdigung auf neudeutschem Niveau ist nicht nur ein kunsthistorischer Irrtum, sondern auch eine politische Instinktlosigkeit. Schon 1994, im Zuge der Neukonzeption der Bestände des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Zusammen-legung von Werken der DDR-Staatskunst mit Werken der West-Kunst in der Berliner Neuen Nationalgalerie wurde die notwendige Aufklärung ersetzt durch kalkulierte Inszenierung. (…) In bewußt ahistorischer 1:1-Präsentation von DDR-Staatskunst und institutionell etablierter West-Kunst wurde das historisch spezifische Momentum der jeweiligen Werke verdeckt und somit eine politische Augenwischerei betrieben mit dem vorgeschützten Argument, es handele sich hierbei um ein reines Zueinanderstellen von ‚künstlerischen Qualitäten’ .“ Seinem Protest schlossen sich etwa 60, vorwiegend ost-deutsche Bildkünstler und Schriftsteller, einige Kunsthistoriker, Publizisten und Ausstellungsmacher an, darunter die Maler Eberhard Göschel, Hans-Hendrik Grimmling, Peter Herrmann, Helge Leiberg, Michael Morgner, Cornelia M. Schleime und Max Uhlig sowie die Autoren Kurt Drawert, Jan Faktor, Jürgen Fuchs, Ralph Giordano, Katja Lange-Müller, Lutz Rathenow und Bernd Wagner.[29] Dieser Protest, auf Heisig fokussiert, erinnerte in mancher Hinsicht an die Polemik gegen Christa Wolf, so dass in der Heftigkeit der Auseinandersetzung, die durch die Beteiligung des Berliner CDU-Politikers Uwe Lehmann-Brauns auch noch in den Verdacht politischer Instrumentalisierung geraten musste, übersehen wurde, dass damit  – unabhängig vom Streit um die Person Heisigs – wichtige Grundsatzfragen aufgeworfen worden waren: Wie lassen sich Wert und Bedeutung von Kunstwerken, die in der DDR entstanden sind, unabhängig von ihrer Anerkennung oder Unterdrückung durch die kulturpolitischen Instanzen im Kontext der aktuellen internationalen Kunstentwicklung einordnen? Und warum ist es bis dato nicht gelungen, auch die nichtangepassten Künstler aus der DDR nach dem Ende des SED-Staates in eine an Qualitätskriterien orientierte Gesamtsicht der Kunstentwicklung in der DDR einzubeziehen?

Hartwig Ebersbach verteidigte Heisig, dem auch seine – im Gegensatz zu Günter Grass – schon früh eingestandene Mitgliedschaft in der Waffen-SS (Division „Hitlerjugend“) als Achtzehnjähriger vorgeworfen wurde, gegen eine als unwürdig empfundene „Schlammschlacht“ und hob dessen künstlerische Bedeutung hervor: „Abgesehen von den Schwierigkeiten, das staatstragende Bild in Heisigs Werk überhaupt zu finden, begegnet man eher einem Grübler und Zweifler, vielleicht sogar einem Utopisten Im Sinne Blochs.“[30] Bemerkenswert ist der Frontverlauf dieser Kontroverse: Während die Kritiker Heisigs – sieht man von Ralph Giordano ab – ganz überwiegend aus der ehemaligen DDR stammten und weitgehend zur jüngeren Generation zählten, kamen die Personen, die Ebersbachs Intervention unterstützten, gleichermaßen aus dem Osten wie aus dem Westen: Zu ihnen gehörten Günter Grass, Christa Wolf und Frank Castorf, Gerhart Baum, Helmut Schmidt und Wolfgang Thierse, Wolf Jobst Siedler, Günter Gaus und Walter Jens, ebenso die beiden westdeutschen Museumsdirektoren Armin Zweite und Uwe M. Schneede. Auch die ostdeutschen Maler Hubertus Giebe, Walter Libuda, Wolfgang Mattheuer, Harald Metzkes und Werner Tübke schlossen sich Ebersbachs Votum an. Bezeichnend für diese Kontroverse, in der sich der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages entschieden hinter Heisig stellte, ist die Tatsache, dass sich auf beiden Seiten der Streitparteien kein westdeutscher Künstler beteiligt hat.

Im November 1998 wurde im „Dokumentationszentrum Kunst der DDR“, das 1995 unter Leitung des letzten Kulturministers der DDR, Herbert Schirmer, in der märkischen Stadt Beeskow zur Aufbewahrung von Kunst aus dem früheren Besitz der Parteien und Massenorganisationen der DDR gegründet worden war,[31] eine Ausstellung eröffnet, die unter dem Titel >Rahmen-Wechsel< bis Ende Juli 1999 eine Auswahl aus den Beständen vor grauen Kunststoffbahnen in dichter, wahllos erscheinender „Petersburger Hängung“ ohne Beschriftung mit Künstlernamen und Bildtiteln präsentierte. Das Ausstellungsteam (unter Leitung Jochen Spielmanns) folgte nach eigenem Bekunden keinem kunsthistorischen, sondern einem kulturgeschichtlichen Erkenntnisinteresse: „Ob es sich bei den Gemälden, Grafiken und Skulpturen, die in Beeskow lagern, im einzelnen um bedeutende oder weniger bedeutende Kunstwerke handelt, darüber mögen andere künftig befinden. Uns interessierte vor allem ihre Eigenschaft als kulturhistorische Dokumente über ihre Zeit Auskunft zu geben.“ Die Ausstellungsmacher behaupten nicht, dass die Kunst in der DDR den propagandistischen Intentionen der Kulturpolitik vollständig erlegen sei, sie verweisen vielmehr auf das „widerspruchsvolle Verhältnis“, das sich in den Kunstwerken ausdrückt: „die Interessen der Auftraggeber, ihre Weltsicht, ihre Vorstellungen von Wahrhaftigkeit und Schönheit im Widerstreit mit den Visionen der Künstler und deren Mühe, die Vorgaben mit den eigenen Vorstellungen in Einklang zu bringen, sie zu unterlaufen oder Kompromisse anzubieten. Dies alles steckt in den Werken, ohne daß es unbedingt ablesbar ist, wenn nicht der Kontext  ihrer Entstehung und Wirkung offengelegt wird.“[32] Die Ausstellung scheiterte nicht nur an einer misslungenen Inszenierung, sondern vor allem auch an der mangelnden Qualität der Exponate. Darauf hat die Direktorin des Museums Junge Kunst in Frankfurt (Oder), Brigitte Jähner-Rieger, schon am 8. Januar 1999 auf einer Expertenberatung über die Zukunft des Beeskower Dokumentatioszentrums hingewiesen: „Die in Beeskow gezeigten Arbeiten entstellen bewußt oder unbewußt das Bild von der in Ostdeutschland entstandenen Kunst, Sie vermitteln (…) einen erschreckenden Fehlleindruck, weist doch der Name des Zentrums nicht auf sogenannte Auftragswerke hin, sondern auf eine Dokumentation von Kunst der DDR im allgemeinen. Doch selbst für die Gesamtheit der im Auftrag entstandenen Arbeiten ist die Beeskower Ansammlung in ihrer Wertigkeit nicht repräsentativ. Das beweisen gelungene Auf-tragswerke, die es durchaus gegeben hat und die längst in anderen Sammlungen Aufnahme gefunden haben.“[33] Der ausdrücklich gewollte Verzicht auf jede ästhetische Wertung, der mit dem Argument verteidigt wurde, das Publikum solle sich selbst ein Urteil bilden, rief bei den  Besuchern heftige Proteste hervor, doch zeigten sich dabei in den Kommentaren der Besucherbücher bemerkenswerte Ost-West-Unterschiede. „41 Prozent der Ostdeutschen unterstellten den Ausstellungs-machern eine bewusste Denunziation der Kunst aus der DDR. Gleiches sagte kein einziger Besucher aus dem Westen.“[34 Wie fruchtlos und fragwürdig der Beeskower „Rahmen-Wechsel“ war, wurde in der Weimarer Ausstellung >Offiziell und Inoffiziell – die Kunst aus der DDR< in extremer Zuspitzung deutlich. Die am 9. Mai 1999 im Rahmen der im Weimarer Schloss inszenierten Kunstschau >Aufstieg und Fall der Moderne< eröffnete Ausstellung wurde im beklemmenden Ambiente des ehemaligen NS-Gauforums parallel zur Kunstsammlung Hitlers unter dem Rubrum „Die Kunst dem Volke – erworben: Adolf Hitler“ arrangiert. Für beide Ausstellungsteile zeichnete Achim Preiß als Kurator verantwortlich, der seine Aufgabe mit postmodernem Unernst und verblüffenden kunsthistorischen Äußerungen ins Werk setzte. Wenn Preiß in einem seiner Katalogbeiträge im Hinblick auf die DDR feststellt, „daß diese Kunst mit der Bildproduktion des Dritten Reiches nicht völlig identisch ist“, wird damit ein Unterschied apostrophiert, der die Kunst der DDR noch negativ von Hitlers Bildern abhebt: „Die NS-Kunst hatte keinen ausdrücklichen, parteilichen Erziehungs- und Propagandaauftrag, da badete der Hirsch und röhrte die Diana zum reinen Wohlgefallen von Volk und Führer.“[35] Kann ein solcher Satz wirklich ernst gemeint sein? Und wie verhält es sich mit der Behauptung: „Anders als die Kunst des Dritten Reiches und alle anderen antimodernen Strömungen war die Kunst der DDR nicht populär, gegen Ende des Staates auch nicht mehr populistisch. (…) Es handelt sich also um eine besonders autistische und formalistische Version der Antimoderne.“[36] Die Besucherstatistiken der Dresdner Kunst-ausstellungen der DDR, vor allem aber die von Bernd Lindner initiierten Besucherbefragungen, haben ein breites, freilich ästhetisch eher konservatives, inhaltlich vornehmlich auf die „Konfliktbilder“ bezogenes, ausgeprägtes Kunstinteresse in der DDR nachgewiesen,[37] das Preiß in seiner kunsthistorischen Wortäquilibristik ebenso ignoriert, wie er seine Gleichgültigkeit gegenüber den Kunstwerken selbst bekennt. In einem „Spiegel“-Interview vom 31. Mai 1999 wird Preiß gefragt: „Trifft Sie der Vorwurf, Künstler zu denunzieren, indem Sie gute und schlechte Bilder direkt nebeneinander hängen?“ Der Ausstellungs-macher antwortet: „Es gibt meiner Meinung nach in der Ausstellung gar keine gravierenden Qualitäts-unterschiede.“ Nach heftigen anhaltenden Protesten zahlreicher Besucher und Rücknahmeforderungen von mehr als 25 Künstlern wurde die Ausstellung am 26. September 1999 vorzeitig geschlossen.[38]

Dieser gescheiterte Versuch, auf die Kunst aus der DDR mit dem groben Raster künstlerischer Antimoderne zurückzublicken, ließ endgültig erkennen, dass der „Bilderstreit“ in eine Sackgasse geraten war. Ihr zu entkommen kann nur gelingen, wenn alte Fragen, die im Verlauf des Bilderstreits artikuliert wurden, neu gestellt werden. Ein kunsthistorischer Diskurs, der auf eine umfassende Sondierung und kritische Aneignung der Literatur- und Kunstproduktion in der DDR gerichtet ist, setzt im Anschluss an Eberhard Roters voraus, dass sich die „deutschen Zwillinge (…), so schwer es ihnen auch fallen mag, einander zuwenden“[39] – mit Lust an der Entdeckung einer vergangenen Realität, in der sich die Kunst als ästhetischer Ausdruck einer authentischen Selbstwahrnehmung und  Welterfahrung beglaubigt.

VII.

Nachdem die kontroversen Debatten über die Kunst in der DDR vor zehn Jahren erschöpft schienen, bahnte sich in der Kunstrezeption eine Wende an, die das Projekt einer gesamtdeutschen Kulturgeschichte zunehmend in den Hintergrund rückte. Als Reaktion auf die Abwertung, die Kunst aus der DDR in Teilen der westdeutschen Kunstpublizistik entgegengebracht worden war, verstärkten sich Tendenzen, für die Kunstentwicklung in der DDR die Sichtweise der daran Beteiligten deutlicher zur Geltung zu bringen. Wie produktiv ein solcher Neuansatz sein konnte, hatte die von Matthias Flügge in Zusammenarbeit mit Michael Freitag gestaltete Ausstellung >Jahresringe – Kunstraum DDR. Eine Sammlung 1945 – 1989< gezeigt, die etwa fünf Monate nach Beginn der umstrittenen Weimarer Schau vom 26. September bis 12. Dezember 1999 im Kunsthaus Apolda präsentiert wurde. Hier war bereits vier Jahre vor der Ausstellung in der Berliner Neuen Nationalgalerie >Kunst in der DDR. Eine Retrospektive<[40] in einer konzentrierten Sichtung die Entwicklung der bildenden Kunst in der DDR an signifikanten Beispielen unter dem Konstrukt einer „fiktiven Sammlung“ zu besichtigen, wobei die bis dato vorherrschende Trennung zwischen einer staatlich sanktionierten offiziellen Kunst und den Ausdrucksformen einer inoffiziellen Gegenkultur bewusst ignoriert wurde, indem allein die Qualität der Kunstwerke in den Fokus trat.

In seiner Katalogeinführung sucht Matthias Flügge die Besonderheiten der Kunst in der DDR sowohl aus ihren Entwicklungsbedingungen zu erklären als auch nach ihrer nachwirkenden Bedeutung zu fragen. Unter Bezugnahme auf den von Manfred Butzmann geprägten Begriff der „Behutsamkeit“ plädiert Flügge dafür, „einen Wirkungsbegriff von Kunst dergestalt zu behüten, daß er nicht reibungslos angepaßter Teil einer sich entleerenden Kulturindustrie  werden könnte, deren ausschließlich an ökonomischer Funktionalität orientierte Kriterien ja auch als entfernte Parallelen zum funktional-dialektischen Ideologiebetrieb der DDR interpretierbar waren.“ Doch Flügge merkt auch an, dass diese Rückbezüglichkeit, „die postume Erinnerung eines heimatlos gewordenen Kunst-verständnisses“, nicht als Wahrnehmungshorizont für eine gesamtdeutsche Kunstentwicklung ausreichend tauglich ist: Denn die Kunstwerke, die in der DDR entstanden, „sind zu Objekten der Kunstgeschichte geworden und müssen ihre Bedeutung in einer veränderten Perspektive und im Blick einer neuen Generation erweisen.“[41] Auf die Kunst der DDR beschränkt, sucht die Ausstellung in Apolda durch die Katalogtexte neben der Darstellung ihrer Spezifik die Frage nach der Affinität zwischen der Kunstentwicklung im Osten und Westen Deutschlands nicht auszublenden. Darin ist sie der Berliner Ausstellung voraus, die vor allem von den Besuchern aus den neuen Bundesländern als eine Art Ehrenrettung für eine zu Unrecht abqualifizierte Kunst aus der DDR empfunden wurde, wodurch sich vor allem ihre große Publikumsresonanz erklärt.

Im neuen Jahrzehnt gab es freilich nur wenige Projekte, die getrennte deutsche Kunstgeschichte in einem gemeinsamen Kontext darzustellen. Neben der Doppelausstellung >Klopfzeichen<, die in ihrem kulturgeschichtlichen Teil („Mauersprünge“) die Grenzgänge von Künstlern (vor allem in den Bereichen Literatur und Film) und die widerspruchsvollen kulturpolitischen Annäherungsversuche thematisierte und in einer parallel inszenierten Ausstellung („Wahnzimmer“) die Kunstproduktion der 1980er Jahre, vor allem der jüngeren Generation, in eine vergleichende Beziehung setzte, war insofern eine aufwendige Ausnahme, weil sie Kunst und Politik in einen Wahrnehmungshorizont rückte.[42] Ihr produktiver Ansatz fand allerdings nicht die erwartete Resonanz. Sowohl den Besuchern in Leipzig wie auch nachfolgend in Essen schien es schwer, solche Wechselwirkungen aufzuspüren und darin einen besonderen Reiz zu erkennen. Zwei Jahre später beschritt die vom Winckelmann-Museum in Stendal initiierte Ausstellung >OST-WESTLICHER IKARUS. Ein Mythos im geteilten Deutsch-land< einen anderen Weg.[43] Motivgeschichtlich angelegt, suchte sie an die gemeinsame Erfahrung vom Scheitern der Utopien anzuknüpfen. Die Schau wurde als gesamtdeutsches Projekt in Stendal, Gotha, Duisburg und Wasserburg gezeigt, fand jedoch auch deshalb nur eine begrenzte Beachtung, weil die ikonografische Eingrenzung zu einem nicht unerheblichen qualitativen Gefälle bei der Werkauswahl geführt hat.

So kann es nicht verwundern, dass aus den letzten Jahren vor allem Ausstellungen in Erinnerung bleiben, die sich um eine erweiterte Rekonstruktion der Kunstgeschichte der DDR bemüht haben. In diesem Zusammenhang sollen vier Ausstellungen hervorgehoben werden. Die Marburger Kunsthistorikerin Sigrid Hofer hat ein Forschungsprojekt geleitet, aus  dem die Ausstellung >Gegenwelten. Informelle Malerei in der DDR. Das Beispiel Dresden< hervorgegangen ist, die in Marburg, Halle (2006) und Dresden (2007) gezeigt wurde.[44] Sie hat die Kenntnis über abstrakte Tendenzen in der Kunst der DDR bereichert, auch wenn man die Beschränkung auf die Elbestadt bedauern mag.[45]

Wenige Monate nach der umstrittenen Präsentation >60 Jahre 60 Werke<, die im Berliner Martin-Gropius-Bau, die Kunst aus der DDR ausgeschlossen hatte, rückte die Ausstellung >60/40/20. Kunst in Leipzig seit 1949<, die beziehungsreich am 3. Oktober 2009 eröffnet wurde, ihren Blick auf die Kunstentwicklung in Leipzig, jene Stadt, die in den 1970er Jahren durch Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke auch im Westen Deutschlands wachsende Beachtung gefunden und seit den 1990er Jahren durch junge Maler wie Neo Rauch oder Matthias Weischer internationale Aufmerk-samkeit  erregt hatte. Im Kuratorenteam der Ausstellung wie auch im umfangreichen Katalog wurden kunsthistorische und kultursoziologische Perspektiven und Erkentnisinteressen auf eine neuartige Weise verknüpft.[46] War die zwölf Jahre zuvor in Leipzig und Dresden gezeigte Bilderschau >Lust und Last. Leipziger Kunst seit 1945< [47] vor allem darauf gerichtet, den künstlerischen Ertrag der Kunstentwicklung in Leipzig zu präsentieren, machte die in Zusammenarbeit mit einem For-schungsprojekt „Institutionalisierung der Künste in der Moderne“ an der TU Dresden in Kooperation mit dem Museum der bildenden Künste Leipzig entwickelte Ausstellung die Kontexte sichtbar, die auf den Entwicklungsprozess der Kunst eingewirkt haben. In der Ausstellung, die nur in Leipzig gezeigt wurde, waren die Teile besonders aufschlussreich, die bedeutsame künstlerische Ereignisse und Situationen im Westen rekonstruiert haben, an denen Leipziger Künstler beteiligt waren. Das gilt insbesondere für die „Außenblicke“ auf Kunst aus der DDR, die – nachdem der Mailänder Galerist Emilio Bertonati Werner Tübke bereits 1971 in verschiedenen Städten Italiens umfangreich präsentiert hatte – auf der documenta 6 (1977) in Kassel und den Biennalen in Venedig (seit 1982) nun auch für ein westliches Publikum möglich wurden. Der Wert einer solchen Rekonstruktion erweist sich auch im Rückblick auf die in der Mitte der 1950er Jahre als private Initiative junger Studierender in Leipzig enstandene Gruppe „action fotografie“, die sich in ihrem Bildschaffen bereits früh um die subjektive Authentizität ihres Blicks auf die soziale Realität bemühte und in einem breiten Spektrum ihrer Werke aus den beiden einzigen von ihr realisierten Ausstellungen der Jahre 1956 und 1957 in der Leipziger Schau wieder zusammengeführt werden konnte.[48] Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob sich der Begriff der „Leipziger Schule“, der in den 1970er Jahren kreiert worden ist und seine Fortsetzung in der Wortprägung der „Neuen Leipziger Schule“ seit den 1990er Jahren gefunden hat, auch retrospektiv auf die ersten Nachkriegsjahrzehnte der Leipziger Kunstentwicklung anwenden lässt.[49] Die Ausstellung scheint dieses Deutungsmuster selbst zu widerlegen. Denn vor allem die in überreicher Fülle mit einem geradezu enzyklopädischen Ehrgeiz zusammen-getragenen Beispiele aus der Leipziger Kunst der 1950er Jahre erscheinen allenfalls dann unter ein gemeinsames Label als „Laboratorium des Sozialistischen Realismus“ rubrizierbar, wenn man ihre Konventionalität – insbesondere im Vergleich zu Dresden, aber auch zu Berlin – betrachtet. Dabei geraten dann freilich bemerkenswerte Einzelleistungen wie etwa das bedeutsame Werk einer Elisabeth Voigt in einen irritierenden Kontext künstlerischer Belanglosigkeit, dem sie in der Ausstellung kraftvoll  und überzeugend entgegentreten.

Nachdem Ute Grundmann, Klaus Michael und Susanna Seufert bereits 1996 eine Darstellung der „anderen Kultur in Leipzig 1971 – 1990“ unter dem Titel „Die Einübung der Außenspur“ vorgelegt hatten, die 2002 in einer erweiterten Fassung neu aufgelegt         wurde[50], widmeten sich 2009 zwei Ausstellungsprojekte der inoffiziellen Kultur in Dresden und in Ostberlin. Die an vier Orten in der Elbestadt  vom 24. September 2009 bis zum 11. April 2010 im Rahmen von riesa efau. Kulturforum Dresden gezeigte Ausstellung >OHNE UNS< gibt einen umfassenden Einblick in die Gegenkultur, die sich in Dresden im Gestaltungsfeld der bildenden Kunst seit den 1950er Jahren bis 1989 entfaltet hat, thematisiert an Beispielen die Repressionsmechanismen, die gegen Künstler angewendet wurden (in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der Bautzener Straße), und reflektiert exemplarisch die Entwicklung von Künstlern der jungen Generation auch nach der friedlichen Revolution bis in die frühen 1990er Jahre. Das ist eine interessante Horizonterweiterung, weil damit eine Transformationsperiode thematisiert wird, in der sich die Künstler neuen Erfahrungen und Herausforderungen in einer anderen Gesellschaft mit einem grundlegend verschiedenen Kunstvermitlungssystem konfrontiert sahen. Der Hauptort der Ausstellung, die Prager Spitze, zeigt Arbeiten von Künstlern verschiedener Generationen, von Hermann Glöckner über A.R.Penck bis zu Via Lewandowsky, außerdem die 12teilige Werkgruppe Society apokalyptisch (1979/80) des Bildhauers Hartmut Bonk. Bemerkenswert ist der von Susanne Altmann kuratierte „ thematische Ausstellungsexkurs“ >Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?<, der „weibliche Subversionen in der späten DDR-Kunst“ mit Werken u. a. von Tina Bara, Angela Hampel, Cornelia Schleime, Christine Schlegel und Gundula Schulze Eldowy vorstellt. Damit wird erstmalig die Aufmerksamkeit auf feministische Tendenzen in der Kunst der DDR gerichtet, die wenig später die Ausstellung >und jetzt. Künst-lerinnen aus der DDR< im Künstlerhaus Bethanien erneut in Szene gesetzt hat.[51] In der eindrucksvollen  Dresdner Schau sind im Ausstellungsteil in der Motorenhalle Arbeiten von Künstlern versammelt worden, die sich seit Ende der 1970er Jahre von den Kunstnormen des sozialistischen Realismus radikal gelöst haben. Hier wird deutlich, wie sich die gegenkulturellen Kunstszenen der DDR in den 1980er Jahren zwischen Dresden, Karl-Marx-Stadt und Berlin zunehmend vernetzen, weil dort die Erwartung an eine Übersiedlung in den Westen am nächsten erreichbar schien. Dieses künstlerische Grenzgängertum war ebenso durch eigene politische Repressionserfahrung motiviert wie auch durch ein prekäres historisches Bewusstsein akzentuiert, das Ralf Kerbach pointiert ausgedrückt hat, der 1984 nach längerer Wartezeit schließlich die DDR verlassen konnte: „Es ist auch kein Zufall, dass unsere Generation tief in den Schacht der deutschen Geschichte blicken musste. Im Osten stolperte man seit der Kindheit durch den deutschen Friedhof und dies hat eine Generation geprägt. (…) Freiheit bekommt man vom Ausstieg aus der Geschichte. Schönheit ebenfalls.“[52] Der von Paul Kaiser und Frank Eckhardt herausgegebene Begleitband[53] zu der beeindruckenden Dresdner Kunstschau bietet erstmals eine facettenreiche Darstellung der inoffiziellen Kunst seit den 1950er Jahren und lässt damit auch die langen Entwicklungslinien einer selbstverantworteten Kunst innerhalb der DDR anschaulich werden. Die Ausstellung >OHNE MICH< erweitert  in einem innovativen Konzept Kenntnisse über die Kunstszenen in einem der drei großen Zentren (neben Berlin und Leipzig), die für die Kunst in der DDR vorrangige Bedeutung hatten.[54]

Uwe Warnke, Thomas Günther und Ingeborg Quaas haben im November 2009 in zwei einander ergänzenden Ausstellungen, die bis Februar 2010 unter großer Publikumsresonanz in Berlin und Rheinsberg gezeigt worden sind und anschließend im Frühjahr 2010 in den Kunstsammlungen Jena gastieren konn-ten, die Literaten- und Künstlerszenen Ostberlins aus dem Jahrzehnt von 1979 bis 1989, die „Prenzlauer-Berg-Connection“ (Adolf Endler), neu ins Blickfeld gehoben. Das Ausstellungsprojekt wurde von einem Sammelband begleitet, dessen Intention die Mitherausgeberin Ingeborg Quaas so formuliert: „Im vorliegenden Band unternehmen es sowohl Protagonisten, nahe Beobachter als auch Weggefährten, die unterschiedlichsten Aspekte des kreativen Widerstands auszuleuchten (…). Wir sind fest davon überzeugt, dass es sich um einen spezifischen, noch lange nicht genügend beachteten Aspekt innerhalb der deutschen Literatur- und Kunstgeschichte handelt. Nicht wenige der literarischen und künstlerischen Ergebnisse dieser Episode sind trotz oder gerade wegen staat-licher Repressionen Ausdruck eindrucksvoller Meisterschaft, die keinen Vergleich scheuen muss.“[55]

VIII.

Es zählt tatsächlich zu den interessanten, irritierenden Erfahrungen in der Aufarbeitung einer Kunstgeschichte der DDR, dass es bis heute nicht gelungen ist, die Relevanz und Substanz der künstlerischen Produktion angemessen zu bewerten, die im Aktionsfeld der inoffiziellen Gegenkultur entstanden ist. Insofern können die aktuellen Ausstellungen, die 2009 in Dresden und Berlin präsentiert worden sind, wichtige Impulse vermitteln, diese unabgegoltene Fragestellung erneut aufzugreifen. [56] Während >OHNE MICH<  in einem weit gespannten Zeithorizont neben der in Dresden entstandenen Kunst auch Verbindungslinien zu anderen wichtigen Kunstorten in der DDR Kunstorten sichtbar macht, kann die Berliner Schau, die sich auf das Jahrzehnt der angestauten Implosion beschränkte, vor allem den intermediären Charakter der inoffiziellen Kultur in der DDR verdeutlichen. Doch bleibt es fraglich, ob sich die Kunstgeschichte der DDR im Fokus ihrer lokalen und regionalen Entwicklung adäquat erschließen lässt. So bleibt de Aufgabe, ermutigende Ansätze, die sich in letzter Zeit konkretisiert haben, in einen synthetisierenden Blick zu überführen.[57] Dabei erschiene es mir vorrangig, in einem nächsten Anlauf den Kontexten nachzugehen, in deren Bezugsfeld sich die inoffizielle Kunst in der DDR entfaltet hat. Es gab ja nicht nur den Antagonismus zwischen einer agitatorisch korrumpierten Staatskunst etwa eines Heinrich Witz oder Walter Womacka und dem künstlerisch innovativen Werk von kreativen Außenseitern wie A. R. Penck oder Cornelia Schleime, sondern auch die gehaltvollen und spanungsreichen Zwischenzonen, in denen sich beispielsweise Wolfgang Mattheuer oder Gerhard Wolf bewegten. Literaten und bildende Künstler waren hier durch vielfältige osmotische Beziehungen mit  jenen Akteuren einer nachwachsenden Generation verbunden, die nach eigen-sinnigen Ausdrucksformen suchten, indem sie sich von der „Vormundschaft eines übergeordneten Sinns“ (Elke Erb) befreiten. Und es gab – zumal in den 1980er Jahren – auch einen zunehmenden Prozess ost-westlicher Korrespondenz zwischen jüngeren Künstlern, in dem sich gleichermaßen ästhetische Affinitäten wie differente gesellschaftliche Erfahrungsräume abbilden, was vor allem die von Eugen Blume und Eckhart Gillen kuratierte Leipzig-Essener Ausstellung >Wahnzimmer< (2002) sichtbar gemacht hat.[58

In einem solchen Frage- und Wahrnehmungshorizont muss die Einschätzung irritieren, die Christoph Tannert in seiner Eröffnungsrede zu der Berliner Ausstellung >Poesie des Untergrunds< am 20. November 2009 gehalten hat. Indem Tannert die Kunstentwicklung in der DDR unter den pauschalierenden Antagonismus von Staatskünstlertum und Dissidenz stellt, gerät er in eine Sackgasse kunsthistorischer Interpretation und überträgt dieses Schema mit einer provokativen Polemik auf westdeutsche Kunstinterpreten und  Ausstellungskuratoren. Er weist in einer kaum nachvollziehbaren Identifizierung selbst unvergleichbare, entgegengesetzte Konzepte in der Darstellung deutscher Nachkriegskunst zurück, indem er konstatiert: „All die repräsentativ verschnittenen deutsch-deutschen Staatskunstausstellungen sind Retortenwesen. Sie leben nur in den Kulturschalen der kunst-hysterischen Labore einiger West-Kollegen, die nach der Pluripotenz streben, über alle und alles Bescheid zu wissen.“ Von einem solchen Abwehrreflex ist der Weg zur Feinderklärung nicht weit, wenn Tannert entrüstet bekennt: „Und dass diejenigen nicht unsere Freunde werden können, die statt kritischer Aufarbeitung der Geschichte der Literatur und Kunst  in der DDR den Fratzen von damals die Füße küssen.“[59] Der alte Bilderstreit um die deutsche Kunst in Ost und West wird in Tannerts Version zu einem Kampf um die „Deutungshoheit“ für die Kunst aus der DDR, und das impliziert – wenn man seinen Furor ernst nähme – nichts weniger als die Absage an jeden erkenntnisleitenden Diskurs über die deutsche Kunstgeschichte seit 1945, der nicht den eigenen Positionen folgt und den gleichen Erfahrungsraum einschließt. Doch wäre Erregung und Abwehr die falsche Antwort. Produktiv gewendet, könnte Tannerts frustrierte Philippika auch dazu anregen, nach Alternativen zu suchen, die neue Impulse auslösen in einer Phase wachsender Interesselosigkeit an Fragen gesamt-deutscher Kultur. Projekte, Ausstellungs- wie Forschungsvorhaben, in denen ost- und westdeutsche Blickachsen konstruktiv miteinander in Beziehung treten, könnten einen neuen Weg eröffnen, das Projekt einer gesamtdeutschen Kulturgeschichte voranzubringen – in produktiven Kontroversen und ohne Deutungsmonopole.

 

© Rüdiger Thomas

 


Anmerkungen

[1] Die relevanten Beiträge sind dokumentiert in: Thomas Anz (Hrsg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991. –   Günter de Bruyn hat die Berechtigung dieses Buchtitels unterstrichen, als er den Vorgang in der „Zeit“ am 7. September 1990 so kommentierte: „Daß ausgerechnet  Christa Wolf als böses Beispiel herhalten mußte, entbehrt jeder Gerechtigkeit und Logik und ist nur als Folge ihres großen Erfolges zu begreifen, der zum Denkmalssturz reizt. (…) Der Genauigkeit dienlich wäre es auch, historische Vergleiche, selbst wenn sie sich aufdrängen, beiseite zu lassen, besonders die mit dem moralischen Tiefpunkt deutscher Geschichte, der damit unbeabsichtigt verharmlost wird.“

[2] „Ein Meister, der Talent verschmäht“. Interview von Axel Hecht und Alfred Welti mit Georg Baselitz, in: art 6(1990), S. 70.

[3] Marcel Reich-Ranicki: Eine unruhige Elegie, in: Die Zeit, 23. Mai 1969, zit. nach Marcel Reich-Ranicki: Zur Literatur der DDR, München 1974, S. 120 u. S.118.

[4] Laudatio für Thomas Brasch, in: Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Studien – Dokumente – Bibliographie, hrsg. von Angela Drescher, Berlin 1989, S. 443 u. S. 437.

[5] Vgl. Rüdiger Thomas: Bauelemente einer gesamtdeutschen Kommunikationskultur, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Peter Schwarz(Hrsg.): Deutschland zwischen Krieg und Frieden. Beiträge zur Politik und Kultur im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1991, S. 395f.

[6  Thomas Brasch (1945 – 2001),  Sohn eines 1946 aus der englischen Emigration in die SBZ zurückgekehrten hohen SED-Funktionärs, wurde 1968 wegen der Verteilung von Flugblättern, die gegen die Intervention in der ÄŒSSR protestierten, wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Mit Ausnahme einer Ausgabe von ausgewählten Gedichten in Heft 87 (1975) der von Bernd Jentzsch edierten Reihe „Poesiealbum“ konnten seine Texte in der DDR nicht erscheinen. Die Irritationen, die ein Leben im Niemandsland auslösen musste, hat Brasch 1975 in seinem Gedichtzyklus „Der Papiertiger“ ausgedrückt. Dort heißt es in der von Christa Wolf in ihrer Laudatio  zitierten, berühmt gewordenen Sequenz 6 (Lied/Stille): „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber /die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber / die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber / wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ (Thomas Brasch: Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, Frankfurt/M. 1977,  S. 97f.)

[7] Marcel Reich-Ranicki: Macht Verfolgung kreativ?, in: ders.: Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR, Stuttgart 1991, S. 186 – 191. In diesem Text zieht Reich-Ranicki zudem nicht nur die künstlerische Bedeutung von Christa Wolf in Zweifel, sondern attackiert zugleich ihre politische Glaubwürdigkeit: „Daß die in Ost-Berlin lebende Autorin Christa Wolf in der DDR ein hohes Ansehen genießt und auch viel Zulauf hat, ist nicht verwunderlich: Wo es an Wolle und Seide fehlt, da lassen sich auch mit Baumwolle und Kunstseide gute Geschäfte machen. Daß aber diese Schriftstellerin, deren künstlerische und intellektuelle Möglichkeiten eher bescheiden sind, im Westen ebenfalls nicht ohne Andacht behandelt wird, ja, mittlerweile sogar als gesamtdeutsche Mahnerin vom Dienst gilt, ist schon weniger verständlich. (…) Mit der einen Hand beanstandet sie (eher vorsichtig)  gewisse Maßnahmen der SED-Kulturpolitik, mit der anderen beteuert sie (und zwar mit Nachdruck) ihre Treue und Zuverlässigkeit.“ (S. 186f.)

[8] Ulrich Greiner: Mangel an Feingefühl, in: Die Zeit, 1. Juni 1990, zit. nach Anz (wie Anm. 1), S. 66, 70, 69.

[9] Volker Hage: Kunstvolle Prosa, in: Die Zeit, 1. Juni 1990, zit. nach Anz (wie Anm. 1), S.72.

[10] Vgl. Frank Schirrmacher: Literatur und Kritik, in: F.A.Z., 8. Oktober 1990.

[11] Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik, in: Die Zeit, 2. November 1990, zit. Nach Anz (wie Anm. 1), S. 213 und S.216.

[12] Vgl. dazu Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation, hrsg. Von Hermann Vinke, Hamburg 1993.

[13] Vgl. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR, Köln 1994, S. 429 – S. 497.

[14] Deutsches P.E.N.-Zentrum (Ost): Gespräche zur Selbstaufklärung ’92. Als Manuskript vervielfältigt, S. 88f.

[15] Vgl. die Äußerung Heiner Müllers aus einem Interview mit Frank M. Raddatz  von 1990: „Die DDR war das Geschenk für eine Generation von besiegten Kommunisten, Emigranten, Zuchthäuslern, KZlern. Die einzige Legitimation der DDR kam aus dem Antifaschismus, aus den Toten, aus den Opfern. Deshalb war der Sozialismus auch der Hort der Langsamkeit, denn die Toten haben unendlich Zeit. Ab einem gewissen Punkt fing es an, zu Lasten der Lebenden zu gehen. Es kam zu einer Diktatur der Toten über die Lebenden.“  (Heiner Müller, Jenseits der Nation, Berlin 1991, S. 74f.) –  Aufschlussreich ist auch eine Aussage von Günter de Bruyn aus einem Anfang November 1990 gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Deutsche Befindlichkeiten“: „Wollte man das Leben in der DDR des letzten Jahrzehnts auf einen pauschalen Begriff bringen, könnte man von Stagnation und dumpfer Zufriedenheit reden, von einer Schicksalsergebenheit, die zwar ursprünglich von Macht erzwungen, im Laufe der Zeit aber zu einer Gewohnheit geworden war.“ (Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge, wie Anm. 1, S. 35.)

[16] Reinhard Baumgart; Der neudeutsche Literaturstreit. Anlaß – Verlauf – Vorgeschichte – Folgen, in: Vom gegenwärtigen Zustand der deutschen Literatur, Text+Kritik 113(1992), S. 84f.

[17] Beatrix Langner: Salto postmortale. Sechzehn Thesen über die verspäteten Klassiker der DDR-Literatur Christa Wolf und Volker Braun, in: DDR-Literatur der neunziger Jahre, Text+Kritik Sonderband IX/00 (2000), S.57.

[18] Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausgabe, Leipzig 1996, S.9.

[19] Evelyn Weiss: Bilder aus Deutschland – Eine Einführung, in: Ausst.-Kat. Bilder aus Deutschland. Eine Ausstellung des Museum Ludwig, Heidelberg 1990, S.10.

[20]   duard Beaucamp: Dissidenten, Hofkünstler, Malerfürsten – Über die schwierige Wiedervereinigung deutscher Kunst, in: Ausst.-Kat. Bilder aus Deutschland (wie Anm. 19), S.34.

[21] Ausst.-Kat. Ausgebürgert. Künstler aus der DDR 1949 – 1989, Berlin 1990, S.8.

[22] Ebd., S.30.

[23] Ebd., S.31 u. S. 32.

[24] Eckhart Gillen: „Schwierigkeiten beim Suchen nach Wahrheit“. Bernhard Heisig im Konflikt zwischen ‚verordnetem Antifaschismus’ und der Auseinandersetzung mit seinen Kriegstraumata, Phil. Diss. Heidelberg 2002, S.13.

[25] Klaus Werner: Verdammt in alle Ewigkeit, in: F.A.Z., 25. Mai 1994. Vgl. auch die Beiträge von Eduard Beaucamp: Der Streit um die Nationalgalerie, in: F.A.Z., 20. Juni 1994; Christoph Wagner: Ist’s Kunst oder nur ein historisches Dokument? Diskussion über Gemälde von DDR-„Staatskünstlern“ in der Neuen Nationalgalerie, in: Märkische Oderzeitung, 21. Juni 1990; Hans-Joachim Müller: Kunst der Unterscheidung. DDR-Malerei in der Berliner Nationalgalerie, in: Die Zeit, 10. Juli 1994. – Honischs Neuhängung blieb freilich eher ein fragwürdiges  Experiment als ein tragfähiges Inszenierungskonzept, so dass ihr nur ein kurzes Leben beschieden war. Die Nationalgalerie hat zudem die gravierenden Lücken in ihrem Bestand von Kunst aus der DDR bis heute nicht geschlossen. Der Katalog der Gemälde und Skulpturen zur Kunst in der DDR im Besitz der Nationalgalerie, den Fritz Jacobi  2003 vorgelegt hat, macht in irritierender Weise deutlich, dass die Sammlung  auch weiterhin die Kunst der unangepassten Künstler und Werke der jüngeren Generation  aus den 1980er Jahren kaum in ihren Bestand aufgenommen hat. (Vgl. Nationalgalerie Berlin: Kunst in der DDR. Katalog der Gemälde und Skulpturen, Leipzig 2003.)

[26] Vgl.Andreas Hüneke: Reißverschlußallergie. Darf Kunst aus der DDR in der Berliner Nationalgalerie ausgestellt werden? Eine Antwort, in: F.A.Z., 20. Mai 1994.

[27] Vgl. Monika Flacke (Hrsg.): Auftragskunst der DDR 1949 – 1990, München 1995

[28] Paul Kaiser/Claudia Petzold: Boheme und Diktatur in der DDR, Berlin 1997, S. 19.

[29] Für die Überlassung des Textes des Offenen Briefes vom 31. Januar 1998 und der Unterzeichnerliste danke ich Christoph Tannert.

[30] Vgl. hierzu und zum zum Folgenden Eckhart Gillen (wie Anm. 24), S. 16.

[31] Die Beeskower Bestände umfassten etwa 20.000 Arbeiten, von denen 15.000 Werke aus den Beständen der Parteien und Massenorganisationen stammten, 3.000 aus dem vormaligen Besitz des Magistrats von Berlin und 2.000 aus dem Fundus des Kulturfonds der DDR. Sie wurden von Schirmer exemplarisch in vier Ausstellungen erschlossen: 1995 wurden die Ausstellungen „Querformat 1“ und „Querformat 2. Malerei und Grafik der 70er Jahre“ gezeigt. 1996 folgte die Bilderschau „Die Schönheit der Macht“ und 1997 präsentierte Schirmer die Ausstellung „…und der Zukunft zugewandt! Bündnispoesie und Freundschaftsmythos“, bevor er 1998 aus seinem Amt ausschied.

[32] Monica Geyler / Annette Leo / Beatrice Vierneisel: Einleitung, in:Volks Eigene Bilder. Kunstbesitz der Parteien und Massenorganisationen., hrsg. vom Dokumentationszentrum Kunst der DDR, Berlin 1999, S. 11.

[33] Brigitte Rieger-Jähner: Das „Dokumentationszentrum Kunst der DDR“ in Beeskow – ein Bestand mit Zukunft?, in: ebd., S. 199.

[34] Bernd Lindner.: Die Mauer fiel und alles (war) ist anders, in: Ausst.-Kat. Klopfzeichen, Leipzig 2002, S. 187. Vgl. dazu auch Bernd Lindner: „So war es nicht!“ – „Genau so war es!“. Deutsch-deutsche Dialoge in Ausstellungen mit Kunst aus der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.): Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre, Berlin 2001, S. 688-703.

[35] Achim Preiß: Offiziell/Inoffiziell – Die Kunst der DDR, in: Ausst.-Kat. Aufstieg und Fall der Moderne, Kunstsammlungen zu Weimar, hrsg. von Rolf Bothe und Thomas Föhl, Stuttgart 1999, S. 456.  Wieland Schmied hat die Gleichsetzung von Nazikunst und DDR-Kunst schon 1990 zurückgewiesen: „Die Nazikunst stellt sich erklärtermaßen außerhalb jeder Verbindung zur Moderne, die Kunst der DDR dagegen hat im geschichtlichen Rückgriff wieder bei Traditionen angeknüpft, die in der Hitlerzeit verfemt waren, bei Expressionismus und  Neuer Sachlichkeit, und dabei andere Traditionen auszuklammern versucht. Die Nazikunst war von Grund auf Lüge. Die Kunst der DDR war oft Krampf, war meist problemschwer, dumpf, überladen, verquält, war auf weite Strecken langweilig  – aber sie war, soweit ich sehen kann, nie glatt und geschleckt wie die Nazikunst.“ (Zur Moderne keine Alternative, in: Ausst.-Kat. Bilder aus Deutschland, wie Anm.19, S. 41.)

[36] Preiß (wie Anm. 35), S. 470.

[37] Vgl. Bernd Lindner: Verstellter, offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1949 – 1995, Köln 1998.

[38] Es spricht für die Kunstsammlungen zu Weimar, dass sie den kontroversen Verlauf und die Reaktionen auf die Ausstellung ausführlich dokumentiert haben: Der Weimarer Bilderstreit. Szenen einer Ausstellung, Weimar 2000. –  Noch während der Laufzeit der Weimarer Ausstellung wurde am 6. August 1999 auf der Festung Königstein, wo der Kunstfonds des Freistaates Sachsens sein Depot hatte, eine Ausstellung „Enge und Vielfalt“ eröffnet, die auch von dezentralen Einrichtungen (Betriebe und Massenorganisationen) in Auftrag gegebene Werke und Exponate aus wichtigen ostdeutschen Museen präsentierte. Im Unterschied zu der Beeskower Ausstellung „Rahmen-Wechsel“ ergab sich damit  ein differenzierteres Bild. (Siehe dazu Bernd Lindner, So war es nicht,  wie Anm. 34, S. 700ff.) Die von Sigrid Lehmann und Paul Kaiser kuratierte Bilderschau wurde von einer umfangreichen Publikation begleitet: Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR. Eine Publikation des Kunstfonds des Freistaates Sachsen. Herausgegeben von Paul Kaiser und Karl-Siegbert Rehberg, Hamburg 1999.

[39]  „Die Spannweite der Konflikte“. Vortrag von Eberhard Roters auf dem Plenartreffen der Privatinitiative Kunst in Dresden am 4. April 1992, in: Ausst.-Kat. Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land, Köln 1997, S. 19. Die Metapher folgt dem 1984 entstandenen Bild von Ralf Kerbach Der Zwilling, das Roters seinerzeit für die Berlinische Galerie erworben hatte.

[40]  Die Berliner Ausstellung hat noch einmal eine Debatte um die Kunst in der DDR ausgelöst. Vgl. dazu Bernd Lindner: Ausgang offen. Der Disput um die bildende Kunst in der DDR geht in eine neue Runde, in: Deutschland Archiv, H. 6/2003, S. 928-936.

[41] Ausst.-Kat. Jahresringe. Kunstraum DDR. Eine Sammlung 1945 – 1989, Dresden 1989, S. 11.

[42] Doppelkatalog Klopfzeichen. Kunst und Kultur der 80er Jahre, Leipzig 2002 mit den beiden Teilen “Mauersprünge“, hrsg. von Bernd Lindner und Rainer Eckert,  sowie“Wahnzimmer“, hrsg. von Eugen Blume, Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen und Hans-Werner Schmidt.

[43] Ausst.-Kat. OST-WESTLICHER IKARUS. Ein Mythos im geteilten Deutschland, hrsg. von Max Kunze, Stendal 2004.

[44] Ausst.-Kat. Gegenwelten. Informelle Malerei in der DDR. Das Beispiel Dresden, hrsg. von Sigrid Hofer, Frankfurt am Main und Basel 2006.

[45] So hat in Berlin Hans Brosch ein bemerkenswertes eigenständiges Werk gestaltet, das Mitte der 1970er Jahre auch in Frankreich und der Bundesrepublik aufmerksam registriert worden ist. Es wurde vom 21. Januar bis 5. April 2010 in einer Einzelaustellungin der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig neu präsentiert. Vgl. dazu Ausst.-Kat. Hans Brosch, hrsg. von Carsten Probst im Auftrag der Stiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst und des Freundeskreises Han Brosch, Nürnberg 2010.

[46] Ausst.-Kat. 60/40/20. Kunst in Leipzig seit 1949, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg und Hans-Werner Schmidt, Leipzig 2009.

[47] Vgl. Ausst.-Kat. Lust und Last. Leipziger Kunst seit 1945, hrsg. von Herwig Guratzsch und G. Ulrich Großmann, Ostfildern 1997. Zehn Jahre später hat die Kulturstiftung Leipzig, maßgeblich um den Fundus des österreichischen Sammlerehepaares Essl aus dem österreichischen Klosterneuburg gruppiert, im Torgauer Schloss Hartenfels vor allem die Neue Leipziger Schule erstmals in größerem Zusammenhang präsentiert. Siehe Ausst.-Kat. Made in Leipzig, Torgau 2007.

[48] Siehe dazu Jeanette Stoschek: „action fotografie“. Ein kurzer Aufbruch, in: Ausst.-Kat. 60/40/20 (wie Anm. 46), S. 88-94 und anschließend den ausführlichen Abbildungsteil S. 95-113.

[49] Vgl. dazu auch die Ausstellungskritik von Meinhard Michael: Von Anfang an, in: Leipziger Volkszeitung, 5. Oktober 2009, S. 9.

[50 Uta Grundmann/Klaus Michael/Susanne Seufert (Hrsg.): Revolution im geschlossenen Raum. Die andere Kultur in Leipzig 1970 – 1990, Leipzig 2002.

[51] Ausst.-Kat. Angelika Richter/Beatrice E. Stammer/Bettina Knaup (Hrsg.) und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR, Nürnberg 2009. Siehe auch die Besprechung der Ausstellung von Claudia Wahjudi in: KUNSTFORUM International, Bd. 201/März-April 2010, S. 272-273.

[53 Paul Kaiser/Frank Eckhardt (Hrsg.): Ohne uns: Kunst und alternative Kultur in Dresden vor und nach ’89, Kulturverein Riesa, Dresden 2009.

[54] Neben Dresden, Leipzig und Berlin war auch Karl-Marx-Stadt ein wichtiger Standort für die nonkonformen Künstler aus der DDR. Weil die Stadt im Unterschied zu den großen Zentren keine eigene Kunsthochschule hatte, spielten hier von den Künstlern selbst initiiierte Vermittlungsinstitutionen eine besondere Rolle. Das gilt (seit 1973) für die Galerie Oben ebenso wie für die Künstlergruppe und Produzentengalerie Clara Mosch. Vgl. dazu Ausst.-Kat. Clara Mosch 1977 – 1982. Werke und Dokumente,  Altenburg/Chemnitz/Berlin 1982 sowie die Publikation Galerie Oben 1973 – 1993, Chemnitz 1993.

[55] Uwe Warnke und Ingeborg Quaas (Hrsg.): Die Addition der Differenzen. Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989, Berlin 2009, S.9.

[56] Ein früher Versuch war der Sammelband Gabriele Muschter/Rüdiger Thomas(Hrsg.): Jenseits der Staatskultur. Traditionen autonomer Kunst in der DDR, München 1992.

[57] Es bleibt bemerkenswert, dass es seit 1989 keine von ostdeutschen Autoren, also aus der Binnenperspektive erarbeitete Literaturgeschichte der DDR gegeben hat (sodass Wolfgang Emmerichs Erweiterte Neuausgabe seiner „ Kleinen Literaturgeschichte der DDR“ , Leipzig 1996, zuerst Neuwied 1981) die einzige Darstellung geblieben ist. Für die bildende Kunst liegen von Autoren aus der ehemaligen DDR lediglich Hermann Raums im Blickfeld höchst begrenzte Publikation mit dem vielsagenden Titel „Bildende Kunst in der DDR. Die andere Moderne. Werke – Tendenzen – Bleibendes (Berlin 2005) und Lothar Langs an seine aus dem Jahr 1978 stammende Geschichte der „Malerei und Graphik in der DDR“ anknüpfende Neubearbeitung, die unter dem Titel „Malerei und Graphik in Ostdeutschland“ (Leipzig 2002)  um einst tabuisierte Künstler ergänzt neu verlegt worden ist, vor. Dagegen fehlt eine alle Kunstszenen der DDR umgreifende Darstellung aus einer neuen Perspektive von einem jüngeren Autor aus Ostdeutschland, der die von Christoph Tannert geltend gemachte eigene Erfahrungskompetenz einbringen könnte. Das soeben erschienene, von Dietmar Eisold herausgegebene voluminöse „Lexikon Künstler in der DDR“ (Berlin 2010), das insgesamt mehr als 5.000 Einträge (auf 1088 Seiten) umfasst, enthält große Disproportionen in den Angaben und erhebliche Lücken bei der Berücksichtigung der Gegenkultur. Neuere Darstellungen sind als Referenzwerke kaum berücksichtigt.

[58] Dieses Konzept hat bereits die 1995/96 in der Berliner Galerie im Marstall, im Rheinischen Landesmuseum Bonn und in der Kunsthalle Dresden gezeigte Ausstellung>Westchor Ostportal. 12 Positionen zeitgenössischer Kunst in Deutschland< überzeugend erprobt. Siehe dazu Ausst.-Kat. Westchor Ostportal, hrsg. von Gabriele Muschter und Klaus Honnef, Stiftung NEUE KULTUR, Berlin 1995.

[59] http://www.poesiedesuntergrunds.de/php/galerie.php

Überarbeitete in dieser Form unpublizierte Fassung eines Beitrags der unter dem gleichen Titel „Wie sich die Bilder gleichen“ erschienen ist in: Deutschland Archiv, 40.Jg.(2007) H.5, S. 872-882. Eine wesentlich erweiterte Fassung unter dem Titel „Blickwechsel auf die Kunst in der DDR. Vom Literatur- und Bilderstreit zum musealen Bilderscreening findet sich in: Karl-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hrsg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Berlin: Siebenhaar Verlag 2013, S. 126-150.

 

Deutsche Kultur im Einigungsprozess

Deutsche Kultur im Einigungsprozess

Text als Word-Dokument downloaden: 2010_Deutsche_Kultur_im_Einigungsprozess.doc

2010

Deutsche Kultur im Einigungsprozess

„Für die da drüben ist hier drüben.“ Mit diesem ironischen Bonmot hat das Leipziger Kabarett „Die Pfeffermühle“ 1964 die Blickrichtungen pointiert, die in Zeiten der Teilung in Deutschland aufeinander trafen. Doch die Wahrnehmungsintensität, mit der die Menschen im Osten und Westen des politisch gespalteten Landes die jeweils andere Seite betrachteten, war höchst verschieden, die Deutschen lebten in einer „asymmetrischen Beziehungsgeschichte“ (Christoph Klessmann). Der Systemantagonismus prägte nicht nur die politisch-ökonomische Realität, sondern wirkte sich auch nachhaltig auf die kulturellen Entwicklungsprozesse aus, die sich in der Polarität zwischen dem Pathos der Freiheit und dem Postulat der Parteilichkeit manifestieren sollten. Doch die „Stunde Nichts“ (Heinrich Böll) löschte die Vergangenheit nicht aus, die durch fundamentale Widersprüche zwischen Politik, Moral und Kultur bestimmt gewesen war.

Das Erbe der Klassik

Nach der bedingungslosen Kapitulation, die zugleich eine Befreiung vom Joch der Diktatur darstellte, begann ein doppeltes, von den Siegermächten bestimmtes  Experiment: die Demokratiegründung im Westen und der oktroyierte sowjet-sozialistische Weg im Osten. Der Kalte Krieg wurde in Europa vor allem als ideologischer Fundamentalkonflikt ausgetragen, der in der Kultur deutliche Spuren hinterließ. Der wichtigste gemeinsame Bezugspunkt für das gesellschaftliche Bewusstsein der Deutschen war in dieser Periode der politischen Konfrontation das kulturelle Erbe.Vor allem die klassische Kultur der Deutschen hatte im ersten Nachkriegsjahrzehnt jen-seits der ideologischen und systempolitischen Grenzen für Anknüpfungspunkte gesorgt, die sich auf vielfältige Weise zeigten. So waren das Goethejahr 1949 und das Schillerjahr 1955 kulturelle Ereignisse, die durch Thomas Manns Präsenz im Osten und Westen Deutschlands die Gemeinsamkeiten der deutschen Kultur symbolisch eindrucksvoll unterstrichen. Thomas Mann erwies sich dabei als ein konsequenter Verfechter der deutschen Einheit aus dem Geist der Kultur, als er am 3. April 1955 in Weimar formulierte: „Möge das Schiller-Jahr 1955 dazu dienen, die Einheit unseres Vaterlandes und seiner humanistischen Kultur im Gedanken und in der Tat zu stärken!(…) Möge das poetische Feuer des Patriotismus, das in Schiller glühte und in seinen Werken weiterlebt, die Herzen der deutschen Jugend begeistern und entflammen!“. Und es mutet im Rückblick merkwürdig an, dass der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl seine Festrede unter die Überschrift stellte, die 1989 zum Motto des Vereinigungswillensder Ostdeutschen werden sollte: „Wir sind ein Volk!“.[1] Anlässlich der Schiller-Ehrung 1959 reklamierte der Kulturminister Alexander Abusch 1959 das Vermächtnis Schillers als Alleinbesitz der DDR – ein merkwürdiges kulturpolitisches Pendant zum politischen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik: „Unser erster Arbeiter- und- Bauern-Staat auf deutschem Boden ist zum Treuhänder von Schillers Erbe für die ganze deutsche Nation geworden“.[2] Als Vorbilder für diese „Nationalkultur“ wurden in einem programmatischen Aufsatz, der im November 1960 in der SED-Zeitschrift „Einheit“ erschienen ist, „Goethes Faust, Schillers Tell und Lessings Nathan, Beethovens Fidelio und Mozarts Figaro, Dürers Mutter und Menzels Eisengießer“ [3] genannt. Jenseits solcher ideologischen Vereinnahmung war die seit 1955 erschienene, seit 1964 vom Aufbau-Verlag Berlin-Weimar publizierte, von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar herausgegebene Bibliothek deutscher Klassiker (BDK) mit insgesamt 153 Bänden ein wichtiges Element der kulturellen Traditionspflege.

Kultur als Politikum

Wo es um das kulturelle Erbe ging, öffneten sich in der DDR Freiräume. Doch dieser schöne Schein trog: Die andere Seite der kulturellen Entwicklung in der DDR war durch massive kulturpolitische Reglementierungen bestimmt. Das von der SED vielbeschworene „Bündnis zwischen Geist und Macht“ ist nach der Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns am 16. November 1976 endgültig zerbrochen. Stefan Heym formulierte sar-kastisch: „Das Ausbürgern könnte sich einbürgern.“ Wichtige Schriftsteller und bildende Künstler wie Sarah Kirsch oder A.R. Penck verließen die DDR. In der jungen Generation, die in die DDR „hineingeboren“ war, entwickelte sich jenseits der Staats-kultur eine Gegenkultur. Uwe Kolbes hektografierte inoffizielle Zeitschrift „Der Kaiser ist nackt“ begann 1981 mit diesem programmatischen Text des Herausgebers: „Der Kaiser ist nackt; d. h.: / Weg mit der Ersatz- und Sklavensprache, d. h.: / Verweigerung dem verlogenen Sinnschema, d.h.: / Nachsehen, den Augen trauen, sagen, d. h.: / VERANTWORTLICHES ALLGEMEINES GESPRÄCH…“[4]

Dieser Programmsatz schien vergessen, als sich die Deutschen nach der Öffnung der Mauer und der wenig später geglückten Neuvereinigung frei und ungehindert begegnen konnten. Dass die Normen des Grundgesetzes den politischen Einigungsprozess bestimmt haben, der sich in fortschreitender Beschleunigung scheinbar alternativlos gestaltete, war nach-vollziehbar, dass auch der Diskurs über das kulturelle Erbe aus beiden deutschen Teilgesellschaften sich ausschließlich an den Normen der westdeutschen Kultur orientiert hat, sollte sich demgegenüber als ein Dilemma erweisen, das bis heute nicht überbrückt werden konnte. Es bleibt eine unabgegoltene Aufgabe, die Kulturgeschichte der DDR neu zu besichtigen und dabei die Bedeutsamkeit der Kunstwerke in den Mittelpunkt zu rücken, statt nur über ihre politischen Entstehungszusam-menhänge zu reflektieren. Bereits 1990 hat Eduard Beaucamp pointiert und provozierend konstatiert: „Die freieste und selbstbewußteste Malerei, die das Abendland kennt, entfaltete sich in den verdorbensten Zeiten der Kirche am Hof der Päpste und im Spanien der Inquisition.“[5]

Literatur und Kunst im Widerstreit

Doch an dieser Einsicht ist der „Literaturstreit“, der sich an Christa Wolfs 1979 geschriebener, aber erst im Frühjahr 1990 veröffentlichter Erzählung „Was bleibt“ entzündete und das Verhältnis von Politik, Kunst und Moral am untauglichen Beispiel und an der falschen Person exemplifizierte, vorbeigegangen. Das gilt auch für den „Bilderstreit“[6], den Georg Baselitz zur gleichen Zeit mit der These einleitete, in der DDR habe es überhaupt keine Künstler gegeben, die diesen Namen verdienten: „Keine Künstler, keine Maler. Keiner von denen hat je ein Bild gemalt. Das ist ja alles ganz langweilig.(…) Die Künstler sind zu Propagandisten der Ideologie verkommen.“[7]

Längst haben sich die Kontroversen erschöpft, doch ihre Spätfolgen sind erkennbar. Es wäre überfällig, über die bleibende Substanz der Literaturen aus dem geteilten Nachkriegsdeutschland neu zu debattieren und vor diesem Hintergrund das Projekt einer gesamtdeutschen Literaturgeschichte voranzubringen.[8]

Auch für die bildende Kunst fällt die Bilanz zwiespältig aus. Zwar hat Eckhart Gillen bereits 1997 mit seiner Ausstellung „Deutschlandbilder“ die „Kunst aus einem geteilten Land“ in einen gemeinsamen Wahrnehmungshorizont gerückt, doch warfen viele ostdeutsche Kommentatoren dieser großen Berliner Festspielausstellung im Martin-Gropius-Bau eine unzureichende Berücksichtigung von Künstlern aus der DDR vor. Die von Roland März und Eugen Blume kuratierte Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie „Kunst aus der DDR“ fand 2003 in Berlin (anders als später in Bonn) eine nachhaltige Publikumsresonanz offenbar vor allem, weil sie die Künstler aus der DDR weitgehend umfassend, aber von der westdeutschen Entwicklung separiert vorstellte und damit von ostdeutschen Besuchern vielfach als Akt einer notwendigen Rehabilitierung verstanden wurde, nachdem die Weimarer Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ 1999 als provozierende Abwertung aller DDR-Kunst empfunden worden war und allgemeine Entrüstung hervorgerufen hatte. Sie hatte Malerei und Grafik aus der DDR in wahlloser Hängung und ohne erkennbare Auswahlkriterien präsentiert und im ehemaligen Gauforum unter dem Vorzeichen des Antimodernismus mit der Kunst des „Dritten Reiches“ in Beziehung gesetzt.

Wie schwierig gesamtdeutsche Kulturdebatten sind, wurde auch deutlich, als 1999 heftig um die Ausgestaltung des Reichstagsgebäudes mit zeitgenössischen Kunstwerken gestritten wurde. Als der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages u. a. Bernhard Heisig ausgewählt hatte, wurden von Vertretern aus der früheren ostdeutschen Gegenkultur auf Initiative von Christoph Tannert heftige Proteste laut, die sich zuerst gegen seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS richteten (Heisig war damals 17 Jahre alt und lediglich als Fahrer eingesetzt), aber auch seine Funktion als „Staatsmaler“ attackierten, ohne die Qualität seines Werkes zu würdigen. Als Folge dieser Kritik wurden neben dem bereits ursprünglich vorgesehenen „Aurora-Experimentalraum“ des Chemnitzers Carlfriedrich Claus Werke von Gerhard Altenbourg, Lutz Dammbeck, Hermann Glöckner, Wolfgang Mattheuer und Strawalde angekauft, sodass in den Arbeits- und Erholungs-bereichen des Bundestages wichtige Künstler aus dem Osten Deutschlands gemeinsam mit u. a. Joseph Beuys, Georg Baselitz, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Sigmar Polke und Gerhard Richter vertreten sind. So ist im gesamtdeutschen Parlament schließlich ein bemerkenswertes Kunststück geglückt: bildende Kunst aus Deutschland zusammenzuführen – ein überzeugender Kontrapunkt zur Gemäldegalerie im  1976 eröffneten Palast der Republik, der 16 Bildwerke aus der DDR unter dem Motto „Dürfen Kommunisten träumen?“ präsentiert hatte, darunter auch Gemälde von Heisig und Mattheuer.Zehn Jahre nach seiner Polemik gegen die ostdeutschen Maler ist Baselitz unter der Kuppel des Reichstags mit diesen gemeinsam heimisch geworden – ermutigende Pointe einer paradoxen Episode.

Erst 2009 ist es der amerikanischen Kuratorin Stephanie Barron gemeinsam mit Eckhart Gillen in Los Angeles mit der Schau „Art of Two Germanys/Cold War Cultures“ gelungen, einen spannungsreichen und umfassenden Blick auf die Kunstentwicklung in den beiden Deutschländern zu richten, der auch dadurch überzeugt hat, dass er die politischen Kontexte berücksichtigt, ohne künstlerische Werturteile damit zu verwechseln. Die Ausstellung, die unter dem Titel „Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89“ anschließend auch im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und im Deutschen Historischen Museum Berlin gezeigt wurde, hat trotz ihrer überzeugenden Konzeption nicht verhindern können, dass neuerdings ein Kampf um die „Deutungshoheit“ (Christoph Tannert) über die Kunst in der DDR begonnen worden ist, der sich eher an den Abgrenzungskriterien einer vergangenen Diktatur zu orientieren scheint als an einem gesamtdeutschen Erkenntnisinteresse.[9]

Infrastruktur und Kulturförderung                                                        

„In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation.“ Mit diesem lapidaren Satz beginnt der „Kultur“-Artikel 35 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990.Er liefert den Impuls, über das gemeinsame Erbe einer deutschen Kultur nachzudenken, die sich im Osten und Westen des Landes unter den Bedingungen der staatlichen Teilung entwickelt hat. Doch im Vordergrund des politischen Handelns musste die Frage stehen, wie es gelingen könnte, die kulturelle Infrastruktur im Osten Deutschlands zu sichern. Die deutsch-deutsche Kulturkommission, die im Rahmen der Aushandlung des Einigungsvertrages gebildet worden war, konstatierte Übereinstimmung, dass „trotz der zentralistisch und über lange Jahre stalinistisch geprägten Kulturpolitik der DDR eine teilweise beachtliche kulturelle Infrastruktur aufgebaut und eine breite Förderung künstlerischer Talente, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchen, ermöglicht wurde“.[10 So enthält der Einigungsvertag die Verpflichtung, dass die „kulturelle Substanz“ in den neuen Bundesländern „keinen Schaden nehmen darf“, die in der DDR zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen sollten in die Trägerschaft der neuen Länder und Kommunen übergehen, „in denen sie gelegen sind“.

Obwohl die Verantwortung für die Kultur im föderativen Staat in erster Linie in die Zuständigkeit der Länder fällt, verpflichtete sich der Bund, durch eine Übergangsfinanzierung zur Sicherung der Infrastruktur beizutragen, bis die neuen Länder diese Aufgabe im vollen Umfang selbst übernehmen könnten. In den neuen Bundesländern gab es zum Zeitpunkt der Vereinigung 217 Theater und Spielstätten, 87 Orchester, 719 Museen, 190 Musikschulen, rund 16.900 Bibliotheken, mehr als 1.700 Kultur- und Clubhäuser  sowie etwa 250.0000 registriete Einzel-denkmäler und 180 historisch bedeutsame Stadt- und Dorfkerne.[11] Viele Denkmäler und Gebäude waren vom fortschreitenden Verfall bedroht, in zahlreichen Einrichtungen gab es einen problematischen Personalbestand, betriebliche Kulturangebote (Bibliotheken und Kulturhäuser) sowie die meist von der FDJ betreuten und kontrollierten Jugendclubs hatten ihre Träger verloren und wurden kurzfristig aufgelöst.

Trotz mancher unerfüllter Erwartungen ist die Bilanz der mit dem Einigungsvertrag verbundenen Konsolidierungsmaßnahmen respektabel. Von 1991 bis 1994 hat der Bund rund 3,3 Mrd. DM zur Finanzierung von kulturellen Sonderprogrammen bereitgestellt. Das im Vordergrund stehende „Substanzerhaltungsprogramm“ (für das etwa zwei Drittel aller Mittel bestimmt waren) sollte Einrichtungen sichern, die schon zuvor bestanden hatten, das „Infrastrukturprogramm“ richtete sich auf die Modernisierung und förderte verschiedene Aktivitäten in den Bereichen Kunst und Kultur. Für den Erhalt historischer Stadt- und Dorfkerne sowie für die Renovierung von Denkmälern hat der Bund zwischen 1991 und 1997 insgesamt rund 2,3 Mrd. DM bereitgestellt.[12]

Nachdem 1995 der Bund-Länder-Finanzausgleich in Kraft getreten ist, der die Finanzausstattung der neuen Länder verbessert hat, beteiligt sich der Bund seit 1. Januar 1995 im Wesentlichen nur noch mit zusätzlichen Mitteln an der Förderung national bedeutsamer Kultureinrichtungen, den so genannten „Leuchttürmen“, die in einem erstmals 2001 erschienenen „Blaubuch“ registriert sind. Die Liste umfasst derzeit 20 Einrichtungen: Ihre Auswahl wird durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien in Abstimmung mit den Kulturministern der neuen Länder vorgenommen. Dazu zählen die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, die Staatlichen Kunstsammlungen und das Deutsche Hygiene-Museum in  Dresden, das Bach-Archiv, das Museum der bildenden Künste und das Grassi-Museum in Leipzig, die Kunstsammlungen Chemnitz, das Lindenau-Museum in Altenburg, die Staatliche Galerie Moritz-burg, die Franckeschen Stiftungen und das Händel-Haus in Halle, das Bauhaus Dessau und das Dessau-Wörlitzer Gartenreich, die Stiftung Weimarer Klassik, die Stiftung Luthergedenkstätten in Wittenberg und Eisleben,  die Wartburg-Stiftung in Eisenach, die Mecklenburgischen Kunstsammlungen, Schlösser und Gärten, die Fürst-Pückler-Parkanlagen und Schlösser in Bad Muskau und Branitz und das Deutsche Meeresmuseum in Stralsund, Europas museum des Jahres 2010. „Leuchttürme können mit bis zu 50 Prozent der Personal- und Sach- bzw. Investitionskosten aus Bundesmitteln finanziert werden.

Der Hauptstadtvertrag sicherte Berlin seit 1996 eine Kulturförderung von 420 Mio. DM jährlich zu. Da dieser Vertrag Ende 1999 ausgelaufen ist, besteht bis heute keine verbindliche gesetzliche Regelung für die finanzielle Förderung der Kultur in Berlin durch den Bund. Allerdings hat seit 1. September 2006 der neu gefasste Artikel 22 GG festgelegt, dass die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt Aufgabe des Bundes ist. Das Nähere wird einem Bundesgesetz vorbehalten, das noch nicht erlassen worden ist, sodass sich die Zuweisung von Finanzmitteln des Bundes an das Land Berlin bisher weiter auf Einzelvereinbarungen stützt. Nach Angaben der Bundesregierung bewegten sich die Kulturausgaben des Bundes in Berlin in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts zwischen rund 300.00 Mio. (2001) und knapp 360.000 Mio. Euro (2008).[13] Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ konstatiert Ende 2007: „Kultur in der Hauptstadt zielt nicht auf repräsentative Staatskultur. Die kulturellen Institutionen Berlins sind vielmehr Podien ästhetisch begründeter Weltoffenheit.“[14]

Akademie der Künste und PEN

Auf institutioneller Ebene haben die Protagonisten des deutsch-deutschen Kulturstreits ihren Dissens erst nach Jahren schlichten können. Nach schwierigen Diskussionen, an denen sich der Ostberliner Akademiepräsident Heiner Müller mit der Idee einer Europäischen Akademie engagiert beteiligt hatte, konnte 1993 nach einer komplizierten administrativen Prozedur die Akademie der Künste Berlin-Brandenburg gegründet wer-den, die aus den Akademien der Künste in Ost- und West-Berlin hervorgegangen ist. Die Akademie hat auch die wertvollen Archivbestände übernommen, die in der Akademie der Künste der DDR vorhanden waren, seit Januar 2001 werden dort zudem die Archivalien des PEN-Zentrums DDR aufbewahrt.

Weit schwieriger gestaltete sich die Zusammenführung der beiden deutschen PEN-Zentren. Die Diskussion um Verstrickung von Autoren und Verlegern aus der DDR in die Mechanismen des Überwachungsstaates führte zu anhaltenden Konfron-tationen, die erst durch Joachim Walthers ernüchternde, ebenso materialreiche wie abgewogene Darstellung zum „Sicherungsbereich Literatur“ (1996) eine klärende Beruhigung finden sollte. Die Aufrechterhaltung der PEN-Spaltung, die 1951 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erfolgt war, wurde nicht nur im Ausland als absurd empfunden. Mehr als 60 Mitglieder des West-PEN protestierten gegen die abnorme Situation, indem sie sich 1995 auch in den Ost-PEN aufnehmen ließen, darunter Gräfin Dönhoff, Walter Jens, Peter Rühmkorf, Klaus Staeck und der Wittenberger Friedrich Schorlemmer, der dem PEN-Zentrum Bundesrepublik Deutschland seit 1991 angehörte und 1993 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhhandels ausgezeichnet worden war. Es sollte noch langer Debatten bedürfen, ehe am 30. Oktober 1998 schließlich die Vereinigung gelang: Als versöhnliche Geste und aus Respekt vor seiner politischen Integrität wurde Christoph Hein zum ersten Präsidenten des vereinigten PEN-Zentrums Deutschland gewählt, dem 2002 Johano Strasser folgte. Mit Christoph wurde ein Schriftsteller gewürdigt, der in seinen Büchern aus den letzten Jahren nicht nur Kindheitserinnerungen an ein zerrissenes Land beschworen hat („Von allem Anfang an“, 1997), sondern sich auch in seinem Roman Willenbrock“ (2000) als Chronist einer zwiespältigen deutschen Gegenwart erweist.

Gebaute Kultur

Dass sich Kultur auch in wichtigen Bauwerken und Architekturensembles öffentlichkeitswirksam darstellt, hat sich in den Jahren seit der deutschen Vereinigung an verschiedenenen Beispielen eindrucksvoll gezeigt. Die Neugestaltung der Berliner Museumsinsel, die seit 1993 durch drei Masterpläne projektiert und fortgeschrieben wurde, an denen der Londoner Architekt David Chipperfield maßgeblich beteiligt war, hat neben der vollständigen Sanierung aller erhaltenen Gebäude vor allem durch die Wiederherstellung des Neuen Museums, das Ende Oktober 2009 für das Publikum eröffnet worden ist, weltweite Anerkennung gefunden.

Vor allem die Wiedererrichtung der Dresdner Frauenkirche hat gezeigt, welche Bedeutung Architekturdenkmäler als Faktor einer gesellschaftlichen Identitätsbildung haben können. Ein Wiederaufbau der verstörenden Ruine, die zu DDR-Zeiten im Zentrum der Elbmetropole als Mahnmal erhalten worden war, wurde schon seit 1985 nach der Eröffnung der Semperoper in der Langzeitplanung erwogen. Doch erst der „Ruf aus Dresden“, der am 12. Februrar 1990 die Menschen in aller Welt mobilisieren sollte, mit dem Wiederaufbau ein Zeichen des Friedenswillens zu setzen, brachte einen Prozess in Gang, der über den Wiederaufbaubeschluss der sächsischen Landesynode (März 1991), Grundsteinlegung (Mai 1994) und Baubeginn (1996) in einem Zeitraum von knapp zehn Jahren mit der Weihe des einzigartigen Bauwerks von George Bähr am 30. Oktober 2005 seinen kuppelgekrönten Abschluss fand. Die Gesamtkosten des Wiederaufbaus betrugen rund 180 Mio. Euro. Es ist ein beispielloser Vorgang, dass von dieser Gesamtsumme nahezu zwei Drittel (etwa 115 Mio. Euro) durch Spenden aufgebracht worden sind.

Weitere ermutigende Initiativen stellten wichtige Neugründungen von Museen dar. Bereits 1990 wurde die von Klaus Werner initiierte Galerie für Zeitgenössische Kunst  im Rahmen einer gesamtdeutschen Stiftungsinitiative durch einen Förderkreis ins Leben gerufen, sie hat 1998 in unmittelbarer Nähe der Hochschule für Graphik und Buchkunst ihr endgültiges Domizil gefunden. Im gleichen Jahr, in dem in Bonn das Haus der Geschichte eröffnet wurde (1994), konnte in Leipzig die Aus-stellung „Zum Herbst 89. Demokratische Bewegung in der DDR“ als erstes Arbeitsergebnis einer Projektgruppe präsentiert werden, die 1999 als Zeitgeschichtliches Forum Leipzig im Rahmen der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit den beiden Standorten Bonn und Berlin eigene Ausstellungsräume eröffnet hat. Das Zeitgeschichtliche Forum hat im letzten Jahrzehnt verschiedene wichtige kulturhistorische Ausstellungen  präsentiert, die stets durch eine gesamt-deutsche Perspektive bestimmt waren. Der erste und bedeutendste Museumsneubau in den ostdeutschen Bundes-ländern wurde in Leipzig errichtet. Das Museum für bildende Künste am Augustusplatz war 1943 zerstört worden, seit 1952 hatten die Bestände der bedeutenden Bürgersammlung ihren Platz im Reichsgericht gefunden, das sie 1997 verlassen mussten, weil hier das Bundesverwaltungsgericht seinen Sitz erhielt. Der quaderförmige neue Museumsbau auf dem Sachsenplatz konnte am 4. Dezember 2004 eröffnet werden. Zu den Kosten von rund 74,5 Mio. Euro hat der Bund etwa 30 Mio. beigetragen.

Nicht immer ist es jedoch gelungen, mit einem Architekturprojekt zur kulturellen Identitätsbildung beizutragen. Dies wird deutlich, wenn man den Blick auf die Fata morgana des Berliner Stadtschlosses richtet, das sich seit einem parlamentarischen Wiederaufbaubeschluss 2002 und dem vollständigen Abriss des Palastes der Republik nun auf unab-sehbare Frist  als die größte kulturelle Leerstelle der deutschen Demokratie zu erweisen droht. Der aktuelle Sparzwang hat die Bundesregierung veranlasst, den für dieses Jahr geplanten Baubeginn für das Projekt, das die Barock-Fassade mit einer modernen Innengestaltung auf der Grundlage eines Entwurfs des italienischen Architekten Francesco Stella  verbinden sollte, zunächst bis zum Jahr 2014 zurückzustellen, um damit die in Höhe von 552 Mio. Euro vorgesehenen Aufwendungen des Bundes einzusparen. Wie zurückhaltend die Bevölkerung auf den vom Bundestag seinerzeit mit breiter Mehrheit gestützten Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses auf den zumal von vielen Ostdeutschen kritisierten Abriss des Palastes der Republik reagierte, zeigt eine aktuelle Forsa-Umfrage, in der 80 Prozent der Berliner erklärten, sie könnten auf das Schloss verzichten. Die Entwicklung eines ehrgeizigen Vorhabens, das inhaltlich unter dem Rubrum „Humboldt-Forum“ in der Mitte der Stadt, der Museumsinsel benachbart, einen Dialog der Weltkulturen in Szene setzen sollte, blieb ohne klare Kontur und nachhaltige Resonanz. Bezeichnend ist auch, dass von den für die Baukosten veranschlagten 80 Mio. Spenden (die ausschließlich für die Gestaltung der Barock-Fassade aufgewendet werden sollten) bisher lediglich ein knappes Fünftel eingeworben werden konnte.

Film – Literatur- bildende Kunst

Schon 1990 waren Stimmen laut geworden, die den Roman zur Wiedervereinigung forderten – eine merkwürdige Verkennung des Vermögens von Schriftstellern, das aktuelle Geschehen und die damit verbundenen mentalen Entwicklungsprozesse künstlerisch synchron zu gestalten. Allerdings ist es Autoren wie Günter de Bruyn[15] oder Monika Maron[16] in pointierten Essays gelungen, Mentalitäten und Habitusformen zu analysieren, die sich in der ostdeutschen Gesellschaft unter den Bedingungen der SED-Diktatur entwickelt haben. Das gilt auch für die vor allem im Westen viel beachteten sozialpsychologischen Studien von Hans-Joachim Maaz[17] und Annette Simon[18] oder für die soziologischen Analysen von Wolfram Engler[19], in denen er den Mentalitätswandel von der „arbeiterlichen Gesellschaft“ in der DDR zur „Transfergesellschaft“ elaboriert.  Dabei versteht er die Ostdeutschen in den Widersprüchen einer Gesellschaft, der die Arbeit auszugehen droht, als neue Avantgarde, weil sie von den Wirkungen massenhafter Arbeitslosigkeit besonders betroffen ist und damit herausgefordert wird, einen neuen Lebensstil zu entwickeln.

Es waren vor allem Filme, die für ein breites Publikum die Spannweite der Rückblicke auf einen untergegangenen Staat mit einer in den Westen katapultierten Gesellschaft gezeigt haben.Diese bilden besonders ermutigende Beispiele für ein Zusammenwirken von Regissseuren und Schauspielern aus dem ehemals geteilten Land. Thomas Brussig hat mit seiner surrealen Mauerfall-Groteske „Helden wie wir“ (1995) und seiner das Leben ostdeutscher Jugendlicher am Rande der Mauer liebevoll-ironisch schildernden Erzählung „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (1999), von Leander Haußmann kongenial verfilmt, mit Witz und ironischer Distanz auf die DDR zurückgeblickt. Doch erst  Wolfgang Becker ist es mit seinem Film „Good Bye, Lenin!“ (2003) gelungen, in einer grotesken Geschichte die Widersprüche aufzudecken, die sich für Ost-deutsche der älteren Generation zwischen dem enttäuschten Glauben an eine sozialistische Utopie mit der Realität einer sklerotischen Diktatur ergeben haben. Statt nostalgische Gefühle zu beleben, löste die Geschichte befreiendes Lachen aus. Der Film wurde von mehr als 6 Millionen Besuchern gesehen, mit deutschen Auszeichnungen überschüttet und mit europäischen Filmpreisen gewürdigt. Diesen Erfolg hat Florian Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ (2006) noch übertroffen, der  – zwischen beklemmender Entlarvung der Täter und Empathie mit den Opfern changierend – das Drama eines Konflikts zwischen dem Stasi-Apparat und der Ostberliner Kulturszene schildert. Das Langfilmdebüt Henckel von Donnersmarcks fand auch international große Beachtung, neben dem Europäischen Filmpreis errang es den Oscar für den besten ausländischen Film. Es war das erste Filmwerk, das auch die dämonischen Seiten der DDR, die Beklemmungen des Überwachungssstaates thematisiert hat. Das mag ein Grund sein, dass die Besucherzahl in den Kinos mit etwa 2,3 Mio. deutlich hinter „Good Bye, Lenin!“ zurückgeblieben ist.

In der Literatur sind  die Bücher von Günter Grass „Ein weites Feld“ (1995), von Ingo Schulze „Simple Storys“ (1998), Uwe Tellkamp „Der Turm“ (2008) und Christa Wolfs eben erschienene „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ signifikante Beispiele für die künstlerische Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die abgeschlossen scheint, aber nicht abgegolten ist. Christa Wolfs neues Buch fokussiert einen Studienaufenthalt als Scholar des Getty Center in Santa Monica 1992/93. Die Erzählerin verknüpft autobiografische Erinnerungen mit zeithistorischen Reminiszenzen und öffnet in fiktionalen Passagen Dialogräume, in denen widerspruchsvolle Erfahrungen vielfältiger situationsgebundener Lebensgeschichten facettenreich reflektiert werden. Es ist eine emphatische Elegie, desillusioniert vom Utopieverlust, doch nicht ohne Selbstermutigung.

Ein bemerkenswerter Vorgang war die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an den jungen, aus Dresden stammenden Lyriker und Essayisten Durs Grünbein im Jahr 1995. Der 1962 geborenen Autor, der 1985 nach Ost-Berlin gegangen war, hatte in seinem durch Heiner Müller vermittelten literarischen Debüt im renommierten Suhrkamp Verlag („Grauzone morgens“, 1988) die beklemmende Atmosphäre einer niedergehenden Diktatur beschworen, sich in seinen späteren Werken aber zunehmend auf bis in die Antike zurückweisende historische Horizonte bezogen. Grünbein steht für viele Autoren der jungen Generation, die sich in ihrem künstlerischen Schaffen nicht durch die Last der Vergangenheit einengen lassen wollen. Sein Gedicht-Zyklus „Europa nach dem letzten Regen“ (1996) enthält die Zeilen: „Zerrissen ist das Blatt vorm Mund, Geschichte – /Geht mir der Staubwind wirklich nah/der alles auslöscht?“.[20] Eine vermeintliche Abkehr von der Zeitgenossenschaft hat sich bei Grünbein erst in den letzten Jahren wieder in eine Annäherung an aktuelle Befindlichkeiten der vereinten Deutschen gewandelt, wobei er im Oktober 2009 nostalgische Wehleidigkeiten im Osten Deutschlands  in Dreden heftig attackiert hat.[21]

Nur wenige Autoren haben den Versuch, selbst erlebte Geschichte in ihrem Werk zu erfassen, so eindringlich unternommen wie Volker Braun (1939 in Dresden geboren), der fünf Jahre nach Durs Grünbein 2000 den Büchner-Preis erhielt.  Er hat das bleierne Klima beschrieben, das die Endzeit der DDR geprägt hat und ebenso die vom Utopieverlust bestimmte Mischung aus Melancholie und Resignation, die „Nach dem Massaker der Illusionen“ erwächst, wie ein Gedicht von 1996 überschrieben ist.[22] Volker Braun ist der Chronist mentaler Prozesse, in denen die Widersprüche zwischen Freiheit und Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Abhängigkeit, Eigen-Sinn und Ohnmacht in poetischen Bildern zum Vorschein kommen, Nähe und Ferne erkennen lassen, die Deutsche in Ost und West verbindet und trennt.

In der bildenden Kunst sind die spektakulären Erfolge von Künstlern der Neuen Leipziger Schule, unter denen Neo Rauch herausragt, besonders aufschlussreich für Impulse, die sich aus dem Zusammenprall ästhetischer Konzepte nach der Vereinigung ergeben haben. Unter den Leipziger Kunststudenten der 1990er Jahre, die auch international starke Beachtung gefunden haben, sind mit David Schnell, Matthias Weischer oder Tim Eitel ebenso junge Westdeutsche wie Künstler ostdeutscher Herkunft. Was sie verbindet ist das Anknüpfen an eine malerische Perfektion, die für die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst charkteristisch war. Das vielleicht wichtigste Ergebnis im kulturellen Einigungsprozess dürfte in der Tatsache bestehen, dass sich in den jüngeren Generationen, die die Vereinigung erst am Beginn ihres dritten Lebensjahrzehnts erleben konnten, die Unterschiede zwischen Ost und West  nahezu vollständig verwischt, ja aufgehoben haben. Dieser Neuanfang ist ein Zeichen der Ermutigung für eine Zukunft, in der wir das kulturelle Erbe der Vergangenheit zunehmend deutlicher als gemeinsamen Erinnerungsraum erkennen.

 


 

Anmerkungen

[1] Otto Grotewohl, Schiller – Wir sind ein Volk. Eine Rede, Berlin 1955.

[2] Wir bewahren Schillers humanistisches Erbe für die ganze Nation. Rede des Ministers für Kultur, Alexander Abusch, auf dem Festakt zur Schiller-Ehrung in Weimar, in: Neues Deutschland, 11.1.1959.

[3] Hannelore Ortmann, Die nationale Bedeutung der sozialistischen Kulturpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Einheit 1960, H. 4, S.1733.

[4] Zit. nach Adolf Endler, „Alles ist im Untergrund obenauf, einmannfrei…“Ausgewählte Beiträge aus der Zeitschrift KONTEXT 1-7. Ausgewählt und herausgegeben von Torsten Metelka, Berlin 1990, S. 186.

[5] Eduard Beaucamp, Der verstrickte Künstler. Wider die Legende von der unbefleckten Avantgarde, Köln 1998, S. 94.

[6 Vgl. dazu Rüdiger Thomas, Wie sich die Bilder gleichen. Ein Rückblick auf den deutsch-deutschen Literatur- und Bilderstreit, in. Deutschland Archiv  2007, H.5, S.872-882.

[7] „Ein Meister, der Talent verschmäht“. Interview von Axel Hecht und Alfred Welti mit Georg Baselitz, in: art 6 (1990), S.70.

[8] Ein anregender Beitrag ist dazu Norbert Niemann/Eberhard Rathgeb (Hrsg.),Inventur. Deutsches Lesebuch 1945-2003, München Wien 2003.

[9] Vgl. dazu Eckhart Gillen, Die Kunstszenen der DDR als Familienbande. Über Verrat, Anpassung und Widerstand in einem protestantischen Land, in: Deutschland Archiv 2010, H. 2, S. 315f.

[10] Zit. nach: Gabriele Muschter, Kulturentwicklung in den neuen Bundesländern, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte, Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1993, S. 421f. Im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ vom Dezember 2007 heißt es dann deutlich positiver akzentuiert: „Künstler und Kulturschaffende in der DDR haben in der Zeit der deutschen Teilung einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt und zur Weiterentwicklung von Kunst und Kultur in Deutschland geleistet.“ (Drucksache 16/7000, S. 202.)

[11] Ebd.,S.421.

[12] Rüdiger Thomas, „Sich ein Bild machen“. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Kultur, in: Wolfgang Thierse/Ilse Spittmann-Rühle/Johannes L. Kuppe (Hrsg.) Zehn Jahre Deutsche Einheit, Opladen 2000, S. 248.

[13] Vgl.Antwort der Bundessregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP, Drucksache 16/13348 (12.06.2009).

[14] Drucksache 16/7000, S. 203.

[15] Günter de Bruyn, Jubelschreie, Trauergesänge, Frankfurt am Main 1991; Ders., Deutsche Zustände, Frankfurt am Main 1999.

[16] Monika Maron, Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit 1989-2009, Frankfurt am Main 2010.

[17] Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990.

[18] Annette Simon, Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu erklären; Dies., „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ – Versuch über ostdeutsche Identitäten, erw. Neuausg., Gießen 2009.

[19] Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999; Ders., Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002.

[20] In: Durs Grünbein, Nach den Satiren, Frankfurt am Main 1999, S. 150.

[21] Durs Grünbein, Unfreiheit. Rede in der Frauenkirche zu Dresden am 6. Oktober 2009, in: Deutschland Archiv 2009, H. 6, S. 983-992.

[22] In: Volker Braun, Tumulus, Frankfurt am Main 1999, S. 28.

 

In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 30-31/2010, 26. Juli 2010, S. 33-40.

http://www.bpb.de/apuz/32614/deutsche-kultur-im-einigungsprozess?p=all

 

© Rüdiger Thomas

 

Meine Begegnungen mit Walter Friedrich

2009                                                                                                                                                                 Meine Begegnungen mit Walter Friedrich

Meine erste persönliche Begegnung mit Walter Friedrich steht mir noch heute – da fast 20 Jahre vergangen sind – lebhaft vor Augen. Zum 5. Soziologiekongress, der vom 6. bis 8. Februar 1990 stattfand, war ich mit großer Neugier nach Ostberlin gereist, wo ich auf Einladung von Artur Meier, damals auch Vizepräsident der ISA, im Gästehaus der Humboldt-Universität logieren durfte. Was zuvor undenkbar schien, war plötzlich selbstverständlich geworden. Seinerzeit war ich fast jede Woche in Berlin, oft im Haus der Demokratie in der Friedrichstraße, zuerst schon am 10. November, am Tag nach dem Mauerfall, als die Bundeszentrale für politische Bildung, deren Publikationsabteilung ich leitete, im Reichstagsgebäude einen Kongress veranstaltete, der auf die doppelte Staats-gründung vor vierzig Jahren zurückblickte und nun die ersten Anzeichen für das Ende der deutschen Teilung ahnen ließ. Ich höre noch immer Willy Brandts Worte auf der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg: „Jetzt muss zusammenwachsen, was zusammengehört.“

Knapp drei Monate später stand ich erwartungsvoll in der Kongresshalle und freute mich, endlich Menschen kennenzulernen, von denen ich viel gelesen hatte, ohne sie je gesprochen zu haben. Das erschien vermutlich nicht nur mir reichlich absurd. Denn seit Anfang der siebziger Jahre hatten wir im Kölner Ostkolleg vielfältige Wissenschaftskontakte nach Osteuropa anknüpfen können, zuerst nach Polen, wo mich mit Wladyslaw Markiewicz bald eine Freundschaft verband, später auch in die Sowjetunion, wo ich Nikolaj S. Mansurow, kennen- und schätzenlernte und wohin ich schon 1981 zu einem Studienaufenthalt an das Akademieinstitut für Soziologie eingeladen wurde. Es war eine paradoxe Situation: Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern, die zum bei uns „Ostblock“ genannten Machtbereich der Sowjetunion gehörten, blieben die Türen zu den Forschungseinrichtungen in der DDR für die westdeutschen Wissenschaftler weitestgehend verschlossen. Das war umso enttäuschender, als wir zumindest Teile ihres Forschungsertrages aus publizierten Studien kannten (und ebenso über die nicht publizierten Ergebnisse rätselten).

Schon in den sechziger Jahren – als sich die Soziologie in der DDR als eigenständige Disziplin gerade erst zu formieren begonnen hatte – galt unser besonderes Interesse dem Leipziger ZIJ, dessen Publikationen wir westdeutschen DDR-Forscher allesamt als unentbehrliche Quelle genutzt haben. Vor allem die Intervallstudien des ZIJ  haben besondere Beachtung gefunden, denn sie waren – auch im internationalen Vergleich –  ein innovativer Beitrag zur Jugendforschung. Allerdings war uns auch bewusst, dass die administrativ gesteuerte selektive Veröffentlichungspraxis in der DDR zur Folge hatte, dass politisch brisante Forschungsresultate oft unter Verschluss gehalten werden mussten. Dass es solche Erkenntnisse gab, auf die sich unsere besondere Neugier richtete, war Walter Friedrichs listigem Einfallsreichtum zu danken; dass wir dazu keinen Zugang hatten, konnte er nicht verhindern; dass er sie aufbewahrt hat, sollte sich später als beträchtlicher Gewinn erweisen.

Wir alle, die sich mit der Entwicklung der Gesellschaft in der DDR befassten, kannten Walter Friedrich als einen wichtigen Promotor der Soziologie in der DDR, und doch waren ihm viele von uns niemals persönlich begegnet. Endlich war der Bann gebrochen, in einer  nahezu surrealen Situation. Denn der 5. Soziologiekongress war ja noch in der Verantwortung von Rudi Weidig geplant worden, bevor sich der fundamentale Umbruch absehen ließ, den die DDR im Herbst 1989 auch unter mutiger Mitwirkung Walter Friedrichs erlebte. In wenigen Wochen wurden Rahmenthema und Programm des Kongresses geändert, und mir bleiben die Turbulenzen unvergessen, als auf einer Abendsitzung versucht wurde, einen neuen unabhängigen Soziologenverband zu gründen.

In diesem Spannungsfeld zwischen Chaos und Innovation wechselte ich von den Plenarveranstaltungen in der Kongresshalle zu den Sektionen im Haus des Lehrers, wo ich Walter Friedrich endlich zum ersten Mal begegnete. Ich traf ihn sogleich mit einem konkreten Anliegen. Als Redaktionsleiter der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ hatte ich im Vorfeld des XII. World Congress of Sociology, der vom 9. bis 13. Juli 1990 in Madrid stattfinden würde, in einem Sondierungsgespräch mit Artur Meier eine Ausgabe projektiert, in der sich Soziologen aus der DDR mit grundlegenden Beiträgen präsentieren sollten. Walter Friedrich und Hildegard Maria Nickel waren dabei als meine wichtigsten Ansprechpartner vor-gesehen. Und die Gespräche verliefen so mühelos und intensiv, vertrauensvoll und beinahe schon freundschaftlich, als hätten wir uns seit Jahren gekannt. Das Ergebnis dieser inspirierenden, ja elektrisierenden Kontaktaufnahmen ist dokumentiert. Bereits Mitte April erschien „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (mit einer Auflage von 110.000 Exemplaren) mit vier Beiträgen von Soziologen aus der DDR, darunter Walter Friedrichs Studie „Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR“ – eine eindrucksvoll kondensierte Forschungsbilanz aus der Werkstatt des ZIJ, ein Kunststück, in wenigen Wochen entstanden, das ein vielzitierter Klassiker werden sollte.

Seither haben wir uns viele Jahre bei fast jedem meiner Leipzig-Besuche (ich habe 1958 an der Thomasschule mein Abitur gemacht) getroffen, zunächst im ZIJ, später in seiner Wohnung nahe beim Johannapark. In der Stallbaumstraße wurde ich nicht nur mit Informationen und unveröffentlichten Materialien reich beschenkt. Ich habe dort auch einen Institutsdirektor erlebt, der auf liebenswürdige Weise alle meine Wünsche erfüllte, mit jenen Mitarbeitern bekannt zu werden, deren Forschungsgebiete mich besonders interessiert hatten. Das galt vor allem für die Kultursoziologie, und so verdanke ich Walter Friedrich auch meine erste Begegnung mit Bernd Lindner, aus der eine andauernde Freundschaft werden sollte.

Ein kleiner Nachtrag zum deutschen Wissenschaftsdialog soll meinen Gruß an Walter Friedrich beschließen. Aus dem illustren Kreis des ZIJ habe ich als ersten Gustav-Wilhelm Bathke bereits im April 1988 in dem kleinen saarländischen Ort Nonnweiler getroffen. Dort begegneten wir uns auf einer Tagung der Europäischen Akademie Otzenhausen zum Thema „Sozial-struktur und sozialer Wandel in der DDR“.

Wie sie zustande kam, ist eine kuriose Geschichte: Mein Freund Heiner Timmermann, Studienleiter der Akademie, hatte eine Verbindung zu Erich Honecker hergestellt, indem er dem bekennenden Saarländer einen Artikel aus der Zeitschrift des örtlichen Geschichtsvereins über die Familie Honecker geschickt hatte. Die freundliche Antwort ermutigte ihn, Honecker zu bitten, eine Reisegruppe von Schülern, die Ostberlin besuchen wollte, zu einem Gespräch zu empfangen. Diese Begegnung, über die schließlich sogar vom DDR-Fernsehen berichtet wurde, öffnete die Türen für einen verwegenen Plan, den wir gemeinsam ausheckten.

Ich schlug vor, Manfred Lötsch, Jutta Gysi, Gunnar Winkler und Walter Friedrich zu einer Tagung „Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR“ nach Otzenhausen einzuladen. Kaum jemand glaubte an unseren Erfolg, der sich relativ mühelos einstellte. Lötsch berichtete uns, wie verwundert er war, als die Einladung bei ihm eintraf und noch mehr, als er für seine Teilnahme grünes Licht erhielt. Vor allem der Beitrag von Manfred Lötsch schlug hohe Wellen und löste einen spektakulären Kommentar in der FAZ aus. Ein Sammelband, der noch 1988 erschien, dokumentiert die Referate der Tagung, darunter den Beitrag von Gustav-Wilhelm Bathke „Sozialstruktur – Soziale Herkunft – Persönlichkeitsentwicklung“. So bin ich indirekt mit Walter Friedrich schon fast zwei Jahre vor unserer persönlichen Begegnung in Verbindung gekommen, als sein engagierter Sendbote aus dem ZIJ mir beim abendlichen Zusammensein von den altruistischen Tugenden sowie dem strategischen Geschick seines Chefs ebenso wie von der kreativen Atmosphäre im ZIJ berichtet hat.

Lieber Walter Friedrich, schade, dass Sie nicht schon damals dabei sein konnten. Der Tagungsband soll nun meine kleine Erinnerung als dankbares Geschenk begleiten.

© Rüdiger Thomas

In: Walter Friedrich zum 80. Geburtstag, Gesellschaft für Jugend- und Sozialforschung, Leipzig 2009, S. 203-205.

 

Lebensmuster – Wege zu Christa Wolf

Lebensmuster – Wege zu Christa Wolf

Text als Word-Dokument downloaden: 2009_Lebensmuster-Wege_zu_Christa_Wolf.doc

2009

Lebensmuster – Wege zu Christa Wolf

Wo die Politik Machtworte spricht, sucht die Kunst nach dem authentischen Ausdruck, der sich hinter den Fassaden der Propaganda in den Schicksalen der Menschen verbirgt. Christa Wolf hat in ihrem Werk, das einen Zeitraum von nahezu einem halben Jahrhundert umfasst, diese existenzielle Erfahrung auf vielfältige Weise gestaltet. Sie hat die Konfrontationen und Widersprüche, die Krisen und Umbrüche, die das vergangene Jahrhundert geprägt haben, als Zeitzeugin erfahren und eindringlich zur Sprache gebracht. Sie hat sich im Erfahrungsraum der Geschichte, der ihr Leben bestimmt hat, selbst verändert und ist sich dabei in ihrem Werk auf der Suche nach „subjektiver Authentizität“[1] treu geblieben.

Als „öffentliche Person“ hat sie in der DDR eine Bedeutung erlangt wie unter den Schriftstellern in der Bundesrepublik nur Heinrich Böll und Günter Grass. Sie alle haben den Beifall der Mächtigen nur selten gefunden, waren sie doch auf der Seite der kleinen Leute, jener stillen Helden, die gegen den Verfügungsanspruch politischer Ordnungssysteme nach Auswegen eigensinniger Selbstbehauptung suchten und sich nicht damit abfinden mochten, historische Prozesse als bloße Objekte zu erfahren, sondern durch eingreifendes Denken sich selbst als Person zu entdecken.

Fluchtversuche

Als Christa Wolf mit ihrer Erzählung „Der geteilte Himmel“ im Herbst 1963 in ganz Deutschland Aufsehen erregte, trennte die Berliner Mauer nicht nur zwei Staaten, sondern blockierte auch die Begegnung zwischen den Menschen. Dieses Thema bestimmt Christa Wolfs Geschichte von Rita Seidel und Manfred Herrfurth, die sich zur Darstellung eines politischen Konflikts und einer schmerzlichen persönlichen Entscheidung ausweitet: Der begabte Chemiker Manfred kapituliert Monate vor dem Mauerbau vor den Hemmnissen und Widerständen bornierter Funktionäre und wählt während eines Kongressaufenthaltes die Flucht nach West-Berlin.

Das Gespräch mit Manfred, das Rita am Sonntag vor dem 13. August 1961 zu ihm nach West-Berlin reisen lässt, handelt von der Traurigkeit des Abschiednehmens, aber auch von der Zerrissenheit eines Landes, das diesen Zwiespalt der Gefühle bedingt. Als Manfred Ritas Heimatsehnsucht spürt, klingt das deutsche Dilemma an: „Hör bloß mal ein paar Namen: Schwarzwald, Rhein, Bodensee. Sagt dir das nichts? Ist das nicht auch Deutschland? (…) Ist es nicht unnatürlich, wenn du gar keine Sehnsucht danach hast?“ Von Rita heißt es, „die Sehnsucht nach allen Orten, an denen er von jetzt an sein würde, vernichtete sie fast. Wer auf der Welt hatte das Recht, einen Menschen – und sei es einen einzigen! – vor solche Wahl zu stellen, die, wie immer er sich entschied, ein Stück von ihm forderte?“[2]

Der Himmel, der dem Buch den Titel gibt – „Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer“ – wird zur Metapher für getrennte, unüberbrückbare Lebenswelten, und Rita erkennt: „Der Himmel teilt sich zuallererst.“[3] Die bittere Erzählung vom „Zueinanderfinden und Auseinandergehen“ (Dieter Schlenstedt) wirkt gerade deshalb so glaubwürdig, weil Christa Wolf Ritas Trennungsschmerz so eindringlich beschreibt. Wenn sie sich doch für das Bleiben in ihrer Heimat entscheidet, schließlich die Angst verliert, dass „sie leer ausgehen könnte beim Verteilen der Freundlichkeit“, kann das die Trauer nicht auflösen, die als Grundmelodie diese Geschichte begleitet.

Weil Christa Wolf im Waggonwerk Ammendorf (bei Halle) einige Monate mit einer Brigade zusammengearbeitet und dort auch gemeinsam mit ihrem Mann einen „Zirkel schreibender Arbeiter“ geleitet hatte, galt „Der geteilte Himmel“ für die Kulturfunktionäre der SED als Exempel für den von Walter Ulbricht 1959 propagierten Bitterfelder Weg, der Literatur und Arbeits-welt miteinander verbinden sollte. Dieses Engagement war auf dem VI. Parteitag der SED bereits im Januar 1963 mit der Aufnahme als Kandidat ins Zentralkomitee (ZK) der SED belohnt worden. Mit diesem Rückhalt wagt sie sich in den beiden folgenden Jahren auf vermintes politisches Terrain. Auf einem internationalen Schriftstellerkolloquium in Frankfurt/Main greift Christa Wolf das Thema der Teilung erneut auf. Sie erinnert sich, dass sie in der Goethestadt nach einer Lesung aus dem „Geteilten Himmel“ gefragt wurde, ob sie die Verhältnisse in der DDR nicht doch grundsätzlich kritisiere, sich aber nicht offen äußern könne: „In diesem Moment dachte ich an den Ärger, den ich zu Hause habe. Ich dachte daran, daß ich mich oft über Engstirnigkeit ärgere – ärgere ist ein sehr schwaches Wort -, über Gängelei, Banausentum, über falsche Anforderungen, die an Literatur gestellt werden, über falsches Lob, falschen Tadel, mangelnde Weltoffenheit, über mangelnde Veröffentlichung von Büchern, deren Veröffentlichung ich für unerlässlich halte (…), und ich verteidigte, dies alles nicht vergessend, mit meiner ganzen Überzeugungskraft und Bered-samkeit in diesem Frankfurter Forum die DDR.“[4] Ist ihre Schlussfolgerung logisch oder nicht vielmehr nur psychologisch zu erklären? Man sollte sich erinnern, dass zu jener Zeit in Frankfurt der Auschwitz-Prozess stattfand, den Christa Wolf während ihres Aufenthalts auch besucht hat. Es war vor allem die Gründungslegende der DDR vom antifaschistischen Neubeginn, die ihre Wahl für den Staat der Antifaschisten trotz irritierender Erfahrungen in der damit verbundenen Erziehungsdiktatur erklärbar macht.

Kahlschlag und Selbstbehauptung

Die Reglementierungen der Künstler in der DDR, von denen Christa Wolf in Frankfurt freimütig gesprochen hatte, sollten sich 1965 massiv verschärfen. Sie richteten sich in erster Linie gegen die Filmproduktion der DEFA, von der nicht weniger als zehn Titel verboten wurden, doch waren auch Schriftsteller und bildende Künstler von den hasserfüllten Polemiken betroffen, die auf dem „Kahlschlagplenum“ des ZK der SED im Dezember 1965 unter Ulbrichts Regie vor allem von Erich Honecker und Kurt Hager vorgetragen wurden. Honecker hielt verschiedenen Schriftstellern und Filmregisseuren eine „Ideologie des spießbürgerlichen Skeptizismus ohne Ufer“ vor.  Es muss wie eine Drohung gewirkt haben, als der für Kultur zuständige ZK-Sekretär Kurt Hager unmissverständlich erklärte: „Louis Fürnberg schrieb das schöne Lied ‚Die Partei hat immer recht‘. Das gilt für die Vergangenheit, und das gilt für die Gegenwart und die Zukunft.“[5]

Die Szene, die zum Tribunal gerät, wird für Christa Wolf zu einer eindrucksvollen Mutprobe, indem sie sich in diesem aufgeheizten Klima zu Wort meldet. Sie wendet sich gegen eine engstirnige Kulturpolitik, gegen Sichtweisen, die „jede kritische Äußerung an irgendeinem Staats- oder Parteifunktionär als parteischädigend ansehen. (…) Es ist nicht richtig (…), die Schriftsteller in eine Defensive zu drängen, so daß sie immer nur beteuern können: Genossen wir sind nicht parteifeindlich.“ Mehr noch als diese Kritik an der Kulturpolitik beeindruckt ihre entschiedene Verteidigung von Werner Bräunigs Wismut-Roman „Rummelplatz“, dessen auszugsweiser Vorabdruck in der „Neuen Deutschen Literatur“ die Empörung der Parteimandarine ausgelöst hatte: „Meiner Ansicht nach zeugen diese Auszüge in der NDL nicht von antisozialistischer Haltung, wie ihm vorgeworfen wird. In diesem Punkt kann ich mich nicht einverstanden erklären. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“[6] Es kann als sicher gelten, dass ein solcher Satz in diesem Gremium niemals zuvor gefallen ist. Hier meldet sich ein Gewissen zu Wort gegen die geforderte Disziplin und Unterwerfung gegenüber einer Parteiführung, die erneut und unmissverständlich für sich reklamiert hatte, immer Recht zu haben. Das Gewissen ist Kern der persönlichen Integrität, und wer die Fähigkeit und Leidenschaft Christa Wolfs kennt, die Psyche einer Person zu erfassen, wird nicht überrascht sein, wenn sie die Erfahrung des „Kahlschlagplenums“ als entscheidende Zäsur in ihrer Biografie benennt.[7] In einem Gespräch mit Günter Gaus blickt Christa Wolf auf dieses einschneidende Ereignis 1993 noch einmal zurück: „(…) nach diesem 11. Plenum 1965 war ich sehr lange in einer tiefen Depression, in einem klinischen Sinn. Das war eine solche Kraftanstrengung, sich dort hinzustellen, daß danach einfach eine Art Einbruch kam. (…) Danach habe ich Bücher geschrie-ben und Dinge gemacht, die ich sonst nicht hätte machen können.“[8]

Selbsterkundung

Einen wesentlichen Impuls für Christa Wolfs künstlerische Entwicklung vermittelt 1966  das Werk Ingeborg Bachmanns. Auf Bachmanns programmatisches Diktum: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ reagiert sie mit dem Essay „Die zumutbare Wahrheit“, dessen Schlüsselworte „Selbstbehauptung als Prozess“ heißen.[9] So bereichert die Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur im Westen, „neben der Bachmann vor allem Enzensberger, Grass, wichtig waren Böll, Paul Celan, Max Frisch“,[10]auch erkennbar das ästhetische Konzept von Christa Wolf, deren Werk sich kaum denken lässt ohne das permanente Gespräch mit ihrem Ehemann und geistigen Partner Gerhard Wolf, mit dem sie seit 1951 verheiratet ist.[11]

„Nachdenken über Christa T.“ kann als Kulminations- und Wendepunkt in der DDR-Literatur am Ausgang der 1960er Jahre bezeichnet werden,[12]der fortan bei vielen Autoren einen unaufhaltsamen Prozess der Desillusionierung gegenüber der Emphase einer sozialistischen Aufbauromantik verstärkt. Christa T. ist, wie Christa Wolf in einer Vorbemerkung schreibt, „eine literarische Figur“, in die authentische „Zitate aus Tage-büchern, Skizzen und Briefen“ verwoben sind.[13] Unverkennbar ist, dass zwischen Christa T. und Christa Wolf viele Parallelen bestehen.[14] Christa T., Mitte Dreißig, einst Neulehrerin, dann Germanistikstudentin, Ehefrau und Mutter von drei Kindern, ist an Leukämie gestorben. Die Erzählerin blickt über einen Zeitraum von 19 Jahren (von 1944 bis 1963) auf die Geschichte eines Menschen zurück, der sich vor „schrecklich strahlenden Helden“ ebenso gefürchtet hat wie vor den „Phantasielosen“ und den „Tatsachenmenschen“. Sie war skeptisch gegen „die heftigen, sich überschlagenden Worte, die geschwungenen Fahnen, die überlauten Lieder, die hoch über unseren Köpfen im Takt klatschenden Hände. Sie hat gefühlt, wie die Worte sich zu verwandeln beginnen, wenn nicht mehr guter Glaube und Ungeschick und Übereifer sie hervorschleudern, sondern Berechnung, Schläue, Anpassungstrieb.“[15]

So hat sich Christa T. den Anforderungen gesellschaftlicher Funktionalisierung kategorisch entzogen. Stattdessen hat sie versucht, ihre „Selbstbehauptung und Selbstentdeckung“[16] im Prozess des einsamen Schreibens zu verwirklichen. Ihre literarischen Texte bilden Bruchstücke einer Spurensuche, bei der die Annäherung an die verlorene Freundin Christa T. zur kritischen Selbstbefragung der Christa W. gerät.

Eher beiläufig erfährt der aufmerksame Leser, wann eine Episode der Erzählung spielt: „im Frühsommer dreiundfünfzig“, und an anderer Stelle wird auch apostrophiert, was seinerzeit das Land erschütterte: Auf der Treppe der Humboldt-Universität fällt in einer Nacht der lakonische Satz: „Die Ordnung ist endgültig durcheinandergekommen.“[17] So erscheint alles, was Christa T. als bedrängend empfindet, nicht erst als Alptraum der Gegenwart, es ist vielmehr bereits in einer Zeit verankert, die, als das Buch herauskommt, schon viele Jahre zurückliegt. Argwöhnische Parteifunktionäre hatten die Brisanz des Buches durchaus erkannt, und die Protokollanten des Überwachungsstaates haben bereits 1965 eine desillusionierte Bemerkung Christa Wolfs von einer Parteiversammlung des Schriftstellerverbandes in Potsdam überliefert, die eine Woche vor Beginn des „Kahlschlagplenums“ stattfand: „Wenn die Kulturpolitik so weitergeht, wie sie sich gegenwärtig abzeichnet, kann ich meine ganzen Manuskripte ebenfalls verbrennen.“[18]

So weit ging die Zensurpraxis im Jahr, als die Träume von einem Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“ durch die sowjetische Okkupation der ÄŒSSR brutal ausgelöscht wurden, dann doch nicht, obwohl sich der Mitteldeutsche Verlag nachträglich von dem Buch distanziert hat und damit Christa Wolfs Wechsel zum Aufbau-Verlag bewirkte. „Nachdenken über Christa T. erschien Ende 1968 schließlich in einer verschwindend kleinen Auflage im Volksbuchhandel als „Bück-ware“. Die Irritationen, die das Buch ausgelöst hatte, fasste Max Walter Schulz auf dem VI. Schriftstellerkongress Ende Mai 1969 mit den abwehrenden Worten zusammen: „Sozialistisch-realistische Literatur verfügt weder über den inneren noch über den äußeren Auftrag, dem Individualismus auf ihrem gesellschaftlichen Gelände sonstwie schöne Denkmäler zu setzen.“[19]

Nach dem erzwungenen Rücktritt Walter Ulbrichts schlug Erich Honecker zunächst eine neue, überraschende Tonlage an. Seine Formeln von „der Breite und Vielfalt“ und von der „Suche nach neuen Formen“ die er auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 verwendete, mehr noch seine im Dezember 1971 getroffene Feststellung, es solle „keine Tabus“ geben, wurden voreilig in einer Art illusionärem Optimismus von all jenen falsch verstanden, die übersehen hatten, dass der neue Parteichef seine Avancen an die Kunstschaffenden mit einer entschiedenen Einschränkung versehen hatte: Das sollte gelten, wenn man „von der festen Position des Sozialismus ausgeht“.[20]Immerhin waren für kurze Zeit Lockerungen des rigiden Kurses, den Honecker 1965 noch selbst in erster Frontlinie verfochten hatte, erkennbar. So konnten verschiedene Bücher erscheinen, deren Veröffentlichung zuvor blockiert worden war. Dazu zählen Stefan Heyms „König David Bericht“, Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ und Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“, und 1973 wurde endlich auch Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ mit einer zweiten Auflage einem großen Leserkreis zugänglich.

Die Gegenwart der Vergangenheit

Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ erscheint 1976 mit einer Startauflage von 60.000 Exemplaren. Die Frage, ob und wie sich die ideologische Indoktrination und die politischen Disziplinierungsakte in der Zeit des Nationalsozialismus als lebensgeschichtliche Prägungen auch auf die Menschen ausgewirkt haben, die in der DDR lebten, galt der SED als abwegig, seit sie die DDR auf die Seite der „Sieger der Geschichte“ geschlagen hatte und dem Westen auch die mentalen Hypotheken des Nationalsozialismus allein anlastete. Dieser Sicht mochte Christa Wolf nicht folgen, nachdem das Bedürfnis entstanden war, „sich noch einmal in einer tieferen und auch psychologisch fundierten Weise mit der eigenen Entwicklung auseinanderzusetzen“,[21] in ihre eigene Lebenswelt als junges BDM-Mädel zurückzublicken, das in dem über weite Strecken autobiographischen Text durch die Person der Nelly literarisch verfremdet wird. „Als das Manuskript im Druck war, kam der Tag, an dem wir bei Hermlin den Protest gegen die Zwangsausbürgerung Biermanns verfaßten. Abends dachte ich, nun wird wahrscheinlich >Kindheitsmuster< nicht erscheinen. Wir hatten ja sehr weitgehende Folgen erwartet. Es erschien dann doch, die ganze Diskussion darüber war natürlich vollkommen überschattet von meiner Teilnahme an dieser Protestresolution.“[22]

Das Buch wurde in der Literaturkritik der DDR zunächst fast vollständig verschwiegen,[23] fand aber in der Bundesrepublik und international ein großes positives Echo. Die eindrucksvolle Selbsterforschung der Autorin hat dazu ebenso beigetragen wie ihre Fähigkeit, die Mechanismen der Disziplinierung und Selbstverleugnung aufzudecken, die den Massenerfolg der NS-Diktatur ermöglicht haben. Dass das Buch zudem Fragen aufwerfen musste, ob die Erziehungspraktiken einer verord-neten Konformität und kollektiven Disziplinierung, die auch in der DDR vorherrschten, nicht falsche „Muster“ für die Ent-wicklung „allseitig gebildeter sozialistischer Persönlichkeiten“ darstellten, machte die aktuelle Brisanz dieses Buches aus.

Christa Wolfs 1979 publizierte Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ lässt sich in verschiedene Deutungshorizonte einordnen. Es ist die Geschichte einer erfundenen Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Karoline Günderrode im rheinischen Ort Winkel. In einem fiktiven Gespräch treffen sich zwei Außenseiter, denen im Leben nicht zu helfen war, weil sie an den Konventionen der Zeit zerbrachen. Es ist ein Text, in dem sich ein pessimistisches Lebensgefühl deutlich akzentuiert, und ein Zusammenhang mit der Zeitstimmung der Autorin ist unverkennbar: „Das habe ich nach der Biermann-Affäre geschrieben. Und da war mein Lebensgefühl wirklich sehr deprimiert und pessimistisch. (…). >Kein Ort. Nirgends<, auch dieser Titel, ist ein Reflex auf eine Situation. Ohne Alternative zu leben. Das war eigentlich mein Grundgefühl nach 1976.“[24]

Dass Christa Wolf in ihrer fiktiven historischen Geschichte Kleist als Protagonisten gewählt hat, mag nicht nur mit der Missachtung zusammenhängen, den die SED-Literaturpolitik der Romantik als einer Form des schrankenlosen Subjektivismus entgegenbrachte, sondern auch mit einer Kontroverse, die im Jahr des 200. Geburtstages von Heinrich von Kleist (1975) Günter Kunert veranlasst hatte, sein „Pamphlet für K.“ in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ zu veröffentlichen. Kunert wendet sich darin gegen eine „dogmatische Literatur-verkennung“, in der die Leiden des Autors an der Gesellschaft als krankhaft abgetan werden und die Gesellschaft als gesund erscheine. Wer so denke, bewege sich in der „Welt des Faschismus“.[25]

Der Georg-Büchner-Preis, den Christa Wolf 1980 als erste in der DDR lebende Autorin erhält, [26]bestätigt Rang und Bedeutung, die sie sich in der deutschsprachigen Literatur erworben hat, ebenso wie die Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt im Jahr zuvor und die Mitgliedschaft in der West-Berliner Akademie der Künste 1981. Seit 1974 hat sie wiederholt die USA zu Studien- und Lehraufenthalten besucht. Dort, in Frankreich und in Italien findet ihr Werk außerhalb Deutschlands besonders intensive Beachtung.

Die Hinwendung zu vorantiken Mythen, die zu antiken Dichtungen geworden sind, ist charakteristisch für zwei herausragende Werke, die Christa Wolf vor und nach dem Epochenjahr 1989 vorgelegt hat. 1983 erscheint „Kassandra“, 1996 folgt „Medea“. Kassandra, die Seherin, die vor den schrecklichen Folgen des Trojanischen Krieges warnt und erleben muss, dass sie das Unheil nicht aufzuhalten vermag, entsteht in einer Zeit, in der die Supermächte in einer neuen Spirale der Hochrüstung verfangen sind, als dramatisches Menetekel, das sich gleichermaßen an die Protagonisten der konkurrierenden Weltsysteme richtet, dem Wahnsinn des Wettrüstens Einhalt zu gebieten. Indem Christa Wolf das propagandistische Klischee von Gut und Böse ausschließt und die Massenvernichtungswaffen beider Seiten als lebensbedrohlich benennt, weckt sie die Arglist der Zensoren. In der DDR-Ausgabe des Kommentarbandes zu „Kassandra“, der unter dem Titel „Voraussetzungen für eine Erzählung“ aus einer Frankfurter Vorlesungsreihe hervorgegangen ist, muss neben zwei anderen Textstellen eine kurze Passage entfallen, die beide Seiten explizit für die Bedrohungslage verantwortlich macht.[27] Christa Wolf setzt immerhin durch, dass die Auslassung gekennzeichnet wird.

Im Werk von Christa und Gerhard Wolf zeigt sich seit Ende der 1960er Jahre eine Faszination vom „Projektionsraum Romantik“, dem Profil von Dichtern und Dichterinnen, die „ihre Stirnen an der gesellschaftlichen Mauer wund rieben“[28], sich verordneten Ansprüchen entzogen, um im „Schatten eines Traums“ zu leben. Davon zeugt ebenso Gerhard Wolfs eindrucksvoller Collagetext „Der arme Hölderlin“ wie auch verschiedene Editionen, die beide Wolfs aus dem Werk romantischer Dichterpersönlichkeiten publiziert haben.29]

Sinnfällig wird diese Mentalitätsprägung aber vor allem in Christa Wolfs „Sommerstück“ (1989), das sie selbst als ihr „persönlichstes Buch“ empfindet. Das Mecklenburger Sommerhaus weckt die Erinnerung an 1945, als sie gemeinsam mit ihren Eltern aus Landsberg an der Warthe in das mecklenburgische Dorf Gammelin geflüchtet war. Der von heiterer Melancholie geprägte Text, der aber auch als „Idylle mit drohenden Untertönen“ (Aafke Steenhuis) erscheint, schildert in einer Sehnsuchtslandschaft, die zugleich Zufluchtsort ist, die glückliche Erfahrung des entspannten Zusammenseins mit Freunden. „In diesen Gruppen haben damals viele Menschen in der DDR ihre Integrität bewahrt und sich frei-gedacht. Das Buch ist für viele eine Beschreibung ihres eigenen Lebens, wie ich jetzt weiß. Ich glaube auch, daß es sogar eine Vorankündigung der späteren Ereignisse ist, denn es schildert, warum es so nicht weitergehen konnte.“[30]

Christoph Hein hat diese Vorahnung 1989 in seinem Stück „Die Ritter der Tafelrunde“ als beklemmendes Endspiel einer ideologisch bornierten Gerontokratie Monate vor der friedlichen Revolution in Szene gesetzt. An diesem Prozess, der mit dem Anspruch der Menschen auf Volkssouveränität ernst macht, nimmt Christa Wolf mit der Macht des Wortes entschieden Anteil. Auf der Kundgebung am Alexanderplatz erklärt sie am 4. November 1989: „Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht nun auf einmal frei über die Lippen. (…) Die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist >Traum<. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft.“[31]

Das Eigene und das Fremde

Im Frühjahr 1990 veröffentlicht Christa Wolf die Erzählung „Was bleibt“, ein Text, der persönliche Erfahrungen der prominenten Autorin mit den Praktiken des Überwachungsstaates thematisiert. Er handelt von Angst und Ohnmacht, der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit und Solidarität und von der Schwierigkeit, in den Bedrückungen und Alpträumen der eigenen Existenz eine authentische Sprache zu finden. Die Erzählung ist 1979 entstanden und offensichtlich ein Paralleltext zu „Kein Ort Nirgends“. Dass Christa Wolf diesen Text im Jahr seiner Entstehung in der DDR nicht publizieren konnte, ist nachvollziehbar. Irritation erregte daher vor allem ihr Vermerk, dass sie den Text 1990 überarbeitet habe (was stilistisch, nicht inhaltlich gemeint war). Die Frage nach der Klarheit und Wahrheit der Geschichte, die Christa Wolf erzählt, verwandelte sich rasch in eine Frage nach der Konsequenz und Wahrhaftigkeit ihrer politischen Haltung, die sie in 40 Jahren DDR eingenommen hatte. Über den „Literaturstreit“, der damit ausgelöst wurde und in dem Vorwurf der „Gesinnungsästhetik“ sein denkwürdiges Stichwort gefunden hat, ist so viel geschrieben worden, [32] dass eine Bemerkung genügen soll: Es ist erstaunlich, dass nicht die einflussreichen angepassten Autoren, sondern die beiden wichtigsten ostdeutschen Dichter, Christa Wolf und Heiner Müller, in den Mittelpunkt einer gesinnungspolitischen Kontroverse gerieten, die fast ausschließlich von der westdeutschen Literaturkritik bestritten wurde und im Januar 1993 in entrüsteten Anklagen einer Kollaboration mit dem Überwachungsstaat kulminierte.

Christa Wolf hatte 1961 mit der „Moskauer Novelle“ ihr erstes eigenes literarisches Werk publiziert. Zuvor war sie nach dem Abschluss des Germanistikstudiums 1953 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Schriftstellerverband, seit 1956 als Cheflektorin im Verlag „Neues Leben“, 1958/59 als Redakteurin der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ und von 1959 bis 1962 als freischaffende Lektorin für den Mitteldeutschen Verlag in Halle tätig. Danach zog die Familie mit zwei Töchtern nach Kleinmachnow, wo Christa Wolfs literarische Karriere ihren Anfang nahm. Einbezogen in den kulturellen Funktionsbereich war sie von der Staatsicherheit am 24. März 1959 als „Gesellschaftliche Informantin“ (GI) geworben worden, unter dem Decknamen „Margarete“ geführt, wie ihr einziger handschriftlicher Bericht ausweist. Dass Christa Wolf diese Mitarbeit unangenehm war, zeigen zwei Fakten: Sie hat wiederholt geplante Termine ausfallen lassen und sich geweigert, Begegnungen in konspirativen Wohnungen zu vereinbaren. Insgesamt sind sieben Gespräche mit einem Mitarbeiter der Staatsicherheit dokumentiert, davon drei in Berlin, die vermutlich mit ihrer Tätigkeit als Redakteurin der NDL zusammenhingen, und vier Gespräche in Halle, in ihrer eigenen Wohnung im Beisein von Gerhard Wolf – ein Verstoß gegen die Regel der Konspiration. Als am 21. Januar 1993 die „Berliner Zeitung“ den Vorgang aufgedeckt hatte, eskalierten Verdächtigungen und Vorwürfe, voran „Bild“, „Die Welt“ und „Der Spiegel“. Nachdem Christa Wolf – als Beschuldigte wurden ihr die Akten später zugänglich als den Medien – von dem Sachverhalt im kalifornischen Santa Monica erfahren hatte, initiierte sie die Publikation des Vorgangs.[33] Der Befund zeigte: Die Staatsicherheit hielt den Ertrag der Gespräche für unergiebig, so endete die Affäre im Februar 1962.

Nach Kenntnis der Fakten musste die Vehemenz der Attacken, denen Christa Wolf ausgesetzt war, erstaunen und befremden. Obwohl die Autorin auch einfühlende Deutungen des Vorgangs lesen konnte, wirkte vor allem das Pathos irritierend, mit dem sich Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ über Christa Wolf und – den mit unbewiesenen Vorwürfen mitverdächtigten – Heiner Müller entrüstete: „Mir scheint, beide haben nicht nur ihrer Biographie geschadet; sie haben ihr Werk beschädigt.“[34] Hatte Raddatz übersehen, dass Christa Wolfs erstes wichtiges Buch erst erschienen war, als die von ihr enttäuschte Staatssicherheit sie bereits abgeschrieben hatte? Und hatte er absichtsvoll außer acht gelassen, dass die Wolfs seit 1968/69 unter den Decknamen „Skorpion“ (für Gerhard Wolf) und „Doppelzüngler (für beide gemeinsam) permanent und in gewaltigem Umfang bis zum Ende der DDR observiert worden sind?[35]Hatten die selbstgerechten Moralisierer Christa Wolfs mutige Intervention auf dem „Kahlschlagplenum“ und ihren Protest gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns vergessen?

Dass Christa Wolf, die sich seinerzeit nach Santa Monica zurückgezogen hatte, irritiert und verbittert reagierte, lässt sich vor diesem Hintergrund nachvollziehen. Dort konnte sie im Gespräch mit Günter Gaus nach Lektüre der Akten die Einsicht gewinnen: „Ein fremder Mensch tritt mir da gegenüber. Das bin nicht ich. Das muß man erst einmal verarbeiten. (…) Wer war ich eigentlich damals? Es ist ein schreckliches Entfremdungsgefühl, was mich überkommt, wenn ich das lese.“[36] Die Antwort auf diese Frage ist einfacher, als es scheint: Es war der Entschluss, sich unabhängig zu machen von Institutionen und Apparaten, der die Entfremdung aufgehoben und die politische Person Christa Wolf verändert hat. Rekapituliert man die Kontroversen, die als „Literaturstreit“ und als „Bilderstreit“ in die deutsche Kulturgeschichte eingegangen sind,[37] so wird im Rückblick deutlich, dass die Auseinandersetzung um Christa Wolf auf symptomatische Weise den Anspruch einer west-deutschen Hegemonialkultur im deutschen Einigungsprozess manifestiert.

Wildes Denken

Mit „Medea“ (1996) hat Christa Wolf ihre Mythenerkundung zu einem eindrucksvollen Abschluss geführt, in dem eine weit zurückblickende Spurensuche bis in die vorantike Überlieferung mit existenzieller Selbstreflexion sinnfällig verschränkt erscheint. „Medea“ ist uns aus der Tragödie des Euripides als doppelte Kindsmörderin überliefert, die sich aus Eifersucht über die verratene Liebe Jasons, dem sie mit dem vom eigenen Vater geraubten Goldenen Vlies der Argonauten aus Kolchis in das ferne Korinth folgt – und gegen den sie als wilde Fremde einen unbegreiflichen Racheakt vornimmt. Das Drama einer unmenschlichen Untat wird für Christa Wolf zur Grundfrage nach den Mechanismen, mit denen Schuldzuweisungen konstruiert und „Sündenböcke“ produziert werden. Ihr Zweifel an der Wahrheit des von Euripides berichteten Geschehens führt sie in einem intensiven Rechercheprozess zu der sicheren Überzeugung, dass der Ursprung der Geschichte ganz anders war und erst Machtinteressen und Gewaltfantasien eine Figur hervorgebracht haben, die der Gesellschaft als Entlastung für eigenes Fehlverhalten dient.

Die Tatsache, „daß eine Frau zum Sündenbock gemacht wird“, ist nach Christa Wolfs eigenem Bekunden auch damit zu erklären, „daß die Autorin eben dieses Problem in dieser Zeit selbst sehr stark empfunden hat“,[38] doch warnt sie vor einer bloß vordergründigen Lesart. Denn der Kern „dieses mutigen, scharfsinnigen, brillanten und notwendigen Buches“[39] ist eine grundlegende Kritik am Patriarchat: „(…) seit ich über Kassandra gearbeitet habe, ist mir ganz klar, daß die Geschichte des Patriarchats die Geschichte der Frauen aus der Mythologie umgeformt hat. (…) In die Richtung z. B. der Kassandra, also einer Frau, der niemand glaubt. Noch stärker ist diese Umformung bei Medea. Die wilde Frau, das war etwas, das ist etwas, was das Patriarchat nicht erträgt – aus gutem Grund.“[40]

Mit „Medea“ scheint ein Prozess abgeschlossen, in dem Christa Wolf sich selbst gefunden hat, auch wenn ihr vieles in der Lebenswelt des vereinten Deutschland fremd geblieben ist: „Wildes Denken“, das sie sich im Prozess des Schreibens selbst angeeignet hat, weitet den Blick und lässt die Trauer über verlorene Utopien ertragen, ohne zu resignieren. So konnte sich Christa Wolf „Leibhaftig“( 2002) nicht nur an Schmerz und Krankheit, sondern auch an die Paradoxien des Lebens in der DDR erinnern und viele neue Freunde in jenem Land gewinnen, das nun auch das ihre ist. In einem einfühlsamen Text zu „Medea“ hat die Turiner Germanistin Anna Chiarloni vor zwölf Jahren eine Erkenntnis formuliert, die heute noch ein Wunsch von Christa Wolf zu ihrem 80. Geburtstag sein könnte: „In der Mitte Europas hat plötzlich die Wende zwei Kulturen zusammengeworfen. Wichtig wäre es, daß jeder dem anderen die Möglichkeit gäbe, seine eigene Geschichte zu erzählen. Damit eine Erinnerungsgemeinschaft entsteht, die differenzierte Erfahrungen unterscheidet, erduldet und aufbewahrt.“[41]

 


Anmerkungen

[1] Diesen Schlüsselbegriff formuliert die Autorin gegenüber Hans Kaufmann, Gespräch mit Christa Wolf, in: ders., Über DDR-Literatur. Beiträge aus fünfundzwanzig Jahren, Berlin-Weimar 1986, S. 106.

[2] Christa Wolf, Der geteilte Himmel, Halle 1963, S. 265f.

[3] Ebd., S. 275.

[4] Christa Wolf, Rede auf dem internationalen Schriftstellerkolloquium im Dezember 1964, in: Neue Deutsche Literatur, 13 (1965) 3, S. 98.

[5] Zit .nach Hermann Weber/Fred Oldenburg, 25 Jahre SED. Chronik einer Partei, Köln 1971, S.161. Später werden die Wolfs den Liedrefrain Louis Fürnbergs ironisch mit dem Buchtitel „Die Phantasie hat allemal recht“ (der von Bettina von Arnim entlehnt ist) konterkarieren, und der Almanach zum 70. Geburtstag Gerhard Wolfs trägt den Titel „Die Poesie hat immer recht“ (nach dem Gedicht von Friederike Kempner „Die Poesie, die Poesie, die Poesie hat immer recht“).

[6] Christa Wolf, Diskussionsbeitrag, in: Günter Agde (Hrsg.), Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED. Studien und Dokumente, Berlin 2000 (2., erw. Aufl.), S. 262f. Zu den Umständen vgl. auch dies., Erinnerungsbericht, ebd., S. 344-354.

[7] Einen instruktiven Überblick zu Biographie und Werk bietet immer noch Therese Hörnigk, Christa Wolf, Berlin 1989.

[8] Zur Person: Christa Wolf im Gespräch mit Günter Gaus, in: Hermann Vinke (Hrsg.), Akteneinsicht. Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation, Hamburg 1993, S. 257.

[9] Christa Wolf, Die zumutbare Wahrheit – Prosa der Ingeborg Bachmann, in: dies., Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen, Berlin 1973, S. 87-102, hier: S. 90. An anderer Stelle heißt es über die Bachmann, symptomatisch auch für Christa Wolfs Befindlichkeit: „Sie sieht: Keine Hoffnung auf Veränderung mehr ‚im Rahmen des Gegebenen’.“ (S. 100) Der Bachmann-Essay konnte erst 1972, sechs Jahre nach seiner Entstehung im Dezember 1966, publiziert werden.

[10] Vgl. „Vor den Bildern sterben die Wörter“. Rüdiger Thomas im Gespräch mit Christa und Gerhard Wolf, in: Eckhart Gillen (Hrsg.), Deutschlandbilder, Kunst aus einem geteilten Land, Köln 1997, S. 572-576, hier: S. 572 (G. Wolf).

[11] Ihre Beziehung zu Gerhard Wolf hat Christa Wolf eindrucksvoll beschrieben: Er und ich, in: Peter Böthig (Hrsg.), Die Poesie hat immer recht. Gerhard Wolf Autor Herausgeber Verleger. Ein Almanach zum 70. Geburtstag, Berlin 1998, S. 145-165. Dort heißt es, „seine Zustimmung gibt mir in der Phase totalen Zweifels jene Sicherheitszone, auf die ich mich im Notfall immer zurückziehen kann“. (S. 154)

[12] Im Vergleich mit dem „Geteilten Himmel“ findet Christa Wolf zu einer neuen Erzählstruktur, die auch für spätere Werke bestimmend bleibt. „Ich muß zugeben, daß wir damals alle noch ziemlich provinziell waren, auch in unseren Kenntnissen der Weltliteratur. Es gibt einen Roman von Aragon [gemeint ist „La semaine sante“, deutsch: Die Karwoche, R.T.], der mich damals durch seine nicht chronologische, assoziative Struktur angeregt hat. Bei Christa T. habe ich die zum erstenmal angewendet und gemerkt, daß ich damit eigentlich zu mir selber finde.“ Schreiben im Zeitbezug. Gespräch mit Aafke Steenhuis, in: Christa Wolf, Im Dialog. Aktuelle Texte, Frankfurt/M. 1990, S. 140.

[13] Ein wichtiger Impuls für das Buch war der Tod einer engen Jugendfreundin, Christa Tabbert, im Februar 1963: „Ein Mensch, der mir nahe war, starb, zu früh. Ich wehre mich gegen diesen Tod. Ich suche nach einem Mittel, mich wirksam wehren zu können. Ich schreibe, suchend. Es ergibt sich, daß ich eben dieses Suchen festhalten muß, so ehrlich wie möglich, so genau wie möglich.“ Selbstinterview, in: Christa Wolf, Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze. Reden und Gespräche, Berlin-Weimar 1986, Bd.1, S. 31.

[14] So schon Hans Mayer, Christa Wolf. Nachdenken über Christa T., in: Neue Rundschau, 81(1970) 1, S. 180-186.

[15] Christa Wolf, Nachdenken über Christa T., Halle 1968, S. 72, S.66, S. 71.

[16] Ebd., S. 73.

[17] Ebd., S. 90 u. S. 219f. Vgl. dazu die aufschlussreiche Interpretation von Heinrich Mohr, Produktive Sehnsucht: Struktur, Thematik und politische Relevanz von Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“, in: Angela Drescher (Hrsg.), Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Studien – Dokumente – Bibliographie, Berlin und Weimar 1989, S. 32-62, hier: S.51.

[18] Auskunftsbericht, 21.12.1965, in: Akteneinsicht (Anm. 8), S. 23.

[19] Max Walter Schulz, Das Neue und das Bleibende in unserer Literatur, in: VI. Deutscher Schriftstellerkongreß vom 28. bis 30. Mai 1969 in Berlin. Protokoll, Berlin 1969, S. 56.

[20] Schlusswort Erich Honeckers auf der 4. Tagung des ZK, zit. nach Gisela Rüß (Hrsg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1971-1974, Stuttgart 1976, S. 287.

[21] Vor den Bildern (Anm.10), S. 574. Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben, erhellt die Umkehrung eines berühmten Satzes von Ludwig Wittgenstein aus dem „Tractatus logico-philosophicus“: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man zu schweigen allmählich aufhören.“ Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin-Weimar 1976, S. 235.

[22] Vor den Bildern (Anm. 10), S. 574.

[23] Eine frühe, äußerst kritische Besprechung stammt von Annemarie Auer, Gegenmeinung, in: Sinn und Form, 29 (1974) 4, S. 847-878. Bald folgten Reaktionen, die den Wert des Werkes nachdrücklich hervorhoben, u. a. von Stephan Hermlin im übernächsten Heft der Zeitschrift, vgl. Sinn und Form, 29 (1977) 6, S. 1311-1322.

[24] Vor den Bildern (Anm. 10), S. 573.

[25] Vgl. Günter Kunert, >Pamphlet für K.<, in: Sinn und Form, 30 (1975) 5, S. 1097 u. S. 1093.

[26] 1971 wurde Uwe Johnson geehrt, dessen Frühwerk „Mutmassungen über Jakob“ (1959) noch in der DDR entstanden war; 1977 erhielt Reiner Kunze, der im April 1977 die DDR verlassen hatte, den Büchnerpreis.

[27] Insgesamt sind in der DDR-Ausgabe drei Stellen aus der 3. Vorlesung gestrichen worden. Als besonders brisant galten die Zeilen: „Die Nachrichten beider Seiten bombardieren uns mit der Notwendigkeit von Kriegsvorbereitungen, die auf beiden Seiten Verteidigungsvorbereitungen heißen. Sich den wirklichen Zustand der Welt vor Augen halten, ist psychisch unerträglich. In rasender Eile, die etwa der Raketenproduktion beider Seiten entspricht, verfällt die Schreibmotivation, ‚etwas zu bewirken’. (…) Der Wahnsinn geht mir nachts an die Kehle.“ Auslassung in den ersten fünf Auflagen von Christa Wolf, Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung, Berlin-Weimar 1983, S. 124. Erst die 6. Auflage enthält 1988 den vollständigen Text, vgl. S. 129.

[28] Christa Wolf zitiert diese Formulierung von Anna Seghers, vgl. Fortgesetzter Versuch, in: Die Dimension (Anm. 13), S. 342.

[29] Christa Wolf/Gerhard Wolf, Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik. Prosa und Essays, Berlin-Weimar 1986.

[30] Schreiben im Zeitbezug (Anm. 12), S. 149. In verschiedenen Gesprächen hat Christa Wolf ausgeführt, dass sie mit ihrem Mann erwogen habe, die DDR zu verlassen, doch hätten sie eine solche Entscheidung verworfen: „Ehrlich gesagt, wir wussten nicht, wohin. Wir sahen in keinem anderen Land eine Alternative. Dazu kam: Ich bin eigentlich nur an diesem Land brennend interessiert gewesen. Die scharfe Reibung, die zu produktiven Funken führt, fühlte ich nur hier mit aller Verzweiflung, dem Kaltgestelltsein, den Selbstzweifeln, die das Leben mit sich bringt.“ Ebd., S.148.

[31] Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz, in: Ch. Wolf, Im Dialog (Anm. 12), S. 119f. Etwa drei Wochen später gehört Christa Wolf mit dem Regisseur Frank Beyer, dem Schriftsteller Volker Braun und dem Filmemacher Konrad Weiß zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs „Für unser Land“, die an die Menschen in der DDR den Appell richten, „in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.“ (Ebd., S.171) Diese Perspektive sollte sich rasch als Illusion erweisen, und jene, die sie formuliert hatten, gerieten im Westen rasch in den Fokus einer moralisierenden öffentlichen Kritik.

[32] Vgl. insbesondere Thomas Anz (Hrsg.), „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991.

[33] Vgl. Akteneinsicht (Anm. 8), S.19-139.

[34] Fritz J. Raddatz, Von der Beschädigung der Literatur durch ihre Urheber, in: Die Zeit vom 29.1.1993, S. 51f., hier: S. 51.

[35] Vgl. Akteneinsicht (Anm. 8), S. 275-290.

[36] Zur Person, in:  Akteneinsicht (Anm.8), S. 256.

[37] Vgl. Rüdiger Thomas, Wie sich die Bilder gleichen. Ein Rückblick auf den deutsch-deutschen Literatur- und Bilderstreit, in: Deutschland Archiv, 40 (2007) 5, S. 872-882.

[38] Christa Wolf im Gespräch nach der Medea-Lesung im FrauenMuseum in Bonn am 23.2.1997, in: Marianne Hochgeschurz (Hrsg.), Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text, Berlin 1998, S. 58.

[39] Margaret Atwood, Zu Christa Wolfs Medea, in: ebd., S. 74.

[40] Christa Wolf im Gespräch (Anm. 38), S. 59.

[41]Anna Chiarloni, Medea und ihre Interpreten, in: M. Hochgeschurz (Anm.38), S. 119.

 

In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 11/2009, 9. März 2009, S.15-23.

 

© Rüdiger Thomas

Zum Tod von Werner Maibaum

Zum Tod von Werner Maibaum

Text als Word-Dokument downloaden: 2007_Nachruf_Maibaum.doc

2007

 

Ein Brückenbauer mit Phantasie und Leidenschaft

Zum Tod von Werner Maibaum

 

Wer Mitte der 1960er Jahre im Kölner Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung ein Seminar besuchte, konnte dort als Referenten häufig einem Professor begegnen, der eine Koryphäe und gleichzeitig ein seltenes Original war: Joseph M. Bochenski. Der aus Polen stammende, an der Universität Fribourg in der Schweiz lehrende Dominikaner, der leidenschaftlich Rennwagen steuerte und noch mit mehr als 60 Jahren einen Flugschein erwarb, war ein scharfsinniger Philosoph und ein renommierter Kommunismusforscher, ein prominenter Wissenschaftler und ein begnadeter Pädagoge. Mit einem 1956 erstatteten Gutachten für das Bundesverfassungsgericht, das später unter dem Titel „Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus“ veröffentlicht wurde, hat er seinerzeit zum Verbot der KPD  einen wesentlichen Beitrag geleistet, wie die Lektüre der Urteilsbegründung erkennen lässt.

Seit Anfang 1964 leitete Werner Maibaum das Ostkolleg, in dem ich im gleichen Jahr auf Vermittlung von Günther Stökl und Bochenski als wissenschaftlicher Mitarbeiter meinen eigenen Berufsweg begann. Maibaum war 1956/1957 Assistent von Bochenski gewesen und hat  in diesen beiden Jahren als  Redakteur am „Handbuch des Weltkommunismus“ mitgearbeitet, das Bochenski gemeinsam mit Gerhart Niemeyer, der an der University of Notre Dame/USA tätig war, projektiert und herausgegeben hat. Nach einem Studium der Geschichtswissenschaft an den Universitäten Göttingen, Freiburg und Marburg war Werner Maibaum bei Ludwig Dehio promoviert worden. Seine Begegnung mit Bochenski sollte für seinen späteren Berufsweg wesentliche Bedeutung haben, kam er doch auf diese Weise sehr früh mit der internationalen Kommunismusforschung in Verbindung. 1957 wechselte er in die seit fünf Jahren bestehende Bundeszentrale für Heimatdienst (seit 1963 Bundeszentrale für politische Bildung), wo er als Redakteur der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ seine Kenntnisse und Kontakte, die er in Fribourg erworben hatte, für seine neue Aufgabe fruchtbar machen konnte.

Als Leiter des Ostkollegs versuchte Maibaum bereits in den ersten Jahren die dort maßgeblich von Bochenski, Hans-Joachim Lieber und seinem zeitweiligen Vorgänger, dem Osteuropahistoriker Karl-Heinz Ruffmann konzeptionell geprägte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem internationalen Kommunismus nicht nur als Abgrenzung zu verstehen, sondern zu einem kommunikativen Prozess zu entwickeln. Als sich die Reformimpulse des Prager Frühlings regten, knüpfte er – angeregt durch seinen Freund Heinz Hofmann, der als ARD-Korrespondent in Prag arbeitete –    Kontakte zu Ota Sik, die Hoffnung auf einen endlich beginnenden Ost-West-Dialog im Ostkolleg weckten. Mir bleibt die Bestürzung unvergessen, als wir am 21. August 1968 gemeinsam am Radio die deprimierenden Berichte über die sowjetische Intervention hören mussten.

Erst nach der Ratifizierung der Ostverträge mit Polen und der UdSSR sollte es dann gelingen, erste Studienreisen mit deutschen Schulbuchautoren und Hochschullehrern, zumeist Historiker und Geographen, zu realisieren und Referenten aus diesen Ländern ins Ostkolleg einzuladen. Dass der Durchbruch im schwierigen Feld der Wissenschaftskontakte zuerst mit Polen gelang, erklärt sich vor allem durch die Aktivität der beiden Vorsitzenden der deutsch-polnischen Schulbuchkommission, Walter Mertineit und Wladyslaw Markiewicz, gleichzeitig Vizepräsident der Polnischen Akademie der Wissenschaften, die eine Kooperation mit dem Ostkolleg nachdrücklich unterstützten. Sie wurden später durch gemeinsames Tun auch zu Freunden Maibaums.

Etwas später ermöglichte das tatkräftige Engagement des sowjetischen Botschaftsrats Igor Maximytschew, dass auf einer Studienreise nach Moskau Kontakte zwischen deutschen und russischen Historikern angebahnt werden konnten, die später auch bei Seminaren in Köln als Referenten zu Gast waren.

Das Ost-West-Beziehungsgeflecht, das Werner Maibaum behutsam, phantasievoll und konsequent gemeinsam mit seinen engagierten Mitarbeitern knüpfen konnte, hatte weitere Schwerpunkte in Jugoslawien und Ungarn. Nachdem eine erste Studienreise mit deutschen Geographen in das lange verschlossene, von der Kulturrevolution erschütterte Land  im Oktober 1978 gelungen war, kam auch die Volksrepublik China hinzu, die in den 1980 Jahren vermehrt in den Fokus des Ostkollegs rücken sollte.

Als besonders schwieriges Kapitel erwiesen sich die Bemühungen, die Barrieren im deutsch-deutschen Verhältnis zu überwinden. Auch nach Abschluss des Grundlagenvertrages war es nicht möglich, direkte Kontakte zu wissenschaftlichen Einrichtungen in der DDR, beispielsweise dem von Walter Friedrich geleiteten Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig, herzustellen. Das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW), gleichzeitig dem ZK der SED und dem Ministerrat der DDR unterstellt, erwies sich als einzige Anlaufstelle und kanalisierende Instanz, durch deren Vermittlung nach schwierigen, kontroversen Gesprächen in Einzelfällen auch vom IPW benannte Referenten aus der DDR ins Ostkolleg eingeladen werden konnten (für die sich nicht nur die Seminarteilnehmer, sondern auch der westdeutsche Verfassungsschutz interessierte).

Seit den 1970er Jahren hatte das Ostkolleg die thematische Zentrierung auf den internationalen Kommunismus durch die Einführung der sogenannten Deutschland-Tagungen erweitert, wobei für die Konzipierung dieses neuen Seminarmodells Karl Dietrich Bracher, Richard Löwenthal, Oskar Anweiler, Hans-Adolf Jacobsen und Peter Christian Ludz wichtige Anreger waren. Vor allem Ludz hat durch die seit 1971 publizierten „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation“ zur Profilierung der Deutschland-Tagungen wesentlich beigetragen, indem er mit seinem soziologisch fundierten Konzept des Systemvergleichs die tradierte Form der Systemauseinandersetzung, die sich am Totalitarismusmodell orientiert hatte, in den Hintergrund drängte. Aus der Zusammenarbeit mit Ludz ist bereits 1972 im Ostkolleg der Sammelband „Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR“ entstanden, in dem Maibaum mit einer Studie zur Geschichtswissenschaft in der DDR vertreten war.

Maibaums intellektuelle Neugier und sein diplomatisches Geschick haben gleichermaßen dazu beigetragen, dass das Ostkolleg in den 1970er Jahren, unterstützt durch das Wohlwollen der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes und ihres Leiters Barthold C. Witte, zu einem wichtigen Dialogforum mit den Nachbarn im Osten werden konnte – in einer Periode, in der die Anbahnung wissenschaftlicher Kontakte noch Pionierarbeit darstellte. Den deutschen Einigungsprozess hat Maibaum mit Enthusiasmus und Ideenreichtum begleitet, indem er zahlreiche Seminare projektierte, die der Begegnung von Wissenschaftlern und Pädagogen neue Horizonte eröffnete.

Als Werner Maibaum 1992 altersbedingt seine Tätigkeit als Leiter des Ostkollegs beendete, hat er sich keineswegs einem geistigen Ruhestand hingegeben,sondern seine frühen Begabungen und Neigungen neu belebt. Als Redaktionsmitglied in der von Barthold C. Witte geleiteten Zeitschrift liberal konnte er Erfahrungen einbringen, die er als Redakteur der „Parlament“-Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ gesammelt hatte. Und mit der 1998, dem Jahr seines 70. Geburtstages,  in der neuen Reihe der Bundeszentrale „Deutsche ZeitBilder“ publizierten „Geschichte der Deutschlandpolitik“ ist es ihm gelungen, die verwickelte Beziehungsgeschichte zwischen den beiden Staaten in Deutschland mit einer prägenden Periode seiner eigenen Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen. An den Beginn seiner Tätigkeit in der Bundeszentrale erinnert die 2004 erschienene Gründungsgeschichte des Ostkollegs der Bundes-zentrale für Heimatdienst 1956/57, die in einer akribischen Archivrecherche die Ursprünge der Ost-West-Auseinandersetzung im Spannungsfeld des Kalten Krieges, unmittelbar nach dem KPD-Verbot, in Erinnerung ruft.

Werner Maibaum bleibt als ein engagierter Dialogpartner unvergessen, der geschickt und wirkungsvoll am intellektuellen Brückenbau zwischen Ost und West bereits zu einer Zeit mitwirkte, als mit dem Beginn der Vertragspolitik gerade erst seine tragenden Pfeiler installiert worden waren. Seinen Mitarbeitern bleibt er als kollegialer Chef und vielen auch als inspirierender, warmherziger Freund in dankbarer Erinnerung. Am 23. April 2007 ist er in Köln gestorben.

 

 

In: Deutschland Archiv, 40. Jg. (2007), H. 3, S. 404-405.

Getrennt vereint

Getrennt vereint

Text als Word-Dokument downloaden: 2005_Getrennt_vereint.rtf

 

Getrennt vereint

Innerdeutsche Sportbeziehungen 1945 bis 1956

Die Sportgeschichte im geteilten Nachkriegsdeutschland ist lange Zeit  nur ein Randthema der DDR-Forschung gewesen(1). Dies ist ein überraschender Befund, wenn man bedenkt, wie viele Menschen sich als Aktive oder Zuschauer am Sport begeistern. Seit den von Hitler inszenierten Olympischen Spielen 1936 in Berlin, die Leni Riefenstahl in ihren Filmen zum Triumph von Kraft und Schönheit verklärt hat, haben wir lernen müssen, wie der Sport zu politischen Zwecken missbraucht werden kann. Wenn nationale Größe am Medaillenspiegel gemessen wird, erweist sich demgegenüber Pierre de Coubertins olympischer Gedanke, der die Teilnahme am internationalen Wettbewerb als Ausdruck der völkerverbindenden Idee des Sports in den Mittelpunkt rückt, als eine schöne Illusion. Die vermeintliche „Nebensache“ ist längst zu einem wichtigen Politikum geworden, das sich im Spannungsfeld von Körperertüchtigung, Persönlichkeitsbildung und menschlicher Begegnung auf der einen Seite, Unterhaltung, Kommerz und politischer Erfolgspropaganda auf der anderen Seite bewegen muss und dabei seinen viel beschworenen unpolitischen Charakter längst verloren hat.

Auch wenn der Sport aus nachvollziehbaren Gründen ein häufig marginalisierter Teil der Politikgeschichte geworden war, erfolgte durch seine Fokussierung auf politische Zwecksetzungen eine prekäre Perspektivenverengung. Erst in den 1990er Jahren, nach Öffnung der DDR-Archive, haben sich Tendenzen verstärkt, den Sport nicht nur als Teil der politischen Geschichte, sondern primär als Teil der Kulturgeschichte wahrzunehmen, also nicht nur die politische Funktionalisierung des Sports zu thematisieren, sondern vor allem auch seine gesellschaftliche Bedeutung zu reflektieren(2). Im Hinblick auf den Sport im geteilten Deutschland kann dieser Perspektivenwechsel aber nur als Projekt der Interdependenz gelingen, das in den Wechselwirkungen von Sport und Politik die Relevanz und Durchsetzungskraft gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse aufspürt und gegen den Verfügungsanspruch der Politik sein Eigengewicht zu bestimmen sucht.

Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, die Sportgeschichte im geteilten Deutschland am Beispiel und im Blickfeld der kontroversen Vorgeschichte um die schließlich erfolgreiche Bildung gesamtdeutscher Olympiamannschaften bei den Winter- und Sommerspielen 1956 zu beleuchten. In der Periode des Kalten Krieges war der Sport ein wichtiger – wenn nicht einzig sichtbarer – symbolpolitischer Ausdruck für die reale Existenz der deutschen Nation, wenn auch im Modus einer durch das Internationale Olympische Komitee erzwungenen Gemeinsamkeit, die sich in der Teilnahme gesamtdeutscher Mannschaften bei den Olympischen Spielen 1956, 1960 und 1964 ausdrückte. Wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist, wie sich die Formierungsgeschichte der Sportorganisationen im Osten und Westen Deutschlands als Hindernis für gesamtdeutsche Sportbegegnungen erweist, welche innerdeutschen Konflikte durch Kompromisse überbrückt werden mussten, um die Bildung einer ersten gesamtdeutschen Olympiamannschaft 1956 zu ermöglichen, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

Die Neuorganisation des Sports in Deutschland

1945 bis 1950

Die „Stunde Nichts“ (Heinrich Böll), die am 8.Mai 1945 nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands einsetzte, betraf nicht nur das politische System, sondern erfasste alle Lebensbereiche. Die in den Potsdamer Vereinbarungen festgelegten Prinzipien der Entnazifizierung und Dezentralisierung kamen auch für den Sport zur Geltung und hatten zur Folge, dass sich die Strukturen einer neuen überregionalen Sportorganisation erst in einem längeren Prozess herausbilden konnten. Dieser Prozess verlief im Osten und Westen Deutschlands in unterschiedlichem Tempo und mit Resultaten, in denen sich auch die Gegensätze der politischen Entwicklung manifestieren sollten. Im Kontrollratsgesetz Nr. 2 vom 10. Oktober 1945 wurde ausdrücklich neben der NSDAP und ihren zahlreichen Gliederungen auch der Nationalsozialistische Reichsbund für Leibesübungen, mit dem 1938 die Gleichschaltung des Sports in der NS-Diktatur endgültig vollzogen war, zur ungesetzlichen Organisation erklärt. Die Direktive 23 des Alliierten Kontrollrats vom 17. Dezember 1945 verfügte eine „Beschränkung und Entmilitarisierung des Sportwesens in Deutschland“ und ein Verbot der Sport- und Turnvereine. Sie erlaubte „nicht-militärische Sportorganisationen lokalen Charakters“ bis zur Landkreisebene, diese mussten jedoch von den örtlichen Besatzungsorganen genehmigt werden. In diesem Rahmen entwickelten sich frühe sportliche Aktivitäten nach dem Motto „Erlaubt ist, was nicht verboten wird“ in den vier Besatzungszonen und in Groß-Berlin, wobei sich erhebliche regionale Unterschiede feststellen lassen. Beispielsweise fand in Berlin das erste Fußballspiel nach Kriegsende bereits am 20. Mai 1945 im Stadion Lichtenberg vor 10.000 Zuschauern statt, mehr als 500 Mannschaften nahmen in der alten Reichshauptstadt im September 1945 ihre Spielrunde auf, zur gleichen Zeit begann die Süddeutsche Fußball-Liga ihren überregionalen Spielbetrieb. Im Sommer 1945 kam es in der sowjetischen und britischen Zone auch schon zu ersten sportlichen Begegnungen zwischen deutschen Städtemannschaften und Soldatenteams.

In der SBZ wurde die Beschränkung sportlicher Aktivitäten auf die kommunale Ebene gemäß der Direktive 23 des Kontrollrats besonders strikt beachtet. Bei den Kommunalverwaltungen wurden Sportämter eingerichtet. Sie wurden häufig von Funktionären geleitet, die aus der Arbeitersportbewegung stammten. Die KPD ließ schon in ihren ersten Stellungnahmen erkennen, dass sie die damals weit verbreitete Vorstellung von einem „unpolitischen Sport“ eindeutig ablehnte. So hieß es in einem im Juli 1945 erschienenen offenen Brief des Leipziger Sportamts, der von dem ehemaligen Funktionär der Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit Bruno Plache inspiriert war: „Der kommunale Sport ist unparteiisch, aber nicht unpolitisch, er bekennt sich zu den gemeinsamen Zielen der drei Blockparteien.“(3) Trotz der Auflösung der alten Sportvereine und der Enteignung ihres Vereinsvermögens wurden gelegentlich Strategien entwickelt,  die eine Zerschlagung gewachsener Strukturen zu unterlaufen suchten. Die Anfang 1947 als kommunale Sportgruppe entstandene Sportgemeinschaft Dresden-Friedrichstadt knüpfte offenkundig an die Tradition des renommierten Dresdner Sport-Clubs an. „Sie hatte die schwarz-roten Farben des Clubs, ihre Leitung bestand ausschließlich aus ehemaligen DSCern und von ihren 300 Mitgliedern kamen über 250 aus dem DSC.“(4) Nachdem ihrer Fußballmannschaft durch  politisch beeinflusste Spielmanipulationen der Meistertitel in der ersten Saison 1949/50 vorenthalten blieb, verließ das gesamte Team, zu dem als Spielertrainer auch der spätere Bundestrainer Helmut Schön zählte, in einer spektakulären Aktion die SBZ und schloss sich dem Westberliner Verein Hertha an. Diese Episode zeigt, dass sich der „Klassenkampf“ zwischen den ehemals bürgerlichen Sportvereinen und der Arbeitersportbewegung nicht allein durch administrative Maßnahmen aufheben ließ.

Im August 1946 beschloss die SED, die Verantwortung für den Sport auf die erst wenige Monate zuvor (am 7.März) gegründete Jugendorganisation FDJ zu übertragen, ihr Vorsitzender war Erich Honecker. Die Kompetenzverlagerung von den Kommunen erfolgte in einem längeren Prozess und war erst Anfang 1948 weitgehend abgeschlossen. Sie wurde am 11. Mai 1948 von der Sowjetischen Militäradministration durch eine Vereinbarung mit dem Zentralrat der FDJ sanktioniert. Allerdings erfassten die FDJ-Sportgruppen, die nach offiziellen Angaben 200.000 Mitglieder hatten, nur einen Teil der Sport treibenden Bevölkerung. Durch diese Maßnahme wurde als wichtigstes Ergebnis erreicht, dass in der SBZ ein überregionaler Sportverkehr über die Grenzen des Kommunalsports möglich wurde. So konnten 1948 die ersten SBZ-Meisterschaften im Fußball und Handball durchgeführt werden. Die SED erkannte allerdings sehr bald, dass die FDJ wenig geeignet war, die Verantwortung für den gesamten Sport zu übernehmen. Das kurze Intermezzo des Leitungsmonopols der FDJ wurde bereits am 1. Oktober 1948 durch die Gründung des Deutschen Sportausschusses (DS) beendet. Als Träger der „Demokratischen Sportbewegung“ fungieren jetzt FDJ und FDGB, wobei der Einheitsgewerkschaft eine vorrangige Stellung zufällt. Diese Einflussverlagerung zeigt sich am deutlichsten in der Kampagne zur Bildung von Betriebssportgemeinschaften (BSG), die seit Ende 1948 nach sowjetischem Vorbild entstehen und durch den alten Arbeitersportler und SED-Generalsekretär Walter Ulbricht lebhaft propagiert werden. So erklärt er im April 1949: „Die Sportgemeinschaften der Betriebe müssen zum Rückgrat der neuen Sportbewegung werden.“(5) Innerhalb eines Jahres wurden mehr als 800 BSG mit 500.000 Mitgliedern registriert. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass in den ersten drei Nachkriegsjahren der Volkssport gegenüber dem Leistungssport eindeutig im Vordergrund des politischen Interesses der SED stand.

Die Entwicklung der Sportorganisationen in den Westzonen wurde durch das „Ringen zwischen Fachverbandsprinzip und Gemeinschaftsidee“(6) bestimmt. Eine wichtige Weichenstellung erfolgte bereits im November 1945 in der amerikanischen Zone mit der Bildung des Süddeutschen Sportverbandes. In diesem ersten Dachverband schlossen sich die Landessportbünde Hessen, Württemberg-Baden und Bayern zusammen. Dagegen dominierten im britisch besetzten Nordrhein-Westfalen die Vertreter des Fachverbandprinzips, angeführt von dem späteren Präsidenten des Deutschen Fußballbundes Peco Bauwens. Eine von Carl Diem für die Westzonen initiierte erste „Interzonenkonferenz“ im November 1946 brachte keine Annäherung der Standpunkte zwischen den Verfechtern des Einheitssportgedankens und den Verteidigern der Fachverbandsautonomie.

Dagegen zeitigten die Bemühungen der Fachverbände um einen gesamtdeutschen interzonalen Zusammenschluss erste Erfolge. Nachdem im März 1947 ohne Abstimmung mit alliierten Behörden eine „interzonale Tischtennis-Auskunftstelle“ entstanden war, wurde im Juni der „Arbeitsausschuss Schwimmen“ konstituiert, der im August 1947 erstmals Deutsche Meisterschaften mit Sportlern aus allen vier Besatzungszonen durchführte. Unter geradezu verschwörerischen Bedingungen hatten die Tischtennisspieler bereits Ende 1946 inoffiziell Deutsche Meisterschaften in Heppenheim veranstaltet, bei denen alle Besatzungszonen vertreten waren. Sportler aus der SBZ beteiligten sich inoffiziell an den Deutschen Meisterschaften der Leichtathleten am 9./10. August 1947 in Köln und im Schwimmen am 23./24. August in Frankfurt. Nach Gründung des DS wurde eine Teilnahme von Sportlern aus der SBZ an in den Westzonen ausgerichteten Meisterschaften nicht mehr gestattet. Einen Monat nach den letzten gesamtdeutschen Schwimmmeisterschaften in Rheydt wurden Ende September 1948 für die SBZ eigene Meisterschaften für diese Sportart organisiert. Damit waren die Ansätze für einen zonenübergreifenden Sport abgebrochen.

Es sollte zwei weitere Jahre dauern, bevor über die Zwischenstufe der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Sport“, die im Oktober 1948 in Bad Homburg zwischen Vertretern der Landessportbünde und den Fachverbänden verabredet worden war, nach langanhaltenden Kontroversen mit den separatistisch orientierten Fachverbänden unter Führung von Bauwens schließlich am 10. Dezember 1950 der Deutsche Sportbund (DSB) als Dachorganisation des Sports in der Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Auch der erst drei Monate zuvor konstituierte Deutsche Turnerbund hatte einer Beteiligung zugestimmt. Es war vor allem das Verdienst Willi Daumes, die Skepsis der mächtigen Fachverbände überwunden zu haben, die dem bundesdeutschen Sport erst mit dem DSB eine handlungsfähige gemeinsame Interessenvertretung ermöglichte. Er wurde folgerichtig zum ersten DSB-Präsidenten gewählt und blieb mehr als drei Jahrzehnte der wichtigste und einflussreichste Repräsentant deutscher Sportinteressen in der nationalen und internationalen Sportarena.

Die politische Spaltung Deutschlands, die sich in der „doppelten Staatsgründung“ (Christoph Klessmann) 1949 markant manifestierte, hatte auch im Sport bereits mit dem Berlin-Konflikt 1948/49 deutliche Spuren hinterlassen. Für den Berliner Kommunalsport hatte die sowjetische Kommandantur schon im Frühsommer 1945 wichtige Weichen gestellt, seit Herbst 1946 verstärkten sich in den Westzonen Bestrebungen, eigene Wege zu beschreiten, wobei an die Tradition der alten Sportvereine angeknüpft werden sollte. Allerdings führte die Berlin-Blockade, die im Juni 1948 begann, nicht unmittelbar zum Ende der sportlichen Verbindungen, etwa bei den Mannschaftssportarten Fußball und Handball, die ihren gemeinsamen Spielbetrieb zunächst aufrechterhielten. Während die Berlin-Blockade noch andauerte, kam es endgültig zur sportpolitischen Spaltung, nachdem die SED die Gründung eines „Berliner Sportausschusses“ betrieben hatte, der einen Alleinvertretungsanspruch für den Sport erhob. Er forderte die Westberliner Vereine und Sportgruppen am 1. März 1949 ultimativ auf, sich dem Ausschuss zu unterstellen, „da sie sonst vom Spielbetrieb mit dem Ostsektor und der Ostzone ausgeschlossen sein würden“(7). Es war absehbar, dass dieses Propagandamanöver scheitern musste. Während die Westberliner Vereine am 29. Oktober 1949 im Amerika-Haus den Sportverband Groß-Berlin gründeten, der am Prozess der DSB-Entstehung mitwirkte und sich im folgenden Jahr mit vollen Rechten in den DSB integrierte, hatte sich der (Ost-)Bertliner Sportausschuss bereits am 10. März 1949 in den DS eingegliedert. Damit war eine Situation entstanden, in der die vom Osten initiierten politischen Konflikte um den Status von West-Berlin in anhaltenden sportpolitischen Kontroversen ihre Fortsetzung finden sollten.

Internationale Kontakte

Während Begegnungen mit Militärmannschaften – mit Ausnahme der französischen Zone – schon 1945 in verschiedenen Sportarten vereinbart werden konnten, waren Bemühungen um Sportkontakte mit dem Ausland seit Ende 1946 erfolgreich, wobei Österreich und die Schweiz den Anfang machten. Im August 1947 präsentierten sich die amerikanischen Wimbledon-Sieger bei einem Tennisturnier in München, im gleichen Monat begegneten sich in der Leichtathletik Auswahlmannschaften aus Oxford und der britischen Zone. Ein Durchbruch im internationalen Sportverkehr wurde 1948 vor allem im Fußball erreicht. In Süddeutschland wurden Auswahlspiele gegen Mannschaften aus St.Gallen, Zürich und Basel vor großer Zuschauerkulisse (in Stuttgart waren es 65.000 Menschen) wie Länderspiele gefeiert, so war es nur folgerichtig, dass nach Aufnahme in den internationalen Fußballverband FIFA im Sommer 1950 mit der Schweiz am 22. November 1950 in Stuttgart auch das erste offizielle Länderspiel nach dem Krieg ausgetragen wurde.

In der SBZ gab es bis Ende 1948, von Begegnungen mit sowjetischen Militärmannschaften abgesehen, keine internationalen Sportkontakte. Anfang 1949 kamen sowjetische Skisportler zu den Wintersportmeisterschaften nach Oberhof, ein erster Auftritt im Ausland war die Reise einer Sportlergruppe nach Budapest zu den II.Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Sommer 1949. Die Sportler konnten allerdings an den offiziellen Wettkämpfen nicht teilnehmen, da der SBZ-Sport zu diesem Zeitpunkt keinem internationalen Fachverband angehörte. So blieb es bei einigen inoffiziellen Freundschaftstreffen, denen  am 9. Oktober 1949, um die Bestimmungen der FIFA zu unterlaufen, ein Match zwischen einer „Ungarischen Gewerkschaftsauswahl“ und einer „Auswahl Sachsen“ folgte, das in der DDR später als erstes Länderspiel registriert worden ist. Seit Ende 1949 wurden – mit der zunehmenden Förderung des Leistungssports verbunden – verstärkt Kontakte mit den osteuropäischen „Volksdemokratien“ angebahnt, die jedoch mit Konzentration auf die Sowjetunion erst 1951 einen nennenswerten Umfang von 156 Begegnungen erreichten. Eine Mitgliedschaft in den westlich orientierten internationalen Fachverbänden wurde von der SED-Führung bis 1950 kaum in Betracht gezogen. Dafür war auch die Haltung der Sowjetunion maßgeblich, sich als „sozialistischer“ Staat vom „kapitalistischen“ Sport fernzuhalten und den Wettkampfsport selbst organisierten „Spartakiaden“ vorzubehalten. Diese Position wurde nach Kriegsende erst allmählich verändert. Seit 1946 trat die Sowjetunion verschiedenen Fachverbänden bei, wobei sie gelegentlich auch für irritierende Überraschungen sorgte. So erschien zu den ersten Leichtathletik-Europameisterschaften in Oslo unangemeldet eine sowjetische Mannschaft, doch zu den Olympischen Spielen 1948 in London schickte die UdSSR lediglich eine Beobachterdelegation. Es sollte bis 1951 dauern, dass die Sowjetunion ein NOK gründete und 1952 mit ihrer Teilnahme an den Olympischen Spielen in Helsinki spektakulär die Bühne des Weltsports betrat.

Hindernisse auf dem Weg nach Olympia

Dass es im deutschen Sport frühe Illusionen gegeben hat, zeigte sich im Vorfeld der Olympischen Spiele 1948. Sportfunktionäre wie Willi Daume glaubten schon Ende 1946 an die Möglichkeit einer Olympiateilnahme und konnten sich dabei auf den Umstand stützen, dass die beiden deutschen IOC-Mitglieder Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg und Karl Ritter von Halt bei der 39.IOC-Session im September 1946 aus dem IOC nicht ausgeschlossen worden waren. Obwohl es im Ausland einige namhafte Olympiabefürworter gab, darunter den für die Olympischen Spiele in London verantwortlichen Organisator Lord Burghley, war diese Hoffnung illusorisch, weil dafür die notwendige Bedingung, die Existenz eines Nationalen Olympischen Komitees, fehlte, die noch bis Sommer 1949 am Einspruch der Alliierten scheitern sollte.

Die „Wege nach Olympia“ (Willi Knecht) erwiesen sich für die Deutschen als Labyrinth, in dem  sich nach komplizierten Suchprozessen zunächst nur für die westdeutsche Seite ein Ausweg zum Ziel eröffnete. Während die ostdeutsche Seite in Übereinstimmung mit der sowjetischen Haltung noch in prinzipieller Distanz zur olympischen Bewegung verharrte, machten die Westdeutschen mit der Gründung des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland am 24. September 1949 einen ersten notwendigen Schritt zur Teilnahme an den Olympischen Spielen 1952, dem zwei Monate später der Aufnahmeantrag an das IOC folgte. Zu diesem Zeitpunkt, nach Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland, hatten die Hohen Kommissare, deren Mitspracherecht in auswärtigen Angelegenheiten fortbestand, ihre ursprünglichen Vorbehalte aufgegeben, sodass auf der 44.IOC-Session im Mai 1950 eine provisorische Anerkennung erreicht werden konnte. Diese Kompromissentscheidung nahm Rücksicht auf kriegsbedingte Einwände, die vor allem in den Niederlanden, Belgien, Dänemark und Norwegen bestanden. Mit der NOK-Bezeichnung „für Deutschland“ war ein Anspruch auf gesamtdeutsche Repräsentanz impliziert, die von den Olympiern mit einer grotesken Begründung akzeptiert wurde: Das IOC verwies auf den Umstand, dass ein Vertreter Ostdeutschlands – der damals bereits aus der SBZ geflüchtete Herzog von Mecklenburg – IOC- und NOK-Mitglied sei(8).

Überraschend musste im Oktober 1950 die IOC-Entscheidung wirken, ein NOK des Saarlands anzuerkennen, die eine Olympiateilnahme einer saarländischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1952 ermöglichte. Hätte sich das IOC an das in seiner Satzung verankerte Neutralitätsprinzip gehalten, wäre es plausibel gewesen, der DDR das gleiche Recht einzuräumen. Diese verfolgte jedoch im Einklang mit ihren deutschlandpolitischen Parolen („Deutsche an einen Tisch!“) zunächst einen anderen Kurs. In einer Entschließung des ZK der SED wurde noch im März 1951 ein „gesamtdeutsches Nationales Olympisches Komitee“ gefordert, das im Einklang zwischen der Bundesregierung und dem NOK-Präsidenten Ritter von Halt von westdeutscher Seite strikt abgelehnt wurde. Überraschenderweise wurde am 22. April 1951, einen Tag vor der Sowjetunion, das NOK der DDR gegründet. Die Wahl des Termins war augenscheinlich durch die unmittelbar bevorstehende IOC-Session bestimmt, die vom 7. bis 9. Mai 1951 stattfand und die letzte Gelegenheit bot, in einem regulären Verfahren die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1952 sicherzustellen. Sie hielt der DDR außerdem die Möglichkeit offen, ihre politische Doppelstrategie weiterzuverfolgen, die sich zwischen den Polen deutsche Einheit und staatliche Anerkennung bewegte.

Die Wiener Entscheidung des IOC war für die DDR enttäuschend. Während das bundesdeutsche NOK (protokollarisch in der französischen IOC-Amtssprache als „l’Allemagne de l’Ouest“ bezeichnet) auf Empfehlung des Exekutivkomitees ohne formelle Abstimmung voll anerkannt wurde, musste das DDR-NOK eine Ablehnung seines Aufnahmeantrags hinnehmen: Es musste sich mit der an beide Seiten gerichteten IOC-Aufforderung begnügen, unverzüglich Verhandlungen über eine gemeinsame Olympiamannschaft und ein gemeinsames  Olympisches Komitee aufzunehmen, über deren Resultate nach Monatsablauf dem IOC Bericht erstattet werden sollte. Es war absehbar, dass diese zwischendeutsche Abstimmung in Anbetracht der Ausgangslage scheitern musste. Ritter von Halt schrieb nach der zweiten Gesprächsrunde am 21.Mai an Bundeskanzler Adenauer:“Auch diese Besprechung leitete ich so, daß sie ergebnislos verlaufen mußte. Die Beratungen selbst waren außerordentlich schwierig, weil die Vertreter der Ostzone sich zu jedem Entgegenkommen bereit erklärten und weil sie ihre Wünsche auf eine zahlenmäßige Vertretung in dem gesamtdeutschen Komitee auf ein Minimum herabzusetzen gewillt waren.“(9) Nach dem Scheitern der bilateralen deutschen Gespräche formulierte das IOC-Exekutivkomitee unter Vorsitz des IOC-Vizepräsidenten Brundage am 22. Mai in Lausanne ein Kommunique, das schließlich trotz erheblicher ostdeutscher Bedenken von beiden Seiten unterzeichnet wurde. Es enthielt für das NOK der DDR eigentlich unannehmbare Festlegungen:(1)Gemäß den olympischen Regeln wird anerkannt, dass nur ein deutsches NOK Mitglied im IOC sein kann. (2) Beide Seiten bilden für die Olympischen Sommerspiele 1952 in Helsinki eine gemeinsame Mannschaft, für die das NOK Deutschland-West verantwortlich sein soll(10). Für die Bestätigung dieses Kommuniques wurden die DDR-Abgesandten Edel und Scharch(11) nach ihrer Rückkehr durch Walter Ulbricht persönlich scharf gerügt, doch erweckte die DDR-Presse den Eindruck, in Lausanne seien Verabredungen getroffen worden, die eine gleichberechtigte Teilnahme von DDR-Sportlern ermöglichten. Erst am 2. September 1951 erklärte das NOK der DDR die Vereinbarungen von Lausanne  mit der Begründung für nichtig, das westdeutsche NOK habe sie gebrochen, weil es weder Konsultationsgespräche zur Aufstellung einer gemeinsamen Olympiamannschaft initiiert noch Verhandlungen über ein gemeinsames Komitee angeboten habe. Eine letzte deutsche Initiative, die Blockade zu überwinden, scheiterte im November 1951. Zwei Gesprächsrunden hatten für beide Seiten nur noch eine Alibifunktion im Propagandalärm der Schuldzuweisungen. Dabei musste das bundesdeutsche NOK berücksichtigen, dass sich eine deutliche Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung (im Juni 1951 waren es nach einer Allensbach-Umfrage 62%)  für eine gemeinsame Mannschaft und ein gemeinsames Komitee ausgesprochen hatte. Auch eine letzte Initiative des IOC-Vizepräsidenten Brundage konnte den Wunsch der Olympiaveranstalter von Helsinki nicht erfüllen, eine gemeinsame deutsche Mannschaft an den Start zu bringen. Der Einigungsversuch von Kopenhagen scheiterte am 8. Februar 1952, bevor er begonnen hatte. Über die Schuldfrage gibt es bis heute keine Klarheit. Das (unverschuldete) verspätete Eintreffen der DDR-Verhandlungsgruppe und ihr (als provozierend empfundener) Wunsch nach einer Rekreationspause vor Gesprächsbeginn provozierten vor allem den noch amtierenden IOC-Präsidenten Sigrid Edström, der mit seiner Geduld am Ende war und das Unternehmen abrupt absetzte.

Die Rolle der Fachverbände

Die westdeutsche Seite hatte damit diese erste Runde der sportpolitischen Auseinandersetzung auf dem Weg nach Olympia durch die wohlwollende Unterstützung der westlich orientierten IOC-Mehrheit eindeutig für sich entschieden. Doch dieser Erfolg erwies sich als vorläufig und zweischneidig: Die internationalen Fachverbände wollten und konnten eine Isolierung der Sportler aus der DDR, die zudem durch ein rasch ansteigendes Leistungsniveau auf sich aufmerksam machten, nicht dauerhaft akzeptieren. Sie waren zusätzlich mit einer widerspruchsvollen Situation konfrontiert. Einerseits hatten sich  in verschiedenen Sportarten innerdeutsche Sportbeziehungen mehr oder weniger intensiv entwickelt, andererseits schlossen die Statuten der meisten Fachverbände den offiziellen Sportverkehr mit Nichtmitgliedern aus. Für den neutralen Beobachter ergab sich im Hinblick auf den gesamtdeutschen Sport ein irritierendes Bild: Im August 1949 hatten erste Deutsche Meisterschaften im Rudern stattgefunden (die noch bis 1957 ausgetragen wurden). 1951 wurden in West-Berlin Deutsche Tischtennismeisterschaften veranstaltet und 1953 nahm – ein einmaliges Ereignis – eine gesamtdeutsche Mannschaft an der Europameisterschaft im Baketball in Moskau teil. Für diese erstaunlichen Vorgänge gibt es einfache Erklärungen, die sich aus der unterschiedlichen Haltung der  internationalen Fachverbände zu den deutschen Verhältnissen ergeben. Als einziger Fachverband hat der Internationale Amateur-Basketball-Verband FIBA die 1932 erworbene deutsche Mitgliedschaft nach Kriegsende nicht aufgehoben. Der Internationale Tischtennis-Verband ITTF hatte im Ergebnis enger früher gesamtdeutscher Kontakte schon 1951 die internationale Startberechtigung gesamtdeutscher Mannschaften durch die Anerkennung eines „Arbeitsausschusses Deutschland“ legitimiert. Und der Internationale Verband der Ruder-Vereine FISA hat die DDR-Sektion zwar erst 1955 formell als Mitglied aufgenommen, aber keine Einwände gegen Deutsche Meisterschaften erhoben und von 1955 bis 1965 gesamtdeutsche Mannschaften bei internationalen Titelkämpfen starten lassen(12).

Diese Beispiele zeigen, dass die westdeutschen Fachverbände keineswegs eine einheitliche Haltung im Hinblick auf gesamtdeutsche Sportbeziehungen einnahmen, teilweise auch entgegen den Erwartungen und Pressionsversuchen der bundesdeutschen Politik unabhängig und eigenverantwortlich agierten. Jakob Kaiser, Minister für gesamtdeutsche Fragen, hatte sich 1951 dezidiert gegen innerdeutsche Sportkontakte mit der plakativen Behauptung ausgesprochen, man trete dabei nicht „gegen deutsche Sportler, sondern gegen die Beauftragten der russischen Besatzungsmacht“ an(13).

Ausgangspunkt für den Versuch, eine einheitliche Haltung der Fachverbände für den innerdeutschen Sportverkehr zu entwickeln, war eine Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Sport vom 7. Mai 1950: „Ein offizieller Sportverkehr mit der Ostzone soll nur dann aufgenommen werden, wenn dies unter freien demokratischen Grundsätzen möglich ist. Die Verbände halten einen Erfahrungsaustausch aufrecht, der Freundschaftsverkehr soll weiter gepflegt werden.“(14) Diese Haltung wurde vom DSB in seinen Stuttgarter Beschlüssen vom 27. Mai 1951 grundsätzlich bestätigt und präzisiert. Danach sollten Sportbegegnungen nur dann stattfinden, wenn eine agitationsfreie Durchführung sichergestellt und eine Genehmigung durch den Fachverband erfolgt wäre(15). Unabhängig von den internationalen Fachverbänden hatten die Schwerathleten am 22. November 1950 die Deutsche Athleten-Union (DAU) gegründet, die selbst nach Aufnahme der Sektion Ringen der DDR in den Internationalen Amateur-Ringer-Verband FILA am 17. Juli 1952 zunächst weiter bestehen blieb. Die negative Haltung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), der sich bis 1956 erfolgreich gegen eine eigene Mitgliedschaft des (Ost-)Deutschen Verbandes für Leichtathletik (DVfL) im Internationalen Amateur-Leichtathletik-Verband IAAF gewehrt hatte, und der gesamtdeutsche Schulterschluss der DAU bildeten die beiden Pole eines schillernden Spektrums der westdeutschen Fachverbände. Diese divergierende Praxis veranlasste den DSB im Januar 1952 auf dem Bundestag in München eine „einheitliche Haltung“ der Fachverbände im innerdeutschen Sportverkehr zu fordern und dabei die Verhandlungsführung zu reklamieren. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass auch die internationalen Fachverbände unterschiedliche Positionen bezogen hatten. So hatte die DDR Ende 1952 die Mitgliedschaft in 12 internationalen Fachverbänden erreicht, darunter im Skisport, Fußball, Boxen und Schwimmen.

Das Krisenjahr 1952

Während der DDR-Sport erste Erfolge im Hinblick auf eine internationale Anerkennung registrieren konnte, wurde das Olympiajahr für die innerdeutschen Sportbeziehungen zu einem Krisenjahr, das zugleich eine wichtige Zäsur in der deutschen sportpolitischen Entwicklung markierte. Am 27. Mai 1952 wurden für Sportler aus West-Berlin diskriminierende Sonderbestimmungen (Ausfüllen von Fragebögen mit inquisitorischem Inhalt) bei Einreisen zu Sportbegegnungen in der DDR festgelegt, die den Sportverband Berlin veranlassten, den „Sportverkehr mit der SBZ“ abzubrechen. Das DSB-Präsidium solidarisierte sich am 20./21. September 1952 in den „Oberweseler Beschlüssen“ mit seinem Berliner Verband: „Der Deutsche Sportbund stellt sich mit einstimmigem Präsidialbeschluß hinter den Sportverband Berlin. Mit all seinen Fachverbänden und Vereinen bricht er daher auch seinerseits mit sofortiger Wirkung den gesamten Verkehr mit den Sportorganisationen der sowjetisch besetzten Zone und des Berliner Ostsektors ab.“(16) Die Resonanz auf diese konsequente Entscheidung war unter westdeutschen Sportlern unterschiedlich, auch die Fachverbände reagierten zwischen rückhaltloser Unterstützung und grundsätzlicher Kritik mit der Begründung, dass die Mitglieder des DSB an dieser Entscheidung nicht beteiligt worden waren. Einzelne Sportgruppen haben den DSB-Beschluss auch unterlaufen, indem sie zu Wettkämpfen in die DDR reisten. Vor allem die Gegner der Oberweseler Beschlüsse mögen überrascht gewesen sein, dass die DDR schnell einlenkte und Ende November durch den Deutschen Sportausschuss ihre Verhandlungsbereitschaft signalisierte. Bereits am 12. Dezember wurden in West-Berlin Verhandlungen zwischen dem DS und dem DSB aufgenommen. Sie führten zur Rücknahme der Oberweseler Beschlüsse und zum Abschluss des „Berliner Abkommens“, das etwas euphemistisch als „der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag auf dem Gebiet des Sports“(17) bezeichnet worden ist und als Rahmenvereinbarung mit vergleichbarer Bedeutung erst durch das deutsch-deutsche Sportprotokoll 1974 abgelöst wurde(18). Die westdeutsche Seite konnte  zwei Verhandlungserfolge verbuchen. Sie erreichte die Aufhebung der Sonderbestimmungen für Westberliner Sportler und die – freilich unverbindliche –  Zusage des DS, „seine bisherigen Bemühungen, den Westberliner Sportlern Vergünstigungen zu verschaffen, fortzusetzen“. Außerdem konnte sie für gesamtdeutsche Sportveranstaltungen eine erstmals von beiden Seiten anerkannte Neutralitätsverpflichtung durchsetzen, die u.a. „parteipolitische Ansprachen“ sowie „Ausschmückungen…mit parteipolitischen Tendenzen“ untersagte, ebenso „Flaggen, außer der schwarz-rot-goldenen und den Flaggen oder Wimpeln der beteiligten Sportorganisationen, zu hissen“. Als Gegenleistung zu den ostdeutschen Zugeständnissen „empfiehlt“ der DSB im Berliner Protokoll seinen Fachverbänden „die Anerkennung des Anspruchs der Sektionen der DDR auf Aufnahme in die internationalen Fachverbände“(19).

Ob es sich beim Berliner Abkommen um einen „Pyrrhussieg“(Ulrich Pabst) für den DSB handelte, ist zu bezweifeln. Dass der DSB damit „in verklausulierter Gestalt“ die „Drei-Staaten-Theorie“ unterschrieben habe, ist schwer nachvollziehbar(20). Für den Sport war die unbestrittene Zugehörigkeit des Sportverbandes Berlin zum DSB und zu den internationalen Fachverbänden entscheidend, ein weitergehendes politisches Mandat konnte ihm nicht zukommen. Außerdem bot die Vereinbarung zur politischen Enthaltsamkeit bei Sportveranstaltungen eine formale Berufungsgrundlage gegen propagandistischen Missbrauch, auch wenn ihre Wirksamkeit begrenzt sein mochte. Das wichtigste westdeutsche Zugeständnis erfolgte im Hinblick auf die internationalen Fachverbände, wobei der DSB seine abwehrende Haltung zu einem Zeitpunkt aufgab, als seine Verhandlungsstrategie zunehmend erodierte und teilweise auch als politisch motivierte Obstruktionshaltung wahrgenommen wurde(21). Willi Daume hat den Positionswechsel rückblickend damit begründet, „auf internationalem Parkett nicht das makabre Schauspiel bieten zu wollen, daß die Deutschen sich bemühen, andere Deutsche vom internationalen Sportverkehr auszuschließen“(22).

Zwischen Entspannung und Repolitisierung

Der DSB-Präsident Daume hatte bereits Anfang 1953 die ermutigende Feststellung getroffen, der gesamtdeutsche Sport sei „einer der wenigen noch möglichen Versuche, letzte Fäden der deutschen Gemeinsamkeit weiterzuspinnen“(23). Im November 1953 wurden nach einem Beschluss beider Fachverbände  Deutsche Meisterschaften im Schwimmen veranstaltet, im folgenden Jahr organisierten die Fachverbände gemeinsame Meisterschaften in sieben Sportarten (Rudern, Tischtennis, Segeln, Gewichtheben, Rasenkraftsport und Ringen). Allerdings strebte die östliche Seite solche Meisterschaften nur dann an, wenn dabei ein Leistungsniveau und Abschneiden erwartet werden konnte, das „mindestens dem der westdeutschen Sportler entsprechen muss“(24). Im Hinblick auf gemeinsame Mannschaften bei internationalen Meisterschaften kam es gelegentlich auch zu grotesken Zumutungen. So forderte die Sektion Tischtennis der DDR im November 1954 eine paritätische Besetzung der gemeinsamen Mannschaft für die kommenden Weltmeisterschaften in Bombay, unabhängig von der sportlichen Leistung.

Ein Beschluss der 2.Parteikonferenz der SED im Juli 1952 hatte zur Bildung eines in den  Ministerrat der DDR eingegliederten „Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport“ geführt(25). Mit der Leitung wurde Manfred Ewald beauftragt, der damit zum führenden Funktionär des DDR-Sports aufsteigen sollte. Nach dem Prinzip der doppelten Unterstellung war der DDR-Sport dadurch nicht nur unter Kontrolle der Parteiführung, sondern auch unmittelbar in die staatliche Leitungsstruktur eingebunden. Der DS war damit weitgehend entmachtet und nur noch für die innerdeutschen und internationalen Sportbeziehungen zuständig, für die ein staatsunabhängiger Verband nach den Regeln des IOC erforderlich war. Die Hoffnungen auf eine politische Enthaltsamkeit des DDR-Sports, die mit dem Berliner Abkommen verbunden waren,  sollten sich schon bald als trügerisch erweisen.1954 instrumentalisierte die SED auch den Sport massiv für Propagandakampagnen gegen die Pariser Verträge, die sich gegen die bevorstehende Westintegration der Bundesrepublik richteten. Diese verstärkte Repolitisierung von Sportkontakten hatte für den DDR-Sport allerdings einen Rückschlag in ihren Bemühungen um olympische Anerkennung zur Folge. Im Mai 1954 wurde ein erneuter Antrag des NOK der DDR auf Anerkennung durch das IOC mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.

Der Weg nach Melbourne

Zu einem Meinungsumschwung im IOC hat eine Reise des IOC-Präsidenten Brundage beigetragen, der im Juli 1954 die Allunions-Spartakiade in Moskau besuchte und dabei mit dem ostdeutschen NOK-Funktionär Erich Riedeberger zusammentraf. Zusammen mit dem sowjetischen NOK-Präsidenten Adrianow signalisierte Riedeberger die Bereitschaft der DDR, eine gemeinsame Olympiamannschaft zu bilden. Der kurz vor der 50. IOC-Session in Paris gestellte neue Aufnahmeantrag wurde in erster Linie politisch begründet: „Die DDR ist ein souveräner Staat mit eigener unabhängiger Regierung, mit diplomatischen und Handelsbeziehungen zu vielen Ländern der Welt und hat deshalb wie jedes andere Land ein Recht auf anerkannte olympische Vertretung. Das NOK der DDR ist entsprechend den Satzungen des IOC unabhängig und selbständig.“(26) Nachdem NOK-Präsident Heinz Schöbel in einem Vorgespräch mit Brundage die Frage verneint hatte, ob das DDR-NOK eine politische Organisation sei, war der Weg frei. Am 17. Juni 1955 erkannte das IOC das NOK der DDR provisorisch an: „Es wird mit 27 zu 7 Stimmen entschieden, daß das Olympische Komitee der Demokratischen Republik von Deutschland (Ost) vorläufig und mit der Maßgabe anerkannt wird, daß diese Anerkennung automatisch erlischt, wenn es sich als unmöglich herausstellen sollte, eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft zu bilden und diese nach Melbourne zu entsenden. Im Falle, daß Schwierigkeiten auftreten, bietet sich der IOC-Präsident an, als Schlichter zwischen beiden Olympischen Komitees zu wirken. Es versteht sich von selbst, daß das IOC nach der Wiedervereinigung nur ein Deutsches Olympisches Komitee für das ganze Land anerkennen wird.“(27) Dieser protokollarisch fixierte Beschluss ist politisch ebenso widersprüchlich wie die entstandene Lage. Das IOC hatte die Antragsbegründung des DDR-NOK, einen souveränen, unabhängigen Staat zu repräsentieren, durch seine provisorische Anerkennung gerade nicht akzeptiert, indem es die Perspektive der Wiedervereinigung, die vor allem der Haltung Brundages entsprach, in den Vordergrund rückte und ausdrücklich den Übergangscharakter der getroffenen Entscheidung betonte. Andererseits bedeutet die Formulierung von den „beiden deutschen Olympischen Komitees“ eine erste Annäherung an die von der DDR geforderte Gleichberechtigung. Diese wurde jedoch unter den Vorbehalt gestellt, dass die provisorische Anerkennung für das NOK der DDR bei einem Scheitern der Verhandlungen „automatisch erlischt“.Die DDR stand daher unter einer Art Einigungszwang, wollte sie den mühsamen Teilerfolg von Paris nicht gefährden.

Der Grundsatzentscheidung des IOC folgten zwischen August 1955 und Januar 1956 vier schwierige Verhandlungsrunden. Doch haben sie ohne Mitwirkung internationaler Akteure zu Kompromissen geführt, die sich auch später als tragfähige Rahmenbedingungen für eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft erweisen sollten. Für die Nominierung der Olympiateilnehmer wurden gesamtdeutsche Olympiaausscheidungen vereinbart, die von den Fachverbänden organisiert werden sollten. Gegen den ursprünglichen Widerstand der ostdeutschen NOK-Vertreter erreichte das westdeutsche NOK, dass es die wichtige symbolpolitische Funktion des Chef de Mission für sich durchsetzen konnte, ohne dass für die ostdeutschen Sportler zusätzlich ein eigener Mannschaftsführer konzediert wurde. Erst in der letzten Verhandlungsrunde kurz vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Cortina d’Ampezzo konnte dieses ostdeutsche Zugeständnis erreicht werden, das eine massive öffentliche Kritik Walter Ulbrichts hervorrief: „Wer die Führung hat, ist nicht gleich! Vom Standpunkt des Kampfes um das friedliche und demokratische Deutschland ist es notwendig, daß die Deutsche Demokratische Republik absolut gleichberechtigt teilnimmt; das ist das Minimum.“(28) Diese Konzession ließ erkennen, dass die DDR ihre Olympiateilnahme unter keinen Umständen aufs Spiel setzen wollte. Einfacher war es, sich über Flagge, Hymne und Emblem zu einigen. 1956 hatten beide deutschen Staaten noch die gleiche schwarz-rot-goldene Fahne, die erst 1959 durch das Staatsemblem der DDR ergänzt und im Westen als „Spalterflagge“ strikt abgelehnt wurde. Die westliche Seite favorisierte zunächst eine Regelung, für Olympiasieger die jeweilige Landeshymne zu spielen, bei Erfolgen einer gemeinsamen Mannschaft (etwa bei Staffelwettbewerben in der Leichtathletik oder im Schwimmen) sollte auf das Abspielen einer Hymne verzichtet werden. Diese Regelung rief das Auswärtige Amt auf den Plan, das die Befürchtung hegte, die „Becher-Hymne“ könnte die Anerkennungsbemühungen der DDR fördern. So einigte man sich am 15. Oktober 1955 in Köln, Beethovens Hymne an die Freude für deutsche Olympiasieger erklingen zu lassen. Zum Politikum wurde auch das Emblem, das die deutschen Sportler auf ihren Trikots tragen sollten. Ende August hatte das westdeutsche NOK dafür den Adler auf schwarz-rot-goldenem Hintergrund vorgeschlagen, diese Lösung war für die DDR nicht akzeptabel. Daher verständigte man sich am 12. November in Ost-Berlin auf die Olympischen Ringe im schwarz-rot-goldenen Feld (29).

Die VII.Olympischen Winterspiele in Cortina d’Ampezzo (26. Februar bis 5. März) und die XVI. Sommerspiele in Melbourne (22. November bis 8. Dezember) haben die getrennten Deutschen 1956 für kurze Perioden zum ersten Mal wieder vereint. Es war ein konfliktreicher Prozess, der dieses Ergebnis ermöglichte. Und wenn auch manche Politiker, zumal die SED-Führung, die gewonnenen Medaillen wieder nach Ost und West separierten, freuten sich die allermeisten Menschen in Deutschland in gleicher Weise über die Erfolge ost- und westdeutscher Sportler: von Ossi Reichert, die im Riesenslalom der Spiele von Cortina siegte, bis zu Wolfgang Behrendt, der im Boxen die erste Goldmedaille eines DDR-Athleten gewann. Dass es gelungen ist, die gemeinsame deutsche Olympiamannschaft auch bei den Olympischen Spielen 1960 und 1964 zu erhalten und eine gemeinsame Flagge und Hymne bis zu den Olympischen Spielen in Mexiko zu verteidigen, kann als ein wichtiger Beitrag des Sports zur symbolpolitischen Darstellung der „Einheit der deutschen Nation“ gewürdigt werden (30). Es gab keinen sinnfälligeren Ausdruck für diese deutsche Gemeinsamkeit in Zeiten der Spaltung, bevor diese selbst Geschichte wurde.

_____________

Anmerkungen

(1)  Für diese Studie konnte vor allem auf zwei gründliche Untersuchungen zurückgegriffen werden: Ulrich Pabst: Sport – Medium der Politik. Der Neuaufbau des Sports in Deutschland nach dem 2.Weltkrieg und die innerdeutschen Sportbeziehungen bis 1961, Berlin 1980; Norbert Lehmann: Internationale Sportbeziehungen und Sportpolitik der DDR.Teil I: Entwicklung und politische Funktionen unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-deutschen Sportbeziehungen, Münster 1986. Interessante Einzelstudien enthält der Sammelband von Wolfgang Buss/Christian Becker (Hrsg.): Der Sport in der SBZ und frühen DDR.Genese – Strukturen – Bedingungen, Schorndorf 2001.

(2)  Vgl. dazu Lorenz Peiffer/Matthias Fink: Zum aktuellen Forschungsstand der Geschichte von Körperkultur und Sport in der DDR. Eine kommentierte Bibliografie, Köln 2003.

(3)  Zit. nach Pabst (wie Anm.1), S.76.

(4)  Ebd.

(5)  Walter Ulbricht: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bd.III, Berlin 1953, S.477.

(6)  Pabst (wie Anm.1), S.58.

(7)  Heinz Andrae: Der Berliner Sport zwischen Ost und West, in: Berliner Sport, H.1/1952, S.130.

(8)  Der IOC-Exekutivausschuss befand am 19.Oktober 1949: „Der einzige strittige Punkt ist, daß Deutschland eigentlich in zwei Teile geteilt ist. Andererseits scheint aber auch diese Frage gelöst, da das deutsche NOK, das in Bonn gebildet wurde, unter seinen Mitgliedern einen Vertreter Ostdeutschlands hat…“ (Sportinformationsdienst vom 20.10.1949, Blatt 3).

(9)  Zit. nach Pabst (wie Anm.1), S.185.

(10) Vgl. Bulletin du Comité International Olympique, Lausanne 27/1951.

(11) Über die politische Vorinstruktion, den Gesprächsablauf in Lausanne und die Reaktion der Parteiführung nach Rückkehr berichtet (nach seiner Flucht in die Bundesrepublik) der ostdeutsche NOK-Vertreter Werner Scharch: Ist der Sport ein politisches Phänomen? Unveröff. Manuskript 1964.

(12) Aufgrund von Beschlüssen der internationalen Fachverbände starteten bei den Leichtathletik-Europameisterschaften von 1956 bis 1964 gesamtdeutsche Mannschaften, ebenso bei den Weltmeisterschaften im (Feld-)Handball von 1956 bis 1961.

(13) Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Sportverkehr mit der Sowjetzone? Ja oder Nein? Ein Wort an die deutschen Sportler der Bundesrepublik, Bonn 1951, S.6.

(14) Zit. nach Pabst (wie Anm.1), S.142.

(15) Vgl. dazu Lehmann (wie Anm.1), S.137ff.

(16) Zit. nach Lehmann (wieAnm.1), S.142.

(17) Martin H. Geyer: Der Kampf um nationale Repräsentation. Deutsch-deutsche Sportbeziehungen und die „Hallstein-Doktrin“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, H.1/1996, S.62.

(18) Vgl. dazu die sorgfältige Studie von Hans-Dieter Krebs: Das deutsch-deutsche Sportprotokoll. Entwicklungsgeschichte und politische Bedeutung -eine quellenhistorische Analyse ( sportwiss.Diss.), Mainz 2001.

(19) Der Text des Berliner Abkommens ist dokumentiert bei Krebs (wie Anm.18), Quellenteil, S.3 – 5 , hier S.4f.

(20) So Pabst (wie Anm.1), S.155. Diese Einschätzung wird von Lehmann (wie Anm.1), S.145 als „treffend“ übernommen.

(21) Die Geschichte der Aufnahme von DDR-Sektionen in die internationalen Fachverbände für den Zeitraum von 1950 bis 1955  behandelt ausführlich Lehmann (wie Anm.1), S.284ff. Vgl. insbesondere Schaubild 7 (S.288). Ende 1955 war die DDR in 19 internationalen Fachverbänden (darunter 14 olympischen Sportarten) als Mitglied vertreten.

(22) Zit. nach Pabst (wie Anm.1), S.174.

(23) Ebd., S.156.

(24) So formulierte es eine Beschluss-Empfehlung des DS-Sekretariats im März 1954. Zit. nach Krebs (wie Anm.18), S.57.

(25) Dieses Komitee, dem auch die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) unterstellt wurde, spielte bei der staatlichen Förderung des Leistungssports in der Folgezeit eine zentrale Rolle. Zu diesem Zweck wird an der DHfK am 1.September 1956 eine Forschungsstelle eingerichtet.

(26) In: Gesellschaft zur Förderung des olympischen Gedankens in der DDR (Hrsg.): München 1972 – Schicksalsspiele?Dokumentation über den Mißbrauch der olympischen Bewegung und ihrer Spiele durch den deutschen Imperialismus, Berlin 1969, S.28.

(27) Zit. nach Guido von Mengden: Tatsachen und Daten zur Geschichte des gesamtdeutschen Sportverkehrs, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.): Jahrbuch des Sports 1959/60, Frankfurt/Main 1959, S.57.

(28) Zit. nach Wolfgang Eichel u.a. (Hrsg.): Geschichte der Körperkultur in Deutschland von 1945 bis 1961, Berlin 1967, S.170.

(29) Vgl. dazu ausführlich Lehmann (wie Anm.1), S.307ff.

(30) Zum Komplex der gesamtdeutschen Olympiateilnahme vgl. insbesondere Karl Adolf Scherer: 75 Olympische Jahre. Eine Dokumentation über die olympische Bewegung in Deutschland 1895-1970, München 1970; Arnd Krüger: Deutschland und die Olympische Bewegung (1945-1980), in: Horst Ueberhorst (Hrsg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart (Geschichte der Leibesübungen, Bd.3/2), Berlin 1982, S.1051ff.; Manfred Blödorn (Hrsg.): Sport und Olympische Spiele, Reinbek 1984.

© Rüdiger Thomas

In: Helmut Wagner [Hrsg.]: Europa und Deutschland Deutschland und Europa. Münster 2005, S.257-272

Die Botschaft der sakralen Musik

Die Botschaft der  sakralen Musik

Text als Word-Dokument downloaden: 2005_Die_Botschaft_der_sakralen_Musik.rtf

 

Die Botschaft der  sakralen Musik

Als Papst Leo III. am Weihnachtsfest des Jahres 800 Karl den Großen in der Petersbasilika zum römischen Kaiser krönte, wurde die Zeremonie von sakralen Gesängen begleitet. Vielleicht erklang bei diesem denkwürdigen Ereignis, das den nach Rom gereisten König der Franken durch die unerwartete Handlung eines machtpolitisch gefährdeten Papstes überraschte, als feierlicher Einzugsgesang zur Meßfeier der Introitus Lux fulgebit. Er preist Christus u.a. als „Fürst des Friedens“, so wie die Römer – nach dem Bericht seines Biographen Einhard – Karl mit den Worten huldigten: „Dem erhabenen Kaiser, dem von Gott gekrönten großen und friedebringenden Kaiser der Römer, Leben und Sieg!“

Gregorianik
Die erste Periode der abendländischen sakralen Musik reicht bis in die Zeit zurück, als die Christen 313 nach dem Toleranzedikt Kaiser Konstantins, das die Gleichstellung des Christentums mit der antiken Religion verfügte, die Katakomben verlassen konnten und bald darauf die ersten Basiliken – nicht selten auf römischen Tempelfundamenten – errichtet wurden. Liturgische Gesänge sind bereits um die Mitte des 4. Jahrhunderts unter dem Einfluß der griechisch-byzantinischen, jüdischen und orientalischen Musiktradition in Mailand entstanden, wo in der Zeit von 374 bis 397 der vermutlich in Trier geborene Bischof Ambrosius wirkte. Als „Vater des strophischen Kirchenliedes“ hat er selbst verschiedene Hymnen gedichtet, die den Wesensgehalt der christlichen Heilslehre auf poetische Weise zum Ausdruck bringen.

Liturgische Gesänge erklangen im Gottesdienst und seit dem 6. Jahrhundert auch in den Ritualen der klösterlichen Gemeinschaften (dem „Stundengebet“) in Form von einstimmigen Vertonungen religiöser Texte, als Psalmodien (deklamatorisch gesungene Psalmverse im Anschluß an die jüdische Tradition), vorgetragen im Wechsel zwischen Vorsänger und Chor (Responsorium) oder als Wechselgesang zwischen zwei Chören (Antiphon). Während für viele hundert altgregorianische Antiphonen nur etwa 40 verschiedene Melodien überliefert sind, also eine häufige Wiederholung musikalischer Grundmuster diese Ausdrucksform bestimmt hat, sind die Responsorien durch eine reichhaltigere melodische Differenzierung und musikalische Expressivität gekennzeichnet. Ein markantes Beispiel liefert dafür der Alleluja-Vers, der schon in der Osterliturgie der frühen Kirche besonders kunstvoll gestaltet wurde.

Für die Entwicklung der Kirchenmusik hatte der 529 von Benedikt von Nursia gegründete Orden der Benediktiner eine große Bedeutung. In seiner für das Kloster Monte Cassino verfaßten Ordensregel hat Benedikt erstmals Grundsätze für die Ordnung der Meßfeier und ihre musikalische Gestaltung festgelegt. Zwei Jahrhunderte nach Ambrosius von Mailand nahm der Benediktiner-Papst Gregor I. (590 – 604) starken Einfluß auf die Entwicklung des liturgischen Gesangs. Zwar trifft die von frühen Chronisten verbreitete Behauptung nicht zu, daß er selbst komponiert habe, doch hat er die Sammlung und Ordnung der frühen sakralen Gesänge initiiert und die Voraussetzungen für ihre einheitliche Darbietung im (West-)Römischen Reich geschaffen. Da es bis zum 9. Jahrhundert keine schriftliche Aufzeichnung der Musik gegeben hat, konnte sie vor dieser Zeit nur mündlich tradiert werden. Papst Gregor reorganisierte  die für diese Auf-gabe bestimmten Sängergemeinschaften (Schola cantorum), die die römischen Liturgiegesänge in den anderen Regionen des Reiches verbreiten sollten. So wurde er zum Namenspatron der „Gregorianik“ – einer musikalischen Epoche, die bis zum Ende des 11. Jahrhunderts reichte. An der Durchsetzung der Vorherrschaft des gregorianischen Gesangs war schließlich auch noch Karl der Große beteiligt, der selbst  nach Mailand reiste, um die aus der byzantinisch-oströmischen Tradition hervorgegangenen „ambrosianischen Gesänge“ aus dem geltenden Kanon der Kirchenmusik zu entfernen.

Die Frühzeit der sakralen Musik ist heute auf zahlreichen Tonaufnahmen dokumentiert, doch müssen wir uns dabei bewußt sein, daß sie über einen Zeitraum von 500 Jahren nur durch mündliche Überlieferung bewahrt worden ist. Um das Jahr 600 konstatiert Isidor von Sevilla, Verfasser eines Universalhandbuchs, daß „Musik vergeht, sofern sie nicht vom Gedächtnis bewahrt wird, denn aufschreiben kann man sie nicht“. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie zumindest bis zum Ende des 9. Jahrhunderts ohne jede Instrumentalbegleitung praktiziert wurde, weil die Instrumentalmusik dem profanen Leben – etwa bei den römischen Circusspielen, bei Triumphzügen oder privaten Festen – Glanz verleihen sollte und damit als Ausdruck des Heidentums empfunden wurde. Erst mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit und in der Zeit der Gotik entwickelt und differenziert sich das Spektrum an Zupf-, Streich- und Blasinstrumenten. Kirchenorgeln gab es in einfacher Form bereits im 9. Jahrhundert u.a. in Aachen und Straßburg, im 10. Jahrhundert in Köln, Rom, Canterbury und Winchester, doch sind die großen Orgeln mit Registern und Pedal erst seit dem 14. Jahrhundert in Gebrauch (Florenz, Santa Maria Novella, 1379) und finden danach rasche Verbreitung.

Große Bedeutung für die Musikgeschichte hat die erste überlieferte Form der Aufzeichnung von liturgischen Gesängen, die mit der Entstehung der sogenannten Neumenschrift in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts verbunden ist. Sie geht aus den Handzeichen des Chorleiters (neuma ist der griechische Ausdruck für Wink, Gebärde) hervor. Die Neumen markieren nur die relative Höhe und Tiefe der Töne ohne Notenlinien und geben außerdem Hinweise auf die melodisch und rhythmisch differenzierte Vortragsart. Erst Guido von Arezzo (992 -1050) hat eine Notation eingeführt, die Neumen auf vier farblich verschiedenen Linien im Terzabstand darstellt. Sie wurde zum Vorläufer der quadratischen Notenschrift (der sogenannten Mensuralnotation), mit der nach der Tonhöhe nun auch die Tondauer exakt festgelegt werden konnte. Die Mensuralnotation wird Ausgangspunkt für die Entwicklung der am Umfang der Oktave orientierten gerundeten Notenschrift auf fünf Linien, die erst im Barock in der bis heute praktizierten Form voll ausgebildet ist und von Johann Sebastian Bach in seinem „Wohltemperierten Klavier“ in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten klanglich ausgeschritten wird.
Aus der Gregorianik wurden drei Musikbeispiele ausgewählt. Der Hymnus creator alme siderum (CD 1/1) stammt aus dem 10. Jahrhundert. Er ist durch eine getragene, liedhafte Melodik (den sogenannten Chorus planus) gekennzeichnet, in der die christliche Heilsbotschaft zusammengefaßt wird. Der eingangs erwähnte Introitus Lux fulgebit (CD 2/2) eröffnet die Meßfeier am Weihnachtsmorgen. Der Ruf Ecce lignum crucis (CD 1/4) ist Ausdruck der Kreuzverehrung, die den Höhepunkt der Kar-freitagsliturgie darstellt, in der es keine Eucharistiefeier gibt. Er wird dreimal angestimmt, jeweils einen Ton höher intoniert. Die aufsteigende Linie  weist schon auf die Verheißung der Erlösung voraus.

Gotik
Während die großen Anreger der sakralen Musik aus dem ersten Jahrtausend in den Annalen der Geschichte verzeichnet sind, blieben die Komponisten namenlos und treten erst im 12. Jahrhundert als Persönlichkeiten mit eigenem Profil in Erscheinung. An der Schwelle dieser Entwicklung, die zur mehrstimmigen Musik führt, steht eine Frau, die erst seit etwa 40 Jahren auch als Musikerin gewürdigt worden ist: Hildegard von Bingen (1098 -1179) – ein universeller Geist, der auf vielen Gebieten aus dem oft rätselvollen Dunkel des frühen Mittelalters in das Licht einer neuen Zeit tritt. Ihr außergewöhnliches Leben wird seit früher Kindheit durch Visionen geprägt. Schon mit acht Jahren lebt sie in einer Klause neben dem Benediktinerkloster auf dem  Disibodenberg an der Nahe und wird nach dem Tod ihrer geistigen Mentorin Jutta von Spanheim Äbtissin, seit 1150 im neu gegründeten Kloster Rupertsberg. Dort geht sie in vieler Hinsicht eigene Wege und hat sogar den Mut, öffentlich auf Marktplätzen zu predigen – in dieser Zeit ein unerhörter Vorgang. Obwohl sie sich als Mystikerin, Dichterin und Verfasserin naturheilkundlicher Schriften hohes Ansehen und eine weit verbreitete Bewunderung erworben hat, wurde sie wegen ihrer selbstbewußen Eigen-willigkeit von der Kirche nach einem langwierigen Prozeß nicht heiliggesprochen.

Von Hildegard sind 77 Gesänge und das vertonte Mysterienspiel „Ordo virtutum“ überliefert. Sie selbst hat ihre Musik als „Symphonie der himmlischen Offenbarung“ (symphonia harmoniae coelestium revelationum) charakterisiert. Die Seele erscheint ihr als Ausdruck der himmlischen Harmonie, aus der sie hervor-gegangen ist und  in die sie wieder eingehen wird. Ihr „Ordo virtutum“ schildert den Kampf der Tugenden mit dem Teufel um die menschliche Seele. In dieser Komposition, die 85 Gesänge (Antiphonen) umfaßt, stehen die begleitenden Instrumente für verschiedene Seelenzustände: Fiedeln grundieren ihre Klage-lieder, Harfen symbolisieren die erworbene Glückseligkeit und Flöten besingen ihre Gottesnähe. Dem Teufel dagegen wird jeder musikalische Ausdruck versagt. Hildegard hat keine musikalische Ausbildung erhalten, sie war nach eigenem Bekunden dies-bezüglich „ungebildet“ (indocta), ihre Kompositionen sprechen uns aber gerade durch die Intensität einer intuitiven Emotion und durch neuartige Klangeffekte an: Charakteristisch sind ein erweiterter Tonumfang (von zumeist eineinhalb, bei einer Komposition sogar zweieinhalb Oktaven), längere Melodiebögen, eine kühnere Tonsprache (mit Dur- und Moll-Modulationen) sowie eine akzentuierte Rhythmisierung. Die Wirkung ihrer Gesänge wird nicht zuletzt durch die Texte bestimmt, in denen sie der Jungfrau und Gottesmutter Maria eine zentrale Bedeutung verleiht. Die Antiphon O frondens virga (CD 1/2) verbindet die Worte virgo (Jungfrau) und virga (Reis, Pflanzentrieb) in einer naturmystischen Symbolik. (Die in der romanischen Kirche zu Knechtsteden entstandene Aufnahme ist mit einem einzigen Stereo-Kugelflächenmikrofon aufgenommen und nähert sich damit ursprünglichen Raumklangwirkungen an.)

Während die Musik Hildegards von Bingen noch aus der Tradition der einstimmigen Gregorianik gespeist wird, sind bereits aus der Mitte des 11. Jahrhunderts erste zweistimmige Kompositionen in England überliefert (aufgezeichnet im Winchester-Tropar). Es handelt sich dabei u.a. um Vertonungen des Kyrie und Gloria, die zum Ordinarium missae zählen, das den gleich-bleibenden Rahmen der katholischen Meßfeier bildet und aus den fünf Teilen Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei besteht. Das Kyrie, der Anruf Gottes um Erbarmen, ist dabei das einzige Element des Ordinariums in griechischer Sprache. Es ist bereits im 4. Jahrhundert in Antiochia und Jerusalem nachweisbar, die uns  geläufige Form von neun Anrufungen ist im 8. Jahrhundert entstanden. Das Gloria wurde in der frühchristlichen Zeit nur am Weihnachtsfest intoniert und war dem Bischof vorbehalten. Seine endgültige Fassung wurde im 9. Jahrhundert ausgebildet. Das Credo, ursprünglich als Taufbekenntnis gesprochen, kommt seit Anfang des 6. Jahrhunderts in der Liturgie des Orients vor, doch wird es erst 1014 in die römische Meßordnung integriert. Bereits um 120 ist das Sanctus nachweisbar, um das Jahr 400 wird es Bestandteil der Liturgie, während das Agnus Dei etwa 300 Jahre später in die Meßfeier eingefügt wird. Diese Entwicklung zeigt, daß sich die zentralen Komponenten der Liturgie in einem Zeitraum entwickelt haben, der etwa sieben Jahrhunderte umfaßt.

Die mehrstimmige sakrale Musik hat ihre ersten Höhepunkte in Frankreich erreicht und ist vor allem mit den Namen Perotinus (um 1155/65 – 1200/20) und Guillaume de Machaut (um 1300 -1377) verbunden. Perotinus Magnus ist der herausragende Vertreter der Schule von Notre Dame in Paris und der erste, von dem zwei vierstimmige Kompositionen zum Weihnachtsfest (Viderunt omnes) und zum Fest des hl. Stephanus (Sederunt principes) überliefert sind, die wahrscheinlich 1198/99 entstanden. In diesen beiden, der Gattung des Organum zugehörigen Quadrupla  sind drei variierende, lebhaft rhythmisierende Oberstimmen über eine als Cantus firmus geführte Choralmelodie gesetzt, wobei höchst modern anmutende, teils dissonante Klangeffekte entstehen, die minimalistische Komponisten der Gegenwart wie Steve Reich stark angezogen haben. Die Empfindungen der Gottesdienstbesucher in der Kathedrale von Notre Dame hat sich Heinrich Besseler vorzustellen versucht: „So wirkt das Organum, namentlich bei der seltenen, hochfeierlichen Vierstimmigkeit, als energievoll in sich schwingende Klangmasse, die den Kathedralraum wie ein rhythmisches Fluidum erfüllt, dem dunkelrötlich-violetten Licht gotischer Dome vergleichbar und in deren Wunderwelt zur Entzückung und Verzauberung der Herzen berufen.“  Außergewöhnlich ist die Länge dieser „avantgardistischen“ Musikstücke von zwölf  Minuten Dauer. (Sie sind in einer Aufnahme des Hilliard-Ensemble eindrucksvoll interpretiert worden.) Guillaume de Machaut, seit 1337 Kanonikus an der Kathedrale in Reims, hat fast ausschließlich weltliche Musik nach eigenen Dichtungen komponiert (die auch durch eine späte Liebesromanze inspiriert worden sind), doch ist er vor allem durch die erste vollständige Vertonung des Ordinariums in seiner „Messe de Nostre Dame“ berühmt geworden, die wahrscheinlich 1364 zur Krönung Karls  V. in Reims entstanden ist.

Obwohl die mehrstimmige Kompositionstechnik Perotinus und Machaut vordergründig verbindet, liegt zwischen beiden eine markante Zäsur der Musikgeschichte, der Philipp de Vitry mit seiner Schrift „Ars nova“ (um 1320) einen Namen gegeben hat. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts haben Komponisten, unterstützt durch eine ständig verfeinerte Notenschrift,  immer komplexere Formen der Polyphonie entwickelt, die sich durch rhythmische Raffinesse (subtilitas) sowie melodischen und harmonischen Wohlklang (dulcedo) auszeichnen und ein uns heute wesentlich vertrauteres Klangbild vermitteln als es die archaisch aufgerauhten Strukturen der „Ars antiqua“ eines Perotinus vermögen.

In der Tradition von Machaut erscheint Guillaume Dufay (um 1400 -1474) als ein Kulminationspunkt der „Ars nova“ in der Übergangsperiode zwischen Gotik und Renaissance, am Beginn der eigentlich neuzeitlichen Musik. Dufay hat entscheidende Jahre seines Lebens in Cambrai, dem Zentrum des Herzogtums Burgund, verbracht und war zugleich der erste musikalische Globetrotter, den sein Weg von Rimini und Pesaro über Tournai und Savoyen nach Rom, Bologna und Florenz führte, wo er 1436 zur Einweihung des Florentiner Domes eine Festmotette komponierte. Seine vierstimmige Messe L’homme armé (um 1460), aus der wir das Kyrie (CD 1/ 3)  vorstellen, führt die französische und flämische Musiktradition mit italienischen und englischen Anregungen (insbesondere von John Dunstable) zu einer klangmächtigen Synthese. Sie gehört zum Typ der bis ins 17. Jahrhundert weit  verbreiteten sogenannten „Parodiemessen“, in denen ein populäres weltliches Lied als Cantus firmus verwendet wird und nicht mehr – wie noch bei Machaut – ein gregorianischer Choral. Der Text, das Lob auf einen bewaffneten Helden, könnte sich auf Karl den Kühnen bezogen haben, der nicht nur als Feldherr, sondern auch als Förderer der Tonkunst galt. Die Komposition hat vier Schichten: Während die beiden Ober-stimmen die Melodie entfalten, markiert der Tenor als Rückgrat der Komposition den Cantus firmus und der Baß dient als tragendes Fundament. Dufay, von dem etwa 200 Werke (darunter acht Messen) überliefert sind, zählt zu den ersten Komponisten, die schon zu Lebzeiten internationalen Ruhm erlangten. In seinem Standardwerk zur „Musik des Mittelalters und der Renaissance“ (1931) resümiert Heinrich Besseler, „daß in der unsagbaren Ruhe und Schönheit der Musik Dufays die Stimme der Gotik sich aussingt“ – und schon den Klang der Frührenaissance hören läßt.

Renaissance
Als früher Meister der Renaissance-Musik, an Dufay anknüpfend, kann Josquin Desprez (um 1440 – 1521) gelten, der ebenfalls in der Gegend um Cambrai geboren ist und seine musikalische Karriere in Mailand begann, bevor er in die päpstliche Sängerkapelle berufen wurde, der er mindestens bis 1494 angehörte. Bezeichnend für seinen damals bereits erworbenen Ruhm ist eine Anekdote, die seiner Anstellung als Leiter der Hofkapelle in Ferrara 1503 vorausging. Als Fürst Ercole I d’Este einen neuen Kapellmeister suchte, gab ihm ein Agent folgenden Bericht, in dem er zwei der renommiertesten Kandidaten mitein-ander verglich: „(Heinrich) Isaac kommt besser mit seinen Kollegen aus und ihm geht das Komponieren neuer Werke schneller von der Hand. Josquin ist  zugegebenermaßen der bessere Komponist, doch er komponiert nur, wenn es ihm paßt (…) und er fordert ein Gehalt von 200 Dukaten, während Isaac mit 120 zufrieden ist.“ Die Geschichte zeigt, daß sich Kunstverstand und Geschäftssinn nicht ausschließen und illustriert gleichzeitig das Prestige, das sich prominente Musiker inzwischen erwerben konnten. Josquin Desprez bildet eine neue musikalische Affektsprache aus, die das Verhältnis von Wort und Ton verschmilzt: Die  Melodie soll den Sinn des Textes akzentuieren und seine Wirkung effektvoll verstärken, wie das in unsere Musikauswahl aufgenommene Ave Maria (CD 2/4) veranschaulicht. Berühmt geworden sind auch die Echowirkungen, die Josquin in verschiedenen Kompositionen (wie Qui habitat) meisterhaft inszeniert und seine erschütternden  Dissonanzen in dem Lamento Absalon fili mi. Cosimo Bartoli hat ihn 50 Jahre nach seinem Tod als „Wunder der Natur“ bezeichnet und seine Kunst mit der Architektur, Malerei und Skulptur von Michelangelo verglichen. Martin Luther hat seine Bewunderung in die Worte gefaßt: „Josquin ist Meister der Noten, die das ausdrücken müssen, was er befiehlt, während andere Komponisten das tun müssen, was die Noten vorschreiben.“

Die durch Martin Luthers Thesen-Proklamation 1517 in Wittenberg eingeleitete Reformation hat nicht nur die weströmische Kircheneinheit gesprengt, sondern auch die Entwicklung der Kirchenmusik als Medium zur Verkündigung des göttlichen Wortes nachhaltig beeinflußt. Das gegenreformatorische Konzil von Trient, das in drei Tagungsperioden zwischen 1545 und 1563 stattfand und die zentralen Dogmen der katholischen Kirche bekräftigte, beschäftigte sich auch mit der sakralen Musik, über deren Gestaltung ein heftiger Streit entbrannt war. Antimodernisten verteidigten den traditionellen Stil (modesta gravitas) gegenüber der expressiv-bewegten Figuralmusik einer „ausgelassenen Mutwilligkeit“ (lascivia) und forderten, diese aus den Kirchen zu verbannen.
Um diesen Streit zu entscheiden, wurde Giovanni Pierluigi Palestrina (1525 – 1594) durch das Konzil beauftragt, drei Messen zu komponieren. Sie wurden bei ihrer Aufführung am 19.Juni 1565 so begeistert aufgenommen, daß Palestrina als „Retter“ der kirchlichen polyphonen Vokalmusik gelten kann. Sein Stil ist durch eine transparente Vielstimmigkeit charakterisiert, die der konzi-liaren Forderung entspricht, daß jedes gesungene Wort verständlich sein müsse, wie das Sanctus (CD 1/12) aus der Missa sine nomine in erhabener Klangschönheit spüren läßt. Palestrina war 1551 nach Rom gekommen, wo er 1571 Kapellmeister an San Pietro wurde. Von ihm sind fast 1000 Werke – darunter mehr als 100 Messen –   überliefert, von denen die Missa Papae Marcelli schon bald einen legendären Ruf erlangte. Seine hohe Wertschätzung als „Fürst der Musik“ wird dadurch eindrucksvoll unterstrichen, daß er 1594 im Petersdom begraben wurde.

Im gleichen Jahr starb auch der im flandrischen Hennegau geborene Orlando di Lasso (1532 – 1594), der neben Palestrina als bedeutendster Komponist der Hochrenaissance gelten kann. Wie Palestrina kam er 1551 nach Rom, das er bereits nach vier Jahren wieder verließ, um 1556 an die herzogliche Hofkapelle in München zu gehen. In diesem europaweit berühmten Ensemble, das zeitweise mehr als 60 Mitglieder umfaßte, übernahm er sechs Jahre später das Amt des Kapellmeisters, das er bis zu seinem Tod mehr als 30 Jahre ausübte. Im Unterschied zu Palestrina hat Orlando di Lasso  gleichermaßen geistliche wie weltliche Werke in verschiedenen Sprachen komponiert. Von Kaiser Maximilian II. 1570 in den Adelsstand erhoben, war er der bestbezahlte Kompo-nist seiner Zeit und soll die meisten Noten der Weltgeschichte geschrieben haben, darunter 60 Messen und 100 Magnificats. Orlando di Lasso hatte die alte Kompositionstechnik verlassen, eine vorhandene Melodie  als Grundlage einer Komposition zu benutzen. In seiner polyphonen Musik sind alle Stimmen frei erfunden. Der Vortrag seiner Kapelle wird von Zeitzeugen als „geflüsterter Klang“ beschrieben, wodurch die subtile Aus-gestaltung seiner Kompositionen vermutlich ihre besondere Wirkung entfalten konnte.
Das Magnificat, der Lobgesang auf die Verkündigung der Menschwerdung Christi durch die „Gottesgebärerin“ (wie Maria seit dem Konzil von Ephesos 431 genannt wurde), bildet seit dem hl. Benedikt den Höhepunkt der Vesper im Stundengebet der Mönche und Ordensfrauen. Seit dem 15. Jahrhundert erlangt es auch in der mehrstimmigen Musik eine herausragende Bedeutung. Wir haben die sechsstimmige A-capella-Komposition von Orlando di Lasso (CD 1/10) dem reich instrumentierten doppelchörigen Magnificat von Giovanni Gabrieli (CD 1/11) direkt gegenübergestellt, um den markanten Stilwandel zu verdeutlichen, der zwischen den Meisterwerken der Spätrenaissance und den ersten Glanzlichtern des Frühbarock besteht.

Barock
Giovanni Gabrieli (1555 – 1612) und mehr noch Claudio Monteverdi (1567 – 1643) stehen als einsame Größen am Anfang des Barockzeitalters. Ihre Musik hat bereits wesentliche Merkmale ausgebildet, die für die Barockmusik charakteristisch sind. Gabrielis mächtige Doppelchöre mit reicher Instrumentalbegleitung weisen ebenso auf die großen Chorwerke Händels voraus, wie sich in Monteverdis Kompositionen die Ursprünge von Oper, Kantate und Oratorium entdecken lassen. Die von Monteverdi zur Vollendung geführte Form der Monodie, eines instrumental begleiteten Sologesangs mit affektbetonter Deklamation, ist für den bedeutenden Musikwissenschaftler Hugo Riemann „Ausgangspunkt der gesamten modernen Musik“. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet dafür das mystisch-melismatische Duett O bone Jesu (CD 1/5), das die Einfühlung in die Leiden Christi mit der Bitte um Erlösung verbindet. Monteverdis Madrigalwerke haben einen völlig neuen expressiv-dramatischen Stil entwickelt, den er im Vergleich zu älteren Kompositionsweisen (prima prattica) als seconda prattica bezeichnet. Selbstbewußt spricht Monteverdi von der „Perfettione della Moderna Musica“.

In Venedig geboren, war Giovanni Gabrieli zunächst Schüler seines Onkels Andrea, bevor er sich 1575 für vier Jahre der Münchner Hofkapelle unter Orlando di Lasso anschließt. Seit 1584 Organist an San Marco wird Giovanni Gabrieli vor allem durch seine „Symphoniae sacrae“ berühmt, unter denen sich auch zahlreiche Magnificat-Vertonungen befinden. „In ungeheurer Hochspannung rauschen die visionären Chordialoge auf, die der Venezianer zwischen den Emporen und Galerien von S. Marco den Raum durchfluten läßt“ (Heinrich Besseler). Von ihm stammen auch etliche Instrumentalsätze, die zu den ältesten Stücken der Orchestermusik gezählt werden. Seine Sonata pian e forte  (CD 1/8) spielt eindrucksvoll mit den dynamischen Wirkungen wechselnder Lautstärke in der Musik.

Claudio Monteverdi, der bereits mit 15 Jahren seine erste Komposition veröffentlichte, kam nach seinen frühen Jahren in der Geigenbaumeisterstadt Cremona 1590 an den Hof der Gonzaga in Mantua, wo er zunächst vor allem durch seine meist fünfstimmig komponierten Madrigalzyklen berühmt wurde. Seine erste Oper „Orfeo“ wurde 1607 in Mantua aufgeführt, doch zog sich Monteverdi bereits im folgenden Jahr verbittert nach Cremona zurück, da ihm der Herzog die gebührende Anerkennung versagte. Dort entstand um 1610 seine bahnbrechende Vespro della Beata Vergine, in der er seine vielfältigen kompositorischen Ausdrucksmittel in vielen Variationen vereinigte. Wir haben aus seiner wohl berühmtesten sakralen Komposition die vor dem Magnificat eingefügte Sonata sopra Sancta Maria (CD 2/3) in unsere Musikauswahl aufgenommen. Es ist ein prunkvolles Instrumentalstück, in dem ein Chor elfmal litaneiartig die Fürbitte „Sancta Maria, ora pro nobis“ intoniert, die seit dem 10. Jahrhundert dem Ave Maria angefügt wird. Monteverdi wurde vermutlich unter dem Eindruck dieses Meisterwerks 1613 mit einhelliger Zustimmung zum Maestro di capella an San Marco ernannt. Diesem Amt ist er 30 Jahre, von aller Welt als bedeutendster Komponist seiner Zeit gepriesen, bis zu seinem Tod treu geblieben.

Es ist reizvoll, Seitenblicke auf die Musik zu richten, die in dieser Zeit neben den Werken der großen Meister entstanden ist. Jacobus Gallus (1550 – 1591), ein österreichischer Komponist slowenischer Herkunft, war Kapellschüler im Kloster Melk, später Mitglied der Wiener Hofkapelle und zuletzt Kantor in Prag. In seiner Motette zum 3. Adventsonntag Veni Domine (CD 2/6) ist der Einfluß der italienischen Vokalpolyphonie unverkennbar. Der Italiener Ludovico Casali (1575 – 1647) wurde vor allem durch seine achtstimmige Motette Gaudens gaudebo (CD 1/9) von 1611 bekannt, die dem am 8. Dezember gefeierten Hochfest gewidmet ist, nach dem Maria als einziger Mensch frei von der „Erbsünde“ (Adams und Evas) durch ihre Mutter Anna empfangen worden sei. Er verfaßte zudem ein Musiktraktat, in dem er die vier menschlichen Stimmlagen Tenor (Frühling), Sopran (Sommer), Alt (Herbst) und Baß (Winter) in origineller Form mit den vier Jahreszeiten verglich.

Die Echo-Fantasie (CD 1/6) von Hans Leo Hassler (1564 – 1612) gibt ein Beispiel für eine  Orgelkomposition am Ausgang des 16. Jahrhunderts. Hier dient die Orgel nicht mehr der musikalischen Begleitung, sondern demonstriert als autonomes Soloinstrument ihre originären Klangmöglichkeiten. Hassler war der erste bedeutende deutsche Musiker, der seine Ausbildung in Italien erhalten hatte, bevor er 1586 als Organist nach Augsburg berufen wurde. Vor allem durch Jan Pieterszoon Sweelinck (1562 – 1621) und 75 Jahre später durch Dietrich Buxtehude (1637 – 1707) rückte die Orgelmusik mit kunstvollen Kompositionen immer stärker in eine exponierte Stellung, die den Kirchenraum mit ihrem weitgefächerten Klangreichtum erfüllte, bevor sie im unauslotbaren Orgelwerk von Johann Sebastian Bach kulminiert.

Johann Hermann Schein (1586 – 1630) ist ein früher Repräsentant der protestantischen Kirchenmusik im Land der Reformation, seit 1616 wirkte er als Thomaskantor in Leipzig. Seine sechsstimmige Motette O Domine Jesu Christe (CD 1/7) aus dem Motetten-Zyklus „Cymbalum sionium“ erschien 1615 und enthielt Vertonungen lateinischer und deutscher Texte, die Schein häufig selbst verfaßt hatte. Schein war eng mit dem fast gleichaltrigen Heinrich Schütz (1585 – 1672) befreundet und schrieb wie dieser viele seiner Motetten noch auf lateinische Textvorlagen. Erst gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges begann Schütz, vorwiegend deutsche Texte zu vertonen, wobei das achtstimmige Deutsche Magnificat (1671) als Krönung seines Lebenswerkes gilt. Der italienische Einfluß auf diesen wohl bedeutendsten deutschen Komponisten vor Bach wird besonders aus dem Umstand deutlich, daß Schütz seine „Symphoniae sacrae“ 1629 in Venedig veröffentlichte.

Mit der Blütezeit des Barock, die um 1680 einsetzt, begibt sich der Musikliebhaber auf ein weitgehend vertrautes Feld. Werke von Arcangelo Corelli (1653 – 1713), der als Schöpfer des Concerto grosso gilt oder des Venezianers Tomaso Albinoni (1671 – 1751) sind ähnlich bekannt geworden wie die Kompositionen des in Venedig am  Ospedale della Pietà wirkenden,1703 zum Priester geweihten Antonio Vivaldi (1678 – 1741), der sich –   selbst ein bedeutender Violinist –  in allen musikalischen Genres einen hervorragenden Namen gemacht hat. Unter seinen kirchenmusikalischen Kompositionen wird besonders das Gloria in D-Dur (um 1713) noch häufig aufgeführt. Corelli und Albinoni sind vor allem durch ihre Instrumentalkonzerte hervorgetreten, in denen die langsamen Sätze häufig ein weihevolles weihnachtliches Empfinden ausdrücken (CD 2/5 und CD 2/9). Das gilt in ähnlicher Form auch für das Adagio aus einem Trompetenkonzert von Georg Philipp Telemann (1681- 1767) – seit 1721 Direktor der Kirchenmusik in Hamburg -, das durch das hell klingende Solo-instrument zudem festlichen Glanz verströmt (CD 2/11). Das Adagio aus einem Konzert für Trompete, Solovioline und Streicher (CD 2/1), das von einem Anonymus vermutlich im frühen 18. Jahrhundert komponiert wurde, erhält seinen besonderen Reiz durch die ungewöhnliche konzertante Verknüpfung zwischen den beiden Solostimmen. Von Ludwig Güttler in der Universitätsbibliothek Rostock entdeckt, verweist es auf italienische Einflüsse und erinnert in der vorliegenden Bearbeitung mit Auszierungen nach frühklassischer Art an die virtuose Tradition Vivaldis.

Der in Halle geborene Georg Friedrich Händel (1685 – 1759) wurde in seinem 75. Lebensjahr als englischer Staatsbürger in Westminster Abbey begraben – der berühmteste frühe Europäer in der Musikgeschichte.  Als Hofkapellmeister des englischen Königshauses unter Georg I., dem vormaligen Kurfürsten von Hannover, lebte Händel seit 1712 in London, wo er vor allem italienische Opern und prunkvolle Hofmusiken komponierte. In seinen frühen Jahren hat er vergleichsweise selten kirchenmusikalische Werke geschrieben, darunter zwei unter italienischem Einfluß entstandene Oratorien und eindrucksvolle Tedeums. Erst nach seinem endgültigen Scheitern als Opernunternehmer (1737) konzentriert sich Händel auf die Komposition geistlicher Musik, in der sein englisches Oratorium  Messiah, 1742 in Dublin uraufgeführt, einen herausragenden Platz einnimmt. Nach Art eines geistlichen Dramas ist es in drei Teile gegliedert: Ankündigung und Geburt Christi; Passion und Auferstehung; Verheißung der Wiederkunft des Herrn. Von der pastoralen Stimmung der Hirtenmusik (CD 2/7) über den melodischen Reichtum des Duetts He shall feed his flock (CD 2/8) bis zu den expressiven Klagen in den Passionsszenen reicht das Ausdrucksspektrum dieser Musik, sie kulminiert in den jubelnden Gesängen zum Lobpreis Gottes, die schon im ersten Chorensemble And the glory of the Lord (CD 2/12) machtvoll aufklingen.
Noch vor den beiden großen Passionsmusiken ist das Weihnachtsoratorium  das wohl populärste Werk von Johann Sebastian Bach (1685 – 1750). Nach einem langwierigen Auswahlverfahren übernahm Bach im Mai 1723 das Amt des Thomaskantors in Leipzig, wohin er vom Köthener Hof überwechselte. Zur wöchentlichen Aufführung von Kirchenmusik verpflichtet, hat Bach den Hauptteil seines Kantatenwerks in Leipzig geschaffen, wo er 1734 sein Weihnachtsoratorium erstmals aufführte. Es besteht aus sechs durch die Grundtonart D-Dur eher lose verbundene Kantaten, die den Zeitraum von den drei Weihnachtstagen über Neujahr bis zum Dreikönigsfest umfassen. Bach hat das Werk vermutlich im November und Dezember 1734 nach einem Libretto von Picander komponiert, wobei umfangreiche Teile die neuen Texte mit früheren Kompositionen nach dem sogenannten „Parodieverfahren“ verbunden haben. Das gilt beispielsweise auch für den bekannten Eingangschor Jauchzet, frohlocket, der die Musik einer im gleichen Jahr entstandenen weltlichen Kantate (Tönet, ihr Pauken) übernimmt. Dagegen ist der Beginn der fünften Kantate zum Sonntag nach Neujahr Ehre sei dir, Gott (CD 2/10) eine Originalkomposition – ein mitreißendes Chorwerk für vier Stimmen in der höchsten Grundtonart A-Dur, in dem Bachs Kunst kontrapunktischer Verschränkung wirkungsvoll zur Geltung kommt, obwohl die Instrumentation nur zwei Oboen und Streicher verwendet und auf den Glanz des Trompetenklangs verzichtet.

Die Superlative, die Bachs Musik von Beethoven bis Schönberg gelten, sind seit ihrer Wiederentdeckung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch den Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter, und die erste Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn-Bartholdy (1829) nicht mehr verstummt. Zelter hat Bachs Messe in h-moll (gelegentlich auch als Hohe Messe bezeichnet)  als „das größte Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat“ gefeiert. Daß die bedeutendste Vertonung der katholischen Messe von einem protestantischen Komponisten stammt, ist auf den ersten Blick überraschend, läßt sich aber zum Teil durch biographische Gründe erklären. Infolge seiner Wahl zum polnischen König (1697) war August der Starke zum Katholizismus konvertiert, so daß seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Dresdens spätbarocker Hofkirche die katholische Messe zelebriert wurde. Da Bach mit seiner Alimentierung durch den Leipziger Stadtrat höchst unzufrieden war, suchte er seine materielle Lage durch den Erwerb des Titels eines sächsischen „Hofkapellmeisters“ zu verbessern. Mit dieser Absicht hat er am 27. Juli 1733, wenige Monate nach dem Tod Augusts des Starken, am kurfürstlichen Hof in Dresden ein neu komponiertes Kyrie und Gloria überreicht, doch blieb ihm der angestrebte Titel bis 1736 vorenthalten. Bach hat die h-moll-Messe erst in seinen letzten Lebensjahren vollendet, wobei er das zum Weihnachtsfest 1724 entstandene Sanctus (CD1/13)  in den Messe-Corpus einbeziehen konnte. Seine oft dargestellte anspielungsreiche Kunst musikalischer Wortauslegung wird hier deutlich erkennbar: Bach verweist in seiner Komposition zahlensymbolisch auf den dreimal wiederholten Sanctus-Ruf (und ebenso auf die Dreifaltigkeit Gottes), indem er Chor und Orchester in jeweils fünf dreistimmige Gruppen gliedert: Trompeten, Oboen, Streicherstimmen, hohe und tiefe Chorstimmen. Das „Pleni sunt coeli“ gestaltet er als vom Tenor begonnene Fuge, die in majestätischem Jubel ausklingt.

Die beiden CD-Zusammenstellungen sind weitgehend nach der Entstehungszeit der musikalischen Werke angeordnet und folgen gleichzeitig (vor allem in der CD 2)  einer musikdramaturgischen Konzeption, indem sie die vielfältigen Facetten der Musik in einem Zeitraum, der mehr als ein Jahrtausend umspannt, mit der sakra-len Architektur in Beziehung setzen.

Musik krönt die gebauten Visionen des Himmels, die uns die Klöster und Kathedralen sinnfällig vor Augen führen. Indem sich die Worte der Verheißung in Töne verwandeln und zu Melodien verschmelzen, erfüllt sich die Einheit von Raum und Zeit. Wenige Monate vor ihrem frühen Tod schreibt Ingeborg Bachmann im Juni 1973 an Hans Werner Henze: „Für mich ist Musik größer als alles, was es gibt an Ausdruck. Dort haben die Menschen das erreicht, was wir durch Worte und Bilder nicht erreichen können.“ Und der große marxistische Philosoph Ernst Bloch, der das „Prinzip Hoffnung“ zum Ausgangspunkt für die „konkrete Utopie“ einer humanen Welt erklärt hat, erkennt im Gespräch mit dem christlichen Existenzphilosophen Gabriel Marcel in der Musik das Geheimnis der Transzendenz: „Da ereignet sich Ewigkeit.“

© Rüdiger Thomas

In: Karin Thomas/Rüdiger Thomas (Hrsg.): Himmlische Harmonien. Heilige Räume und geistliche Musik (mit 2 CD). Köln 2005, S. 110-121.

Wahrnehmungsmuster in Ost- und Westdeutschland gestern und heute

Wahrnehmungsmuster in Ost- und Westdeutschland gestern und heute

Text als Word-Dokument downloaden: 1997__Vortrag_Enquete-Kommision_1997.doc

 

Wahrnehmungsmuster in Ost- und Westdeutschland gestern und heute

Vortrag auf der 34. Sitzung der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ am Montag, dem 2. Juni 1997

Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren,

Bevor ich Ihnen einige Gedanken vortrage, die man in freier Variation der mir gestellten Aufgabe und im Anschluß an Uwe Johnson „Mutmaßungen über die Gegenwart geteilter Vergangenheiten“ überschreiben könnte, möchte ich eine kurze Vorbemerkung machen:

Wahrnehmungen unterscheiden sich nach Inhalt und Intensität. Wir alle nehmen selektiv wahr. Wenn wir von Wahrnehmungsmustern reden, müssen wir differenzieren: Sowohl im Längsschnitt, im Wandel von Zeitperioden, Wahrnehmungen ändern sich; als auch im Querschnitt, in der verschiedenen Wahrnehmung einer politisch sozialen Konstellation, Wahrnehmungen unterscheiden sich. Diesen Differenzen zwischen den Wahrnehmungsmustern im zeitlichen Wandel, gestern und heute, wollen wir in fünf Abschnitten nachgehen, skizzenhaft und in der Erwartung, daß sich im Verlauf dieser Anhörung manche Stichworte konkretisieren werden.

 

1. Die Illusion gemeinsamer Interessen: 1945 bis 1948

Beginnen wir mit der Periode, als Deutschland zwar aufgeteilt, aber noch nicht endgültig geteilt war. Das Ende des Krieges, die „Stunde Nichts“, wie sie Heinrich Böll genannt hat, leitete zunächst eine kurze Phase gesamtdeutscher Erwartungen ein. Die Intellektuellen in Ost und West machten sich auf die Suche nach Orientierung für eine gemeinsame Zukunft. Es entstanden zahllose zonenübergreifende Zeitschriften, eine lebendige literarisch-politische Publizistik, von der ich nur die „Frankfurter Hefte“ sowie „Ost und West“ erwähnen möchte. Sie orientierten sich am antifaschistischen Konsens und propagierten zumeist die Idee eines eigenen neuen Weges, die Synthese von Demokratie und Sozialismus. Schon bald zeigte sich, daß diese Leitbegriffe von den Protagonisten auf beiden Seiten unterschiedlich verstanden wurden: Zuerst auf politischer Ebene im entschiedenen Antikommunismus Kurt Schumachers, wenig später im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, dann im wachsenden Dissens der deutschen Schriftsteller, später in den PEN-Kontroversen, nachdem ein deutscher PEN 1948 gegründet werden konnte.

Schließlich war Mitte 1948 die staatliche Teilung Deutschlands präformiert. Nach Währungsreform, Berlin-Blockade und der endgültigen politisch-administrativen Spaltung Berlins war der Weg zur Teilung unaufhaltsam geworden. Der „Klassenkampf nach innen“ hatte in der SBZ begonnen, die stalinistische Herrschaftspraxis wurde nach dem Bruch der Sowjetunion mit Jugoslawien im Juni 1948 auch in der DDR verschärft. Wer von dieser Politik betroffen war, wanderte häufig schon in dieser Zeit in den Westen ab. Der Beginn des Kalten Krieges und die Flüchtlinge aus der SBZ bestimmten am Ende der vierziger Jahre das vorherrschende Wahrnehmungsmuster eines essentiellen Antikommunismus im Westen.

Die Illusion gemeinsamer Interessen hatte sich in kurzer Zeit aufgelöst. Im Osten Deutschlands zeichnete sich eine Spaltung der Gesellschaft ab: Ein Teil der jungen Generation ließ sich von der Aufbruchstimmung revolutionärer Romantik faszinieren; wer von der Politik der SED durch sozialen Aufstieg profitierte, ließ sich oft durch die Parole beeindrucken, das bessere Deutschland aufzubauen.

 

2. Staatliche Teilung und Spaltung der Gesellschaften: 1949 bis 1960

Die westdeutsche Wahrnehmung der deutschen Teilung wurde nach der doppelten Staatsgründung durch den doppelten Antagonismus Demokratie oder Totalitarismus, Freiheit oder Diktatur bestimmt. Dies galt übrigens auch für die Anfänge der westlichen DDR-Forschung. Die Studie von Ernst Richert „Macht ohne Mandat“ (1958 erschienen) signalisierte die Grundeinstellung weiter Teile der westdeutschen Bevölkerung gegenüber dem Ulbricht-Regime ebenso wie der Titel eines Buches von Max Gustav Lange „Totalitäre Erziehung“, 1954 veröffentlicht. Die Wahrnehmung der DDR in der westdeutschen Bevölkerung wurde vornehmlich durch zwei politische Grunderfahrungen bestimmt: den Aufstand vom 17. Juni 1953 und die anhaltende Fluchtwelle, die häufig als „Abstimmung mit den Füßen“ empfunden wurde. Bis zum Mauerbau haben etwa 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen, ein Siebtel der Bevölkerung, allein 1953 waren es fast 400.000, ein Höchststand, der sich in den folgenden Jahren bis 1960 dann halbierte, bevor er 1961 wieder deutlich anstieg.

Beide Vorgänge, der Volksaufstand und die Massenflucht, zeigten deutlich an, daß sich weite Teile der Gesellschaft in der DDR von der SED distanzierten. Aus dieser Wahrnehmung resultierte im Westen eine doppelte Reaktion. Einerseits wurde die politische Ohnmacht bewußt, die Verhältnisse in der DDR im Sinne einer Demokratisierung und einer Wiederannäherung wirksam beeinflussen zu können. Andererseits beschwor man eine Solidarität mit den „Brüdern und Schwestern“ im anderen Teil Deutschlands, von denen man nicht genau wußte, wie sich ihre Einstellungen und Wertorientierungen unter den Bedingungen der SED-Diktatur und der damit verbundenen ideologischen Propaganda verändert hatten. Das Bild der Westdeutschen von der Gesellschaft der DDR wurde zunehmend diffus, es wurde von der großen Politik geprägt, die sich in der Block-Konfrontation des Kalten Krieges manifestierte, und von den Übersiedlern beeinflußt, die sozusagen als frühe Zeitzeugen ihre Konflikterfahrungen mit dem Ulbricht-Regime in den westdeutschen Wahrnehmungshorizont einbrachten.

In den fünfziger Jahren setzte eine Entwicklung ein, die durch eine Asymmetrie der wechselseitigen Wahrnehmung beider deutscher Teilgesellschaften charakterisiert ist. Während sich für viele Westdeutsche die DDR zunehmend als unbekanntes Land darstellte, wurde der Westen Deutschlands für die Bevölkerung der DDR im wachsenden Maß zur „Beziehungsgesellschaft“, wie es Rainer Lepsius formuliert hat.

In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß sich auch die SED dieser West-Fixierung trotz aufwendiger ideologischerFeindpropaganda nicht entziehen konnte. Auf dem V. Parteitag im Juli 1958 verkündete Walter Ulbricht nicht nur die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ als neues gesellschaftliches Leitbild, er zollte vielmehr gleichzeitig dem westdeutschen „Wirtschaftswunder“ Tribut, indem er für die DDR das Ziel formulierte, „daß der Pro-Kopf-Verbrauch an allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern höher liegt als der Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland“. Das sollte nicht die einzige Illusion der SED-Führung bleiben.

Das Bild wäre unvollständig, wenn wir nicht erwähnen würden, daß es in den fünfziger Jahren auf beiden Seiten politische Gruppierungen gab, die sich einerseits gegen die Blockeinbindung wendeten – hier wäre die Gesamtdeutsche Volkspartei Gustav Heinemanns, die von 1952 bis 1957 bestand, zu nennen – und andererseits den forcierten „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR kritisierten, ich erinnere an die Harich-“Plattform“ 1956, weil sie beide Vorgänge als gravierende Hindernisse für eine Wiedervereinigung betrachteten. Sie verkannten dabei die internationalen Dimensionen des innerdeutschen Konflikts ebenso wie die Sekuritätsbedürfnisse einer großen Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung und die Machtsicherungsinteressen der SED-Führung.

 

3. Die blockierte Beziehungsgesellschaft: 1961 bis 1969

Durch den Mauerbau hatte sich die politische Konstellation in Deutschland grundlegend verändert. Die rigorose Abriegelung stoppte die Massenflucht und blockierte die Kontakte zwischen den Menschen in beiden Teilen Berlins, nachhaltig wurden auch die Begegnungsmöglichkeiten zwischen Ost und West eingeschränkt. Die beiden Leipziger Messetermine – jeweils im März und September – ermöglichten zumindest den Westdeutschen, einen nicht unbedingt  repräsentativen Ausschnitt der DDR selbst in Augenschein zu nehmen und mit Ostdeutschen ins Gespräch zu kommen.

Unter diesen Bedingungen erhielten die Medien für die ostdeutsche Bevölkerung eine zentrale Bedeutung als Informationsquelle über die Entwicklung in Westdeutschland. Dabei stand natürlich der Hörfunk im Vordergrund, doch konnte sich in den sechziger Jahren auch in der DDR das Fernsehen zunehmend etablieren. Während 1960 erst 17 von 100 Haushalten ein Fernsehgerät besaßen, waren es zehn Jahre später bereits mehr als zwei Drittel aller Haushalte. Der intensive Einfluß der westdeutschen AV-Medien auf die DDR-Bevölkerung erstreckte sich ebenso auf politische Informationen wie auf Unterhaltungssendungen, er hat vor allem die Jugendkultur in der DDR zunehmend geprägt.

Wie hatten die Menschen, die in der eingemauerten DDR lebten, auf diese neue Situation reagiert? Es waren vor allem Journalisten, die sich Mitte der sechziger Jahre mit dieser Frage in Reportage-Bänden beschäftigten. Drei „Zeit-Redakteure“, allen voran Gräfin Dönhoff, unternahmen 1964, so der Buchtitel, eine „Reise in ein fernes Land“. Ihr „Bericht über Kultur, Wissenschaft und Politik in der DDR“ suchte nach Anzeichen für Gemeinsamkeiten, Impulsen für eine Wiederbegegnung der Deutschen, neue Bewegung in einer Phase politischer Erstarrung. Fast gleichzeitig erschien das Buch eines aus Prag stammenden Schriftstellers, der als Journalist in New York heimisch geworden war. Die Reportagen von Joseph Wechsberg „Kreuz und quer durch die Zone“, so der Untertitel, beschreiben ein „Land mit zwei Gesichtern“.

Wenn man diese Texte heute noch einmal liest, gewinnt man den Eindruck, daß der fremde Blick genauer war als der eigene. Interessant sind vor allem zwei Beobachtungen Wechsbergs, die ich hier zitieren möchte, da sie etwas ausdrücken, was lange Zeit auch das Wahrnehmungsmuster vieler Westdeutscher geprägt haben dürfte. Ein Gesprächspartner äußert: „Wir alle tragen zwei Gesichter. Eins für den äußeren Gebrauch, wenn andere Menschen uns sehen, und ein zweites, wenn wir mit uns allein sind. … Schizophrenie ist die nationale Krankheit dieses Landes.“ Ein anderer Gesprächspartner bemerkt zur Frage nach der Wiedervereinigung: „Sie kennen doch das Gedicht von den beiden Königskindern. ‚Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.’“ Wechsberg kommentiert: „Die Wiedervereinigung ist der Herzenswunsch und die Herzensangst aller Menschen in Ostdeutschland.“

In den sechziger Jahren wurde die Literatur aus der DDR von vielen Westdeutschen als eine wichtige Möglichkeit entdeckt, Auskünfte über ein fremd gewordenes Land zu erhalten. Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ (1963) hat einen breiten Leserkreis in Ost und West gefunden. Erst jetzt entwickelt sich im Westen ein wachsendes Interesse an Literatur aus der DDR. Aus höchst unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenem weltanschaulichen Hintergrund werden Nachrichten aus dem anderen Deutschland empfangen, die nicht nur als Literatur gelesen werden, sondern auch als verschlüsselte politische Botschaften aus einer geschlossenen Gesellschaft. Zugespitzt könnte man sagen: Was für die Menschen in der DDR die westdeutschen Medien darstellten, war für die Westdeutschen die Literatur aus der DDR. Dadurch wurde die Wahrnehmung der DDR-Gesellschaft deutlicher von der Wahrnehmung des SED-Staates im westlichen Deutschland unterschieden.

Während die Menschen in der DDR auf wachsende Neugier stießen, reagierte die westdeutsche Öffentlichkeit auf den anderen deutschen Staat weiterhin mit Argwohn und Ablehnung. Die DDR war, wie es Ernst Richert 1964 formulierte, „ein Staat, der nicht sein darf“, doch zeigte sich immer deutlicher, daß man ihn nicht mehr ignorieren konnte. Die große Koalition unternahm im Mai 1967 erste  deutschlandpolitische Sondierungen mit dem Stoph-Kiesinger-Briefwechsel. Eine Veränderung der Politik bahnte sich an, und ihr ging eine allmähliche Veränderung politischer Wahrnehmungsmuster voraus, wie einige Buchtitel signalisieren: Eberhard Schulz befindet 1967: „An Ulbricht führt kein Weg mehr vorbei“.

Und Hanns-Werner Schwarze konstatiert 1969: „Die DDR ist keine Zone mehr“.  Beides sind Buchtitel. Am 9. Januar 1970 schreibt Horst Krüger in der „Zeit“, die DDR sei da, „als wenn sie nicht da wäre. Sie wird theoretisch und abstrakt akzeptiert, aber praktisch ausgeklammert aus dem deutschen Bewußtsein.“ Das sollte sich rasch ändern.

 

4. Nation ist, wenn man sich trifft: 1970 bis 1989

Nachdem die Regierung der sozialliberalen Koalition im Dezember 1969 die staatliche Existenz der DDR anerkannt hatte, war der Weg zur deutsch-deutschen Kommunikation auf dem Verhandlungsweg gebahnt. Der Empfang für Willy Brandt am 19. März 1970 in Erfurt löste Emotionen und Fragen aus: Was bewegte die Menschen, die dem Bundeskanzler enthusiastisch ihre Sympathie bezeugten? War es nur die Erleichterung, daß ein Zustand lähmender Erstarrung überwunden war, oder zeigte sich hier eine Sehnsucht nach Wiedervereinigung, die ratlose Betroffenheit hervorrufen mußte, weil ein solches Ziel eineinhalb Jahre nach der sowjetischen Invention in Prag unerfüllbar schien? Auf die Frage, ob die Deutschen trotz der anhaltenden staatlichen Teilung eine Nation geblieben waren, fand Willy Brandt eine lapidare Antwort: „Nation ist, wenn man sich trifft“, und zumindest dieses Ziel konnte die Politik mit dem Grundlagenvertrag erreichen.

Seit 4. Juni 1972 konnten die West-Berliner nach langer Trennung mit wenigen kurzfristigen Ausnahmen wieder regelmäßig in den Ostteil der Stadt einreisen, vom Juni bis Dezember 1972 waren es 2,1 Millionen Besucher, 1973 fast 4 Millionen. Der westdeutsche Reiseverkehr in die DDR und nach Ostberlin hat sich zwischen 1969 von 1,1 Millionen auf 1975 3,1 Millionen fast verdreifacht. Insgesamt haben in den siebziger Jahren durchschnittlich 6 Millionen Bundesbürger die DDR besucht. Und beinahe ebenso wichtig wie diese persönlichen Begegnungen war die Akkreditierung westdeutscher Journalisten in der DDR, die Anfang März 1973 erfolgte.

Man muß an diese neuen politischen Rahmenbedingungen erinnern, wenn man die Veränderung von Wahrnehmungs-mustern in den siebziger Jahren verstehen will. Im Westen wurde eine intensive Neugierde auf den deutschen Nachbarn geweckt, ein Hunger nach Informationen wurde erkennbar, der in erster Linie von den Medien und durch zahlreiche Publikationen befriedigt wurde, aber auch durch die „Materialien zum Bericht zur Lage der Nation“, die von der Bundesregierung von 1971 bis 1974 in drei Ausgaben vorgelegt wurden und unter der wissenschaftlichen Leitung von Peter Christian Ludz entstanden waren. In gewisser Hinsicht kann man sagen, daß die Materialien an die Stelle der fünf „Tätigkeitsberichte“ des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen getreten waren, der am 24. März 1952 gegründet worden war, seit Ende der sechziger Jahre funktionslos blieb und 1975 von der Bundesregierung formell aufgelöst wurde. An dem damit verbundenen Paradigmenwechsel war entscheidend, daß in den Materialien die Perspektive des Systemvergleichs die Frage nach den politischen und ökonomischen Bedingungen der Wiedervereinigung abgelöst hatte.

Es scheint notwendig, die Gründe für diesen Wandel in der Wahrnehmung näher zu betrachten. Seit Ende der sechziger Jahre begann sich im Westen eine Art gesamtdeutscher Voluntarismus auszuprägen, der nicht mehr auf die staatliche Wiedervereinigung zielte – die seinerzeit den allermeisten Deutschen als irreales Szenario erschienen ist –, sondern auf eine möglichst weitreichende Annäherung. Dieser Voluntarismus hatte zwei Wurzeln: Er war motiviert durch die Reformeuphorie der frühen siebziger Jahre, die ja nach der Ablösung Ulbrichts auch in der DDR zunächst eine gewisse Parallele gefunden zu haben schien, mindestens ebenso aber durch ein Sachzwangdenken, das aus der Konvergenztheorie abgeleitet war. Der niederländische Nationalökonom Jan Tinbergen hatte 1963 die These entwickelt, daß die industriegesellschaftlichen Modernisierungszwänge eine ökonomische Rationalität erforderten, die schließlich auch eine Annäherung der politischen Systeme implizieren würde. Dieser Ansatz wurde damals übrigens auch von den renommierten amerikanischen Politikwissenschaftlern Brzezinski und Huntington übernommen. Bei vielen westlichen DDR-Forschern und Publizisten war es – entgegen heute oft verbreiteten Behauptungen – nicht das Konzept eines marxistischen Reformsozialismus, wie es in der DDR beispielhaft von Robert Havemann und später Rudolf Bahro verkörpert wurde, sondern vor allem diese Perspektive eines technokratischen Sozialismus, die dazu führte, daß die DDR nicht politisch-strukturell als totalitäres System, sondern in einer sozioökonomischen Entwicklungsperspektive als sozialistische Industriegesellschaft perzipiert wurde. Die viel beachtete Studie von Ludz „Parteielite im Wandel“ von 1968 orientiert sich ganz vorrangig am Aspekt einer solchen technokratischen Rationalität, der in der DDR durch das Deutungsmuster der wissenschaftlich-technischen Revolution eine gewisse Resonanz zu finden schien.

Wenn ich es richtig sehe, spielte der reformsozialistische Ansatz als Entwicklungsperspektive im Osten eine wesentlich größere Rolle als im Westen und blieb hier vor allem deutlich länger virulent, weil die Reformeuphorie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Rücktritt Brandts zunehmend pragmatischer Ernüchterung weichen sollte. Demgegenüber läßt sich nicht übersehen, daß der Schwerpunkt gesellschaftskritischen Denkens in der DDR um einen „verbesserlichen Sozialismus“ (Heino Falcke) zentriert war, wie sich besonders deutlich im Umfeld der evangelischen Kirche zeigt.

Ein anderes Wahrnehmungsmuster erhält in den siebziger Jahren neue Bedeutung: die Einheit der Nation. Im westlichen Deutschland hatte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die Bindekraft dieser Orientierungskategorie zumindest im intellektuellen Milieu erkennbar abgenommen. Ich will es an einem Beispiel illustrieren. Fritz Raddatz leitete 1972 seine Studie über „Traditionen und Tendenzen“ der DDR-Literatur mit dem lapidaren Satz ein: „Es gibt zwei deutsche Literaturen.“ Und es gab viele, darunter Günter Grass und Hans Mayer, die damals diesem Urteil zustimmten. Ende der siebziger Jahre hatte sich die Wahrnehmung grundlegend geändert. Raddatz stellte 1978 fest, „daß es heute eine unglaubliche Parallelität und Gleichheit dieser beiden deutschen Literaturen gibt“, etwa zur gleichen Zeit betrachtete sie Günter Grass als „Dach der Nation“, als letzten Rest für „etwas Gesamtdeutsches“, während Hans Mayer „eine Konvergenzbewegung der deutschen Literatur heute“ konstatierte. Die These von einer einheitlichen deutschen Kulturnation, die zunächst eher als Geltungsanspruch der bundesdeutschen Politik in Erscheinung getreten war, hat am Ende der siebziger Jahre auch weite Teile des deutschen Kulturmilieus erfaßt.

Die „Einheit der Nation“ ist nach meinem Eindruck in der DDR viel weniger angefochten gewesen, sie galt als selbstverständliche Voraussetzung für eine politisch-gesellschaftliche Situation, in der die Bundesrepublik in allen Entwicklungsetappen der DDR-Geschichte Beziehungsgesellschaft geblieben ist.

Die Aufbruchstimmung, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre entstanden war, fand mit der Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns am 16. November 1976 und ihren Folgewirkungen ein jähes Ende. Nun hatte es sich endgültig gezeigt, daß das von der SED beschworene Bündnis von Geist und Macht eine Illusion war. Günter Kunert empfand die DDR 1977 als ein Land, in dem es „auf keine Art irgendeine Hoffnung“ mehr gab – ein Diktum, das die Emphase von Bechers Tagebuch von 1950 „Auf andere Art so große Hoffnung“ in tiefer Skepsis umkehrte. Zahlreiche bedeutende Schriftsteller und andere prominente Künstler sahen sich, so hat es Hans Joachim Schädlich formuliert, „gezwungen, die DDR freiwillig zu verlassen“.

Die Desillusionierung, die mit diesen Vorgängen und anderen rigorosen Maßnahmen der DDR-Führung beispielsweise gegen Robert Havemann (1976) und Rudolf Bahro (1977) verbunden war, leitete die „Finalitätskrise“ (Sigrid Meuschel) der SED-Diktatur ein; und sie betraf nicht nur Intellektuelle. Seit Mitte der siebziger Jahre zeigen Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, daß die SED in der jungen Generation zunehmend an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Eine (unveröffentlichte) Studie zum Geschichtsbewußtsein der ostdeutschen Jugend aus dem Jahr 1988 signalisierte schließlich, daß ihr Interesse für die Bundesrepublik doppelt so stark ausgeprägt war wie für die DDR.

Die Erosion der Parteiherrschaft war in der DDR bereits am Beginn der achtziger Jahre  stärker vorangeschritten, als dies im öffentlichen Bewußtsein in der Bundesrepublik allgemein wahrgenommen wurde. Man spürte zwar, daß das Klima im deutsch-deutschen Verhältnis kälter geworden war, aber die von der SED propagierten Erfolge sozialistischer Wohlfahrtspolitik erweckten den Anschein relativer Stabilität in einer mit allen Machtmitteln disziplinierten Gesellschaft.

Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß die sozialwissenschaftliche DDR-Forschung seit Anfang der achtziger Jahre diese zunehmende Distanzierung der Gesellschaft vom politischen System der DDR durchaus konstatiert hat. Betrachtet man das DDR-Bild der bundesdeutschen DDR-Forschung, ist zunächst zu betonen, daß sie ein breites Spektrum von Einschätzungen, Methoden und Erklärungsansätzen zeigte, so daß Hermann Rudolph 1976 etwas mokant  bemerken konnte, „daß die Linke nicht weiß, was die Rechte tut“. Auch wenn man ihre Qualität nicht pauschal abwerten darf, muß man, und das ist schwerwiegend genug, eine politisch motivierte Verkürzung des Wahr-nehmungshorizonts konstatieren, der wichtige Komponenten der DDR-Realität ausblendete oder vernachlässigte. Das gilt für die Darstellung der Repressionsapparate, mit Ausnahme von Karl Wilhelm Fricke, aber auch für die oppositionellen Bewegungen, die in der DDR seit Anfang der achtziger Jahre verstärkt in Erscheinung getreten sind. Es waren vor allem junge Außenseiter wie Peter Wensierski und Hubertus Knabe, die den Entwicklungsprozess der DDR-Opposition kontinuierlich dokumentiert und kommentiert haben.

Nachdem sich die Perestrojka-Politik Gorbatschows in der Sowjetunion deutlicher konturiert hatte, verstärkte sich das Interesse an einem neuen gesamtdeutschen Dialog jenseits offizieller Kontakte. Dafür ist die Zeitschrift „Niemandsland“,  initiiert von Wolfgang Dreßen und Eckhart Gillen, in Berlin erschienen, ein signifikantes Beispiel, die erstmals Anfang 1987 ausgeliefert wurde und Autoren aus Ost und West ein gemeinsames Forum bot. Dort findet sich beispielsweise vor genau zehn Jahren ein Interview, das Christoph Tannert mit Rainer Eppelmann geführt hat. Es vermittelt ein eindringliches Bild von Situation und Selbstverständnis der DDR-Opposition. Solche Bemühungen um eine genaue Wahrnehmung aktueller Veränderungen im Selbstverständnis der ostdeutschen Gesellschaft waren allerdings Ausnahmen. So traf das Ende der SED-Diktatur die Menschen im Westen unerwartet und unvorbereitet.

 

5. Wächst jetzt zusammen, was zusammengehört?

Die Menschen in der DDR haben in gewaltloser Aktion die SED-Diktatur überwunden und in freier Selbstbestimmung die deutsche Einheit herbeigeführt. Die Euphorie der Wiederbegegnung, die sich am 9. November 1989 auf den Straßen Berlins gezeigt hatte, und der Respekt vor den Menschen, die eine friedliche Revolution in Gang gesetzt hatten, blieb eine kurze Episode, der schon bald die Ernüchterung folgte. Diese Entwicklung hatte viele Ursachen. Die neue Freiheit im Osten war mit den Verlust altgewohnter Sicherheiten verbunden. Die Anforderungen an die neuen Bundesbürger, sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess zu behaupten, der nahezu alle Lebensbereiche umfaßte, waren erheblich. Die Last der Vergangenheit, an der die Menschen, die in der DDR gelebt hatten, in höchst verschiedener Weise Anteil hatten – in Form von Mitwirkung, Anpassung, Resistenz, Verweigerung, Opposition oder Widerstand –, teilte auch die Nachwendegesellschaft in Ostdeutschland. Es zeigte sich rasch, daß es vielen Westdeutschen schwerfiel, die Belastungen zu erkennen, die von den ehemaligen DDR-Bürgern bewältigt werden mußten. Sie sahen häufig über die Menschen hinweg nur noch die Struktur-, Organisations- und Finanzierungsprobleme des Transformationsprozesses, so daß sich schließlich wechselseitiges Unverständnis über die Unfähigkeit der anderen Deutschen ausprägte, die Gestaltung der deutschen Einheit gemeinsam zu realisieren. Symptomatisch für diese Irritation ist die befremdlich-provozierende Formel von der „Mauer in den Köpfen“ und die oft geäußerte pauschale Behauptung, in den neuen Ländern breite sich „Ostalgie“ aus.

Im Rückblick auf fast sieben Jahre gemeinsame Geschichte müssen wir bedenken, ob die wechselseitigen Fehlwahrnehmungen, die wir heute im vereinten Deutschland registrieren, in erster Linie aus aktuellen Interessenkonflikten resultieren oder aus mangelhafter Verarbeitung historischer Erfahrungen, die wir im geteilten Deutschland gemacht haben. In der Einsetzungsdebatte des Deutschen Bundestages zur ersten Enquete-Kommission am 12. März 1992 haben Markus Meckel und Gerd Poppe eine Einsicht formuliert, an die wir uns erinnern sollten. Die Gesellschaftsgeschichte der DDR läßt sich nur verstehen, so Markus Meckel, wenn wir unterscheiden lernen „zwischen dem, was man heute weiß, und dem Horizont, aus dem man damals handelte“, wenn sie, wie Gerd Poppe hinzufügte, „aus der Sicht der Betroffenen nachvollziehbar wird“.

Ich melde grundsätzliche Zweifel an, ob es vor diesem Hintergrund angemessen ist, die „ethisch-politische Grundfrage nach den prägenden Dispositionen und Überlieferungen einer Lebensform fehlgeschlagener Normalität“, wie es Jürgen Habermas postuliert hat, in das Zentrum einer um historisches Verstehen bemühten Wahrnehmung der ostdeutschen Gesellschaft zu rücken.

Ich komme zum Schluß. Die Gestaltung der deutschen Einheit ist nicht nur ein politisches und organisatorisches Problem, sie ist ein Mentalitätsproblem. Ein Problem wechselseitiger Wahrnehmungen und Fehlwahrnehmungen. Karl Kraus, der sarkastische Wiener Spötter, sollte nicht recht bekommen. Seine lakonische Bemerkung: „Nach Ägypten wär’s nicht so weit. Aber bis man zum Südbahnhof kommt…“, ließe sich abwandeln: „Nach Amerika wär’s nicht so weit, aber bis man nach Berlin-Mitte kommt.“ Zumindest die Enquete-Kommission hat heute dieses Ziel erreicht. Ich danke Ihnen.

 

© Rüdiger Thomas

 

*****

 

(In: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), acht Bände in 14 Teilbänden, hrsg. vom Deutschen Bundestag. Baden-Baden: Nomos 1999, Bd. VIII, S.14-24)